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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Grillparzer und seine ^ngenddramen

war, ernstlich geistig zu erkranken. So weit ging seine Versenkung in sich
selbst, daß er zuweilen die Pulsschläge seines Gehirns, den Denkprvzeß zu
fühlen vermeinte, wie folgende merkwürdige Aufzeichnung beweist: "Wenn mein
Nervensystem gereizt ist, so zeigen sich oft die sonderbarsten Erscheinungen.
So z. B. höre ich auch mit den Schläfen, wie sonst mit den Ohren. Es fängt
nämlich die Empfindung des Hörens bei meiner Schläfe an und pflanzt sich
durchs ganze Haupt bis zur entgegengesetzten fort. Etwas Ähnliches habe ich
schon in der Mitte der Stirne, über den beiden Augenbrauen wahrgenommen.
In solchen Augenblicken glaube ich ost das Denken wie eine mechanische
Operation wahrzunehmen. Jeder Gedanke giebt gleichsam einen elektrischen
Schlag, und die Ideen kommuniziren nnter einander in wellenförmigen Be¬
wegungen" (Sämtliche Werke X, 438).

Diese Natur Grillparzers muß man verstanden haben, wenn man sie ge¬
recht beurteilen will. Volkelt sagt daher mit Recht: "Grillparzer ist eiuer der
merkwürdigsten und bedeutsamsten Vertreter der Tragik des Küustlertums.
Nur durch die seine Reizbarkeit feiner Phantasie und die hochentwickelte Jnnen-
lebendigkeit seines Wesens wurde es ihm möglich, in der Dichtung das zu
leisten, was er geleistet hat, und das zu sein, was seine bedeutungsvolle Eigenart
in der Geschichte des deutschen Dramas ausmacht. Eben jene geistigen Be¬
dingungen waren es auch, die ihn zu Leben, Schicksal, Umgebung, ja sogar
zu seinem eignen dichterischen Schaffen in schwächlichen Zwiespalt setzten. So
mußte er sein hohes dichterisches Können und Leisten schwer bezahlen: all die
Schwächen und Schmerzen, an denen er sein Leben lang gelitten, sind die
Buße für die außergewöhnliche und überragende, darum aber auch einseitige
Ausgestaltung des Menschlichen, die er in seinem Künstlertum zur Darstellung
gebracht hat. Seine künstlerische Größe hat vermöge der in ihr liegenden
menschlichen Einseitigkeit Zwiespalt und Unglück zu ihrer Kehrseite. So bringt
Grillparzers Wesen jene furchtbare, aber wesentliche Seite an der tiefern Be¬
deutung des menschlichen Daseins zum Ausdruck, die man als die Tragik des
Menschenschicksals bezeichnen darf" (Volkelt, Grillparzer, S. 122).

Diese Tragik des Menschendaseins, in der die Schuld des Helden einzig
darin besteht, daß er bewußt oder unbewußt eine Lage geschaffen hat, der er
praktisch, politisch nicht gewachsen ist, sei es weil er mit seiner ganzen Inner¬
lichkeit, seinem Charakter in die Umgebung nicht paßt, auf die einzuwirken er
doch genötigt ist, oder weil er überhaupt zur That nicht fähig ist, diese Tragik
hat Grillparzer vielfach in seinen Trauerspielen dargestellt. Schon die Sappho
ist tragisch, weil sie mit ihrer poetischen Natur in Zwiespalt mit der Wirk¬
lichkeit geraten ist. Sie freut sich künstlerisch über naive Menschen und will
mit ihnen naiv genießen, was doch nicht möglich ist, da sie längst naiv zu
sein aufgehört hat. Phaon und Melitta können sie wohl als höhere verehren,
aber nicht als gleiche lieben. In ihrer Leidenschaft ist sie blind dafür, und


Grillparzer und seine ^ngenddramen

war, ernstlich geistig zu erkranken. So weit ging seine Versenkung in sich
selbst, daß er zuweilen die Pulsschläge seines Gehirns, den Denkprvzeß zu
fühlen vermeinte, wie folgende merkwürdige Aufzeichnung beweist: „Wenn mein
Nervensystem gereizt ist, so zeigen sich oft die sonderbarsten Erscheinungen.
So z. B. höre ich auch mit den Schläfen, wie sonst mit den Ohren. Es fängt
nämlich die Empfindung des Hörens bei meiner Schläfe an und pflanzt sich
durchs ganze Haupt bis zur entgegengesetzten fort. Etwas Ähnliches habe ich
schon in der Mitte der Stirne, über den beiden Augenbrauen wahrgenommen.
In solchen Augenblicken glaube ich ost das Denken wie eine mechanische
Operation wahrzunehmen. Jeder Gedanke giebt gleichsam einen elektrischen
Schlag, und die Ideen kommuniziren nnter einander in wellenförmigen Be¬
wegungen" (Sämtliche Werke X, 438).

Diese Natur Grillparzers muß man verstanden haben, wenn man sie ge¬
recht beurteilen will. Volkelt sagt daher mit Recht: „Grillparzer ist eiuer der
merkwürdigsten und bedeutsamsten Vertreter der Tragik des Küustlertums.
Nur durch die seine Reizbarkeit feiner Phantasie und die hochentwickelte Jnnen-
lebendigkeit seines Wesens wurde es ihm möglich, in der Dichtung das zu
leisten, was er geleistet hat, und das zu sein, was seine bedeutungsvolle Eigenart
in der Geschichte des deutschen Dramas ausmacht. Eben jene geistigen Be¬
dingungen waren es auch, die ihn zu Leben, Schicksal, Umgebung, ja sogar
zu seinem eignen dichterischen Schaffen in schwächlichen Zwiespalt setzten. So
mußte er sein hohes dichterisches Können und Leisten schwer bezahlen: all die
Schwächen und Schmerzen, an denen er sein Leben lang gelitten, sind die
Buße für die außergewöhnliche und überragende, darum aber auch einseitige
Ausgestaltung des Menschlichen, die er in seinem Künstlertum zur Darstellung
gebracht hat. Seine künstlerische Größe hat vermöge der in ihr liegenden
menschlichen Einseitigkeit Zwiespalt und Unglück zu ihrer Kehrseite. So bringt
Grillparzers Wesen jene furchtbare, aber wesentliche Seite an der tiefern Be¬
deutung des menschlichen Daseins zum Ausdruck, die man als die Tragik des
Menschenschicksals bezeichnen darf" (Volkelt, Grillparzer, S. 122).

Diese Tragik des Menschendaseins, in der die Schuld des Helden einzig
darin besteht, daß er bewußt oder unbewußt eine Lage geschaffen hat, der er
praktisch, politisch nicht gewachsen ist, sei es weil er mit seiner ganzen Inner¬
lichkeit, seinem Charakter in die Umgebung nicht paßt, auf die einzuwirken er
doch genötigt ist, oder weil er überhaupt zur That nicht fähig ist, diese Tragik
hat Grillparzer vielfach in seinen Trauerspielen dargestellt. Schon die Sappho
ist tragisch, weil sie mit ihrer poetischen Natur in Zwiespalt mit der Wirk¬
lichkeit geraten ist. Sie freut sich künstlerisch über naive Menschen und will
mit ihnen naiv genießen, was doch nicht möglich ist, da sie längst naiv zu
sein aufgehört hat. Phaon und Melitta können sie wohl als höhere verehren,
aber nicht als gleiche lieben. In ihrer Leidenschaft ist sie blind dafür, und


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[0570] Grillparzer und seine ^ngenddramen war, ernstlich geistig zu erkranken. So weit ging seine Versenkung in sich selbst, daß er zuweilen die Pulsschläge seines Gehirns, den Denkprvzeß zu fühlen vermeinte, wie folgende merkwürdige Aufzeichnung beweist: „Wenn mein Nervensystem gereizt ist, so zeigen sich oft die sonderbarsten Erscheinungen. So z. B. höre ich auch mit den Schläfen, wie sonst mit den Ohren. Es fängt nämlich die Empfindung des Hörens bei meiner Schläfe an und pflanzt sich durchs ganze Haupt bis zur entgegengesetzten fort. Etwas Ähnliches habe ich schon in der Mitte der Stirne, über den beiden Augenbrauen wahrgenommen. In solchen Augenblicken glaube ich ost das Denken wie eine mechanische Operation wahrzunehmen. Jeder Gedanke giebt gleichsam einen elektrischen Schlag, und die Ideen kommuniziren nnter einander in wellenförmigen Be¬ wegungen" (Sämtliche Werke X, 438). Diese Natur Grillparzers muß man verstanden haben, wenn man sie ge¬ recht beurteilen will. Volkelt sagt daher mit Recht: „Grillparzer ist eiuer der merkwürdigsten und bedeutsamsten Vertreter der Tragik des Küustlertums. Nur durch die seine Reizbarkeit feiner Phantasie und die hochentwickelte Jnnen- lebendigkeit seines Wesens wurde es ihm möglich, in der Dichtung das zu leisten, was er geleistet hat, und das zu sein, was seine bedeutungsvolle Eigenart in der Geschichte des deutschen Dramas ausmacht. Eben jene geistigen Be¬ dingungen waren es auch, die ihn zu Leben, Schicksal, Umgebung, ja sogar zu seinem eignen dichterischen Schaffen in schwächlichen Zwiespalt setzten. So mußte er sein hohes dichterisches Können und Leisten schwer bezahlen: all die Schwächen und Schmerzen, an denen er sein Leben lang gelitten, sind die Buße für die außergewöhnliche und überragende, darum aber auch einseitige Ausgestaltung des Menschlichen, die er in seinem Künstlertum zur Darstellung gebracht hat. Seine künstlerische Größe hat vermöge der in ihr liegenden menschlichen Einseitigkeit Zwiespalt und Unglück zu ihrer Kehrseite. So bringt Grillparzers Wesen jene furchtbare, aber wesentliche Seite an der tiefern Be¬ deutung des menschlichen Daseins zum Ausdruck, die man als die Tragik des Menschenschicksals bezeichnen darf" (Volkelt, Grillparzer, S. 122). Diese Tragik des Menschendaseins, in der die Schuld des Helden einzig darin besteht, daß er bewußt oder unbewußt eine Lage geschaffen hat, der er praktisch, politisch nicht gewachsen ist, sei es weil er mit seiner ganzen Inner¬ lichkeit, seinem Charakter in die Umgebung nicht paßt, auf die einzuwirken er doch genötigt ist, oder weil er überhaupt zur That nicht fähig ist, diese Tragik hat Grillparzer vielfach in seinen Trauerspielen dargestellt. Schon die Sappho ist tragisch, weil sie mit ihrer poetischen Natur in Zwiespalt mit der Wirk¬ lichkeit geraten ist. Sie freut sich künstlerisch über naive Menschen und will mit ihnen naiv genießen, was doch nicht möglich ist, da sie längst naiv zu sein aufgehört hat. Phaon und Melitta können sie wohl als höhere verehren, aber nicht als gleiche lieben. In ihrer Leidenschaft ist sie blind dafür, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/570>, abgerufen am 29.06.2024.