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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Englische Technik und deutsche Konkurrenz

Und wie außerordentlich fördernd hat die politische Entwicklung Englands
auf seine Industrie gewirkt! Ein einiges, starkes Königreich, das achthundert
Jahre lang kaum einen Feind in seinen Grenzen gesehen hat, geschweige denn
einem zur Beute gefallen ist. das volle zwei Jahrhunderte lang von Kriegen
gänzlich unberührt geblieben ist, das, während benachbarte Nationen sich gegen¬
seitig zu Grunde richteten, ruhig zusehen und gerade aus dem blutigen Kampfe
und der daraus folgenden Schwäche andrer Vorteil über Vorteil ziehen,
feine Macht und seinen Wohlstand befestigen konnte, ein solches Reich sollte
nicht unendlich viel vor Deutschland voraus haben? Ist es nicht natürlich,
daß in demselben Maße, wie Deutschlands gewerbliches Leben unter den
Schrecknissen des Krieges, uuter der Zerrissenheit und innern Fehde des Reiches,
unter dem Drucke einer oft Verständnis- und gewissenlosen Regierung litt,
Englands industrielle Kräfte stetig zunahmen und so der Gegenwart eine überaus
kostbare Erbschaft technischen Geschickes und kaufmännischer Tüchtigkeit über¬
lieferten?

Mit dieser politischen Entwicklung Englands und ihrem Einfluß steht der
englische Kolonialbesitz in Zusammenhang. War England an den größten
Entdeckungen Amerikas, des Seewegs nach Ostindien, Australiens gar nicht
oder nur wenig beteiligt, so hat es doch mit jener obenerwähnten Geschicklich-
keit, aus der Schwäche andrer Staaten Nutzen zu ziehen, es verstanden, sich
nach und nach einen riesenhaften, die Ausdehnung des Mutterlandes um das
Sechzigfache übersteigeren Kolonialbesitz zu verschaffen. Spanien. Portugal,
Frankreich, die Niederlande haben zu verschiednen Zeiten und unter den
mannigfaltigsten politischen Notlagen Gelegenheit gehabt, sich von dieser eng¬
lischen Eigentümlichkeit zu überzeugen. Das so begründete Kvlouialreich wurde
u> zweifacher Weise die Grundlage des jetzigen Reichtums und der Machtstellung
Englands. Erstens lieferten diese Kolonien dein Mutterlande die für seine
Industrie erforderlichen Rohprodukte, und zweitens dienten sie ihr zum Absatz¬
gebiete. Die überschüssigen Kräfte gingen dem Lande nicht verloren, die Aus¬
wanderung auf der einen war nnr eine Einwanderung auf der andern Seite
des britischen Reiches. Eine Überproduktion war sür die englische Industrie
kaum möglich und ist es auch heute kaum, trotzdem daß die Kolonien in vielen
Gewerbszweigen vom Mutterlande unabhängig geworden sind, denn für jedes
Kolvnialgebiet, das so weit gekommen ist, sind andre vorhanden, die dem Handel
noch nicht erschlossen sind, um die er sich mit gehender und nehmender Hand
wenden kann, ganz abgesehen davon, daß mit der fortschreitenden Industrie sich
auch immer neue Vedürfnisfe einstellen. Daß diese Gebiete nicht nur riesen¬
groß, sondern meist auch außerordentlich reich von der Natur ausgestattet sind,
ist ein weiterer Vorteil, den England genießt. Es giebt kaum einen in der
Industrie zur Verwendung kommenden Rohstoff, der nicht in der einen oder
andern englischen Kolonie oder in vielen zugleich im Überflüsse vorhanden


Ärenzdoten I 188ö
Englische Technik und deutsche Konkurrenz

Und wie außerordentlich fördernd hat die politische Entwicklung Englands
auf seine Industrie gewirkt! Ein einiges, starkes Königreich, das achthundert
Jahre lang kaum einen Feind in seinen Grenzen gesehen hat, geschweige denn
einem zur Beute gefallen ist. das volle zwei Jahrhunderte lang von Kriegen
gänzlich unberührt geblieben ist, das, während benachbarte Nationen sich gegen¬
seitig zu Grunde richteten, ruhig zusehen und gerade aus dem blutigen Kampfe
und der daraus folgenden Schwäche andrer Vorteil über Vorteil ziehen,
feine Macht und seinen Wohlstand befestigen konnte, ein solches Reich sollte
nicht unendlich viel vor Deutschland voraus haben? Ist es nicht natürlich,
daß in demselben Maße, wie Deutschlands gewerbliches Leben unter den
Schrecknissen des Krieges, uuter der Zerrissenheit und innern Fehde des Reiches,
unter dem Drucke einer oft Verständnis- und gewissenlosen Regierung litt,
Englands industrielle Kräfte stetig zunahmen und so der Gegenwart eine überaus
kostbare Erbschaft technischen Geschickes und kaufmännischer Tüchtigkeit über¬
lieferten?

Mit dieser politischen Entwicklung Englands und ihrem Einfluß steht der
englische Kolonialbesitz in Zusammenhang. War England an den größten
Entdeckungen Amerikas, des Seewegs nach Ostindien, Australiens gar nicht
oder nur wenig beteiligt, so hat es doch mit jener obenerwähnten Geschicklich-
keit, aus der Schwäche andrer Staaten Nutzen zu ziehen, es verstanden, sich
nach und nach einen riesenhaften, die Ausdehnung des Mutterlandes um das
Sechzigfache übersteigeren Kolonialbesitz zu verschaffen. Spanien. Portugal,
Frankreich, die Niederlande haben zu verschiednen Zeiten und unter den
mannigfaltigsten politischen Notlagen Gelegenheit gehabt, sich von dieser eng¬
lischen Eigentümlichkeit zu überzeugen. Das so begründete Kvlouialreich wurde
u> zweifacher Weise die Grundlage des jetzigen Reichtums und der Machtstellung
Englands. Erstens lieferten diese Kolonien dein Mutterlande die für seine
Industrie erforderlichen Rohprodukte, und zweitens dienten sie ihr zum Absatz¬
gebiete. Die überschüssigen Kräfte gingen dem Lande nicht verloren, die Aus¬
wanderung auf der einen war nnr eine Einwanderung auf der andern Seite
des britischen Reiches. Eine Überproduktion war sür die englische Industrie
kaum möglich und ist es auch heute kaum, trotzdem daß die Kolonien in vielen
Gewerbszweigen vom Mutterlande unabhängig geworden sind, denn für jedes
Kolvnialgebiet, das so weit gekommen ist, sind andre vorhanden, die dem Handel
noch nicht erschlossen sind, um die er sich mit gehender und nehmender Hand
wenden kann, ganz abgesehen davon, daß mit der fortschreitenden Industrie sich
auch immer neue Vedürfnisfe einstellen. Daß diese Gebiete nicht nur riesen¬
groß, sondern meist auch außerordentlich reich von der Natur ausgestattet sind,
ist ein weiterer Vorteil, den England genießt. Es giebt kaum einen in der
Industrie zur Verwendung kommenden Rohstoff, der nicht in der einen oder
andern englischen Kolonie oder in vielen zugleich im Überflüsse vorhanden


Ärenzdoten I 188ö
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[0513] Englische Technik und deutsche Konkurrenz Und wie außerordentlich fördernd hat die politische Entwicklung Englands auf seine Industrie gewirkt! Ein einiges, starkes Königreich, das achthundert Jahre lang kaum einen Feind in seinen Grenzen gesehen hat, geschweige denn einem zur Beute gefallen ist. das volle zwei Jahrhunderte lang von Kriegen gänzlich unberührt geblieben ist, das, während benachbarte Nationen sich gegen¬ seitig zu Grunde richteten, ruhig zusehen und gerade aus dem blutigen Kampfe und der daraus folgenden Schwäche andrer Vorteil über Vorteil ziehen, feine Macht und seinen Wohlstand befestigen konnte, ein solches Reich sollte nicht unendlich viel vor Deutschland voraus haben? Ist es nicht natürlich, daß in demselben Maße, wie Deutschlands gewerbliches Leben unter den Schrecknissen des Krieges, uuter der Zerrissenheit und innern Fehde des Reiches, unter dem Drucke einer oft Verständnis- und gewissenlosen Regierung litt, Englands industrielle Kräfte stetig zunahmen und so der Gegenwart eine überaus kostbare Erbschaft technischen Geschickes und kaufmännischer Tüchtigkeit über¬ lieferten? Mit dieser politischen Entwicklung Englands und ihrem Einfluß steht der englische Kolonialbesitz in Zusammenhang. War England an den größten Entdeckungen Amerikas, des Seewegs nach Ostindien, Australiens gar nicht oder nur wenig beteiligt, so hat es doch mit jener obenerwähnten Geschicklich- keit, aus der Schwäche andrer Staaten Nutzen zu ziehen, es verstanden, sich nach und nach einen riesenhaften, die Ausdehnung des Mutterlandes um das Sechzigfache übersteigeren Kolonialbesitz zu verschaffen. Spanien. Portugal, Frankreich, die Niederlande haben zu verschiednen Zeiten und unter den mannigfaltigsten politischen Notlagen Gelegenheit gehabt, sich von dieser eng¬ lischen Eigentümlichkeit zu überzeugen. Das so begründete Kvlouialreich wurde u> zweifacher Weise die Grundlage des jetzigen Reichtums und der Machtstellung Englands. Erstens lieferten diese Kolonien dein Mutterlande die für seine Industrie erforderlichen Rohprodukte, und zweitens dienten sie ihr zum Absatz¬ gebiete. Die überschüssigen Kräfte gingen dem Lande nicht verloren, die Aus¬ wanderung auf der einen war nnr eine Einwanderung auf der andern Seite des britischen Reiches. Eine Überproduktion war sür die englische Industrie kaum möglich und ist es auch heute kaum, trotzdem daß die Kolonien in vielen Gewerbszweigen vom Mutterlande unabhängig geworden sind, denn für jedes Kolvnialgebiet, das so weit gekommen ist, sind andre vorhanden, die dem Handel noch nicht erschlossen sind, um die er sich mit gehender und nehmender Hand wenden kann, ganz abgesehen davon, daß mit der fortschreitenden Industrie sich auch immer neue Vedürfnisfe einstellen. Daß diese Gebiete nicht nur riesen¬ groß, sondern meist auch außerordentlich reich von der Natur ausgestattet sind, ist ein weiterer Vorteil, den England genießt. Es giebt kaum einen in der Industrie zur Verwendung kommenden Rohstoff, der nicht in der einen oder andern englischen Kolonie oder in vielen zugleich im Überflüsse vorhanden Ärenzdoten I 188ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/513>, abgerufen am 29.06.2024.