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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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harte Aöpfe

auf ihn gerichtet. Die Pausen wurden immer länger, ihr Atem immer schwächer;
um Mittag war es zu Ende. Wir begruben sie allein; Venarius war gleich
nach ihrem Tode zurückgekehrt.




Er holte uus ab, als wir am späten Abend in Aachen ankamen. Nach¬
dem einige wenige Worte gewechselt waren, schritt er so vollkommen schweigsam
neben uns her, daß meine Fran, so sehr ich ihren Arm auch drückte, schließlich
zuckend und schluchzend Heraussuhr: O Doktor, Doktor, so sagen Sie doch etwas!

Ein wenig langsam, aber äußerlich unbewegt, gab er zur Antwort: Muß
man denn immer etwas sagen? Sie hat einen sanften, beruhigten Tod gehabt,
daS ist das einzig Tröstliche an der traurigen Sache.

Und Sie, Doktor?

Nun, ich will Ihnen Rede stehen. Wissen Sie, die Natur hat bei einigen
Pflanzen solch eine Einrichtung getroffen ans Griechisch nennt man das
Protercmdrie -- daß die männlichen Blüten eher auftreten als die weiblichen,
oder auch umgekehrt. Die, die ihre Zeit richtig treffen, bringen Früchte, die
zu früh aufbrechen, erfrieren, und die zu spät kommen, müssen verdorren.
Das Gleichnis hinkt wie alle: in unserm Falle ist die Blume, die sich zu spät
begriffen hatte, erfroren, und ich bin übrig geblieben.

Trostlos! Und Ihr Versprechen?

Fragen Sie Ihren Mann, ob er Anstand nehmen wird, eine Dosis Mor¬
phium zu verschreiben, wenn er damit die letzten Stunden eines Sterbenden
lindern kann. Ich habe eine Lüge verschrieben. Nicht daß ich ihr noch persönlich
zürnte, ich habe in ihr überhaupt nur das Prinzip bekämpft. Aber ich bin
nicht sentimental genug, um mich an Versöhuungskränzen zu weiden, die im
Angesicht des Grabes gewunden werden. Ich gedenke auch nicht, meine Tage in
heimlicher Trauer zu versitzen; im Gegenteil, ich strebe nach Befriedigung, wie ich
es bisher gethan habe. Aber ich glaube, daß die Gunst der Frauen wenig damit
zu thun haben wird; sie, die Tote, steht zwischen mir und jedem andern Weibe.

War denn das, was sie gethan hat, ein so großes Unrecht, daß Sie es
nie vergessen können?

Recht oder Unrecht? Ja, das ist eine schwere Frage. Sie hat trotz ihres
guten Willens gewiß Unrecht gethan; die Menschheit müht sich seit Jahr¬
tausenden, und wir einzelnen Männer mühen uns redlich unser Leben längs
es dahin zu bringen, daß unsre Streitigkeiten ausgleichbar werden, wie es
nnter vernünftigen Wesen sein soll, nicht nach Laune und Vorurteil, sondern
nach Rechtsgrundsätzen und durch verständige Erörterung. Sie hat nur auf
ihr Vorurteil gehört und keine Erörterung zulassen wollen. Das war ihr
Unrecht; aber es war doch nicht eigentlich das, was mich veranlaßt hat, sie
zu verlassen. Das lag vielmehr darin, daß mir deutlich wurde, es sei zwischen
uns überhaupt kein Verständnis möglich. Unverständlich ist mir der Halbwille,


harte Aöpfe

auf ihn gerichtet. Die Pausen wurden immer länger, ihr Atem immer schwächer;
um Mittag war es zu Ende. Wir begruben sie allein; Venarius war gleich
nach ihrem Tode zurückgekehrt.




Er holte uus ab, als wir am späten Abend in Aachen ankamen. Nach¬
dem einige wenige Worte gewechselt waren, schritt er so vollkommen schweigsam
neben uns her, daß meine Fran, so sehr ich ihren Arm auch drückte, schließlich
zuckend und schluchzend Heraussuhr: O Doktor, Doktor, so sagen Sie doch etwas!

Ein wenig langsam, aber äußerlich unbewegt, gab er zur Antwort: Muß
man denn immer etwas sagen? Sie hat einen sanften, beruhigten Tod gehabt,
daS ist das einzig Tröstliche an der traurigen Sache.

Und Sie, Doktor?

Nun, ich will Ihnen Rede stehen. Wissen Sie, die Natur hat bei einigen
Pflanzen solch eine Einrichtung getroffen ans Griechisch nennt man das
Protercmdrie — daß die männlichen Blüten eher auftreten als die weiblichen,
oder auch umgekehrt. Die, die ihre Zeit richtig treffen, bringen Früchte, die
zu früh aufbrechen, erfrieren, und die zu spät kommen, müssen verdorren.
Das Gleichnis hinkt wie alle: in unserm Falle ist die Blume, die sich zu spät
begriffen hatte, erfroren, und ich bin übrig geblieben.

Trostlos! Und Ihr Versprechen?

Fragen Sie Ihren Mann, ob er Anstand nehmen wird, eine Dosis Mor¬
phium zu verschreiben, wenn er damit die letzten Stunden eines Sterbenden
lindern kann. Ich habe eine Lüge verschrieben. Nicht daß ich ihr noch persönlich
zürnte, ich habe in ihr überhaupt nur das Prinzip bekämpft. Aber ich bin
nicht sentimental genug, um mich an Versöhuungskränzen zu weiden, die im
Angesicht des Grabes gewunden werden. Ich gedenke auch nicht, meine Tage in
heimlicher Trauer zu versitzen; im Gegenteil, ich strebe nach Befriedigung, wie ich
es bisher gethan habe. Aber ich glaube, daß die Gunst der Frauen wenig damit
zu thun haben wird; sie, die Tote, steht zwischen mir und jedem andern Weibe.

War denn das, was sie gethan hat, ein so großes Unrecht, daß Sie es
nie vergessen können?

Recht oder Unrecht? Ja, das ist eine schwere Frage. Sie hat trotz ihres
guten Willens gewiß Unrecht gethan; die Menschheit müht sich seit Jahr¬
tausenden, und wir einzelnen Männer mühen uns redlich unser Leben längs
es dahin zu bringen, daß unsre Streitigkeiten ausgleichbar werden, wie es
nnter vernünftigen Wesen sein soll, nicht nach Laune und Vorurteil, sondern
nach Rechtsgrundsätzen und durch verständige Erörterung. Sie hat nur auf
ihr Vorurteil gehört und keine Erörterung zulassen wollen. Das war ihr
Unrecht; aber es war doch nicht eigentlich das, was mich veranlaßt hat, sie
zu verlassen. Das lag vielmehr darin, daß mir deutlich wurde, es sei zwischen
uns überhaupt kein Verständnis möglich. Unverständlich ist mir der Halbwille,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/488>, abgerufen am 29.06.2024.