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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Pädagogische Phrasen

Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit und in der Herr¬
schaft einer edeln Gesinnung über das ganze geistige Wesen, Wahre Humanität
in diesem Sinne zu pflegen ist schönste Aufgabe der Schule."

Zuvörderst: was ist mit der "Einheit unsrer höhern Schulbildung"
gemeint, die Zusammenfassung der Erkenntnisse zu einer bestimmten Weltansicht
im Geiste des Schülers, oder die Gleichartigkeit des erworbenen Wissens bei
allen, welche die Schule besucht haben? Ferner: ist es nicht mindestens eine
starke Übertreibung, von Alleinherrschaft der klassischen Sprachen zu reden?
Sodann: wie kann man so ungleichartige Dinge wie Lehrgegenstände und
Methoden zu Gliedern einer Alternative machen! Ich würde es verstehen, wenn
gesagt würde: nicht Latein und Griechisch sondern Deutsch muß den beherr¬
schenden Mittelpunkt des Unterrichts bilden; oder auch: die einzelnen Fächer
dürfen nicht zusammenhanglos neben einander liegen bleiben, sondern müssen
unter einander zu einem Ganzen verknüpft werden. Aber nicht Latein, sondern
-- Verknüpfung, das verstehe einer! Ob Latein, ob Deutsch, ob Mathematik
das herrschende Fach ist, der Unterricht kann von Fachlehrern erteilt werden,
die sich nicht um einander kümmern, oder die einzelnen Fächer können zu
einem Ganzen mit einander verknüpft werden, was, nebenbei gesagt, nicht gut
möglich ist, wenn nicht wenigstens die Hauptfächer in der Hand eines einzigen
Lehrers liegen.

Nun entsteht die große Frage: was für ein Ganzes ist es, zu dem die
mancherlei Erkenntnisse verknüpft werden sollen? Doch ohne Zweifel ein Welt¬
bild, das als sein Gegenbild eine bestimmte Schülerindividnalität hervorruft.
Aber welches Weltbild, und welcher Schttlercharakter? In Beziehung auf den
zweiten Punkt sagt der Verfasser, was er will; oder vielmehr, er sagt es uicht;
denn nachdem wir ihn gehört haben, wissen wir so viel wie vorher: "harmonische
Vereinigung aller Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit."
Was versteht er uuter eiuer "schönen menschlichen Persönlichkeit?" Den "schönen
und guten Mann" der Alten, in welchem die Kräfte des Körpers und Geistes
gleichmüßig ausgebildet sind, so daß seine Erscheinung, sein Benehmen und
seine Unterhaltung einen angenehmen Eindruck machen? der nach geistigen
Gütern strebt, ohne dem Leibe sein Recht zu versagen? der die Leidenschaften
nicht unterdrückt, sondern nur in ihrer Befriedigung Maß hält? Oder was
man im vorigen Jahrhundert "schöne Seelen" nannte, nämlich ästhetisch an¬
gehauchte Pietisten? Oder Asketen, die durch Abtötung des Leibes die höchste
Seelenschönheit zu erringen hoffen? Oder große Geister und starke Charaktere,
die Gewaltiges vollbringen, der Welt ihren Willen aufzwingen und brechen,
was sich nicht biegen mag? Oder den Mann des kategorischen Imperativs,
der in nie versagender Ordnung und Pünktlichkeit seine tägliche Pflicht erfüllt?
Eher kann doch der Lehrer seine erhabene Bildnerarbeit nicht beginnen, als
bis er weiß, zu welcher Schönheit er das Wachs der jungen Seelen formen


Pädagogische Phrasen

Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit und in der Herr¬
schaft einer edeln Gesinnung über das ganze geistige Wesen, Wahre Humanität
in diesem Sinne zu pflegen ist schönste Aufgabe der Schule."

Zuvörderst: was ist mit der „Einheit unsrer höhern Schulbildung"
gemeint, die Zusammenfassung der Erkenntnisse zu einer bestimmten Weltansicht
im Geiste des Schülers, oder die Gleichartigkeit des erworbenen Wissens bei
allen, welche die Schule besucht haben? Ferner: ist es nicht mindestens eine
starke Übertreibung, von Alleinherrschaft der klassischen Sprachen zu reden?
Sodann: wie kann man so ungleichartige Dinge wie Lehrgegenstände und
Methoden zu Gliedern einer Alternative machen! Ich würde es verstehen, wenn
gesagt würde: nicht Latein und Griechisch sondern Deutsch muß den beherr¬
schenden Mittelpunkt des Unterrichts bilden; oder auch: die einzelnen Fächer
dürfen nicht zusammenhanglos neben einander liegen bleiben, sondern müssen
unter einander zu einem Ganzen verknüpft werden. Aber nicht Latein, sondern
— Verknüpfung, das verstehe einer! Ob Latein, ob Deutsch, ob Mathematik
das herrschende Fach ist, der Unterricht kann von Fachlehrern erteilt werden,
die sich nicht um einander kümmern, oder die einzelnen Fächer können zu
einem Ganzen mit einander verknüpft werden, was, nebenbei gesagt, nicht gut
möglich ist, wenn nicht wenigstens die Hauptfächer in der Hand eines einzigen
Lehrers liegen.

Nun entsteht die große Frage: was für ein Ganzes ist es, zu dem die
mancherlei Erkenntnisse verknüpft werden sollen? Doch ohne Zweifel ein Welt¬
bild, das als sein Gegenbild eine bestimmte Schülerindividnalität hervorruft.
Aber welches Weltbild, und welcher Schttlercharakter? In Beziehung auf den
zweiten Punkt sagt der Verfasser, was er will; oder vielmehr, er sagt es uicht;
denn nachdem wir ihn gehört haben, wissen wir so viel wie vorher: „harmonische
Vereinigung aller Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit."
Was versteht er uuter eiuer „schönen menschlichen Persönlichkeit?" Den „schönen
und guten Mann" der Alten, in welchem die Kräfte des Körpers und Geistes
gleichmüßig ausgebildet sind, so daß seine Erscheinung, sein Benehmen und
seine Unterhaltung einen angenehmen Eindruck machen? der nach geistigen
Gütern strebt, ohne dem Leibe sein Recht zu versagen? der die Leidenschaften
nicht unterdrückt, sondern nur in ihrer Befriedigung Maß hält? Oder was
man im vorigen Jahrhundert „schöne Seelen" nannte, nämlich ästhetisch an¬
gehauchte Pietisten? Oder Asketen, die durch Abtötung des Leibes die höchste
Seelenschönheit zu erringen hoffen? Oder große Geister und starke Charaktere,
die Gewaltiges vollbringen, der Welt ihren Willen aufzwingen und brechen,
was sich nicht biegen mag? Oder den Mann des kategorischen Imperativs,
der in nie versagender Ordnung und Pünktlichkeit seine tägliche Pflicht erfüllt?
Eher kann doch der Lehrer seine erhabene Bildnerarbeit nicht beginnen, als
bis er weiß, zu welcher Schönheit er das Wachs der jungen Seelen formen


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[0467] Pädagogische Phrasen Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit und in der Herr¬ schaft einer edeln Gesinnung über das ganze geistige Wesen, Wahre Humanität in diesem Sinne zu pflegen ist schönste Aufgabe der Schule." Zuvörderst: was ist mit der „Einheit unsrer höhern Schulbildung" gemeint, die Zusammenfassung der Erkenntnisse zu einer bestimmten Weltansicht im Geiste des Schülers, oder die Gleichartigkeit des erworbenen Wissens bei allen, welche die Schule besucht haben? Ferner: ist es nicht mindestens eine starke Übertreibung, von Alleinherrschaft der klassischen Sprachen zu reden? Sodann: wie kann man so ungleichartige Dinge wie Lehrgegenstände und Methoden zu Gliedern einer Alternative machen! Ich würde es verstehen, wenn gesagt würde: nicht Latein und Griechisch sondern Deutsch muß den beherr¬ schenden Mittelpunkt des Unterrichts bilden; oder auch: die einzelnen Fächer dürfen nicht zusammenhanglos neben einander liegen bleiben, sondern müssen unter einander zu einem Ganzen verknüpft werden. Aber nicht Latein, sondern — Verknüpfung, das verstehe einer! Ob Latein, ob Deutsch, ob Mathematik das herrschende Fach ist, der Unterricht kann von Fachlehrern erteilt werden, die sich nicht um einander kümmern, oder die einzelnen Fächer können zu einem Ganzen mit einander verknüpft werden, was, nebenbei gesagt, nicht gut möglich ist, wenn nicht wenigstens die Hauptfächer in der Hand eines einzigen Lehrers liegen. Nun entsteht die große Frage: was für ein Ganzes ist es, zu dem die mancherlei Erkenntnisse verknüpft werden sollen? Doch ohne Zweifel ein Welt¬ bild, das als sein Gegenbild eine bestimmte Schülerindividnalität hervorruft. Aber welches Weltbild, und welcher Schttlercharakter? In Beziehung auf den zweiten Punkt sagt der Verfasser, was er will; oder vielmehr, er sagt es uicht; denn nachdem wir ihn gehört haben, wissen wir so viel wie vorher: „harmonische Vereinigung aller Bildungselemente zu einer schönen menschlichen Persönlichkeit." Was versteht er uuter eiuer „schönen menschlichen Persönlichkeit?" Den „schönen und guten Mann" der Alten, in welchem die Kräfte des Körpers und Geistes gleichmüßig ausgebildet sind, so daß seine Erscheinung, sein Benehmen und seine Unterhaltung einen angenehmen Eindruck machen? der nach geistigen Gütern strebt, ohne dem Leibe sein Recht zu versagen? der die Leidenschaften nicht unterdrückt, sondern nur in ihrer Befriedigung Maß hält? Oder was man im vorigen Jahrhundert „schöne Seelen" nannte, nämlich ästhetisch an¬ gehauchte Pietisten? Oder Asketen, die durch Abtötung des Leibes die höchste Seelenschönheit zu erringen hoffen? Oder große Geister und starke Charaktere, die Gewaltiges vollbringen, der Welt ihren Willen aufzwingen und brechen, was sich nicht biegen mag? Oder den Mann des kategorischen Imperativs, der in nie versagender Ordnung und Pünktlichkeit seine tägliche Pflicht erfüllt? Eher kann doch der Lehrer seine erhabene Bildnerarbeit nicht beginnen, als bis er weiß, zu welcher Schönheit er das Wachs der jungen Seelen formen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/467>, abgerufen am 28.09.2024.