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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Militärisch-politische Blicke nach Osten

arbeitet Rußland mit eiserner Beharrlichkeit an der Vernichtung der Türkei
und an der Gewinnung des Zugangs zum Mittelmeere. Seit 1768, also in
dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von zwölf Jahrzehnten, haben sich fünf
große Kriege zwischen ihm und der Pforte abgespielt und dahin geführt, daß
das Gebiet des Sultans immer kleiner und das des Zaren ungefähr in dem¬
selben Maße großer wurde. Der Friede von Kntschuk Kainardschi nahm der
Türkei und gab dem russischen Reiche Asow und ein Stück der Nordküste des
Schwarzen Meeres (1774). Der von Jnssh entzog den Türken zu Gunsten
der Russen das Gebiet östlich vom Dnjester, der nunmehr die Grenze zwischen
beiden bildete (1792). Der von Bukarest rückte diese Grenze weiter bis an den
Pruth und vereinigte das Douaudelta mit dem Zarenreiche (1812). Im Frie¬
den von Adrianopel verloren die Osmanen den Distrikt Achalzich in Asien an
die Russen, und zu gleicher Zeit wurde Griechenland selbständig (1829). Der
Friede von San Stefano (1873) verschaffte dem Zaren wichtige Festungen
und beträchtliche Gebietsteile der Pforte in Asien, machte Rumänien, Serbien
und Montenegro unabhängig und schuf ein halb selbständiges Bulgarien, dessen
Grenzen bis an das Schwarze und das Ägeische Meer reichten, und von dem
Rußland hoffen konnte, es werde sich zu seinem Vasallen bei einem zukünftigen
Feldzuge zur Vollendung seines Eroberuügswerkes ausbilden und gebrauchen
lassen, was von Montenegro mit Bestimmtheit zu erwarten war. Der Ber¬
liner Kongreß bestätigte den Frieden von San Stefano, aber unter Ein¬
schränkung der Grenzen Bulgariens und Teilung desselben in ein der Pforte
nur tributpflichtiges Fürstentum Bulgarien und ein ihr weniger selbständig
gegenüberstehendes Ostrumelien. Auch wurden der russischen Politik in Be¬
treff des Nestes der Türkei zwei Riegel vorgeschoben, indem Österreich die
Verwaltung Bosniens und der Herzegowina ans unbestimmte Zeitdauer
(d. h. der zwar nicht rechtliche, aber thatsächliche Besitz dieser türkischen Pro¬
vinzen) übertragen wurde und England dem Sultan gegen Abtretung Cyperns
für die Erhaltung seines kleinasiatischen Besitzes Gewähr leistete.

Rußland hat also in seinem letzten Kriege mit der Pforte, da Europa
sich der letzteren mit diplomatischen Mitteln annahm wie im Krimkriege mit
militärischen, nur einen Teil dessen erreicht, was es mit seinem Angriffe be¬
zweckte, zumal da Bulgarien die zukünftigen Hoffnungen nach kurzer Zeit täuschte
und der russischen Sache abtrünnig wurde. Es bereitet sich aber offenbar vor,
bei passender Gelegenheit seine Erobrerarbeit wieder aufzunehmen und mit der
Einnahme Konstantinopels zu beendigen. Es vermehrt seine Kriegsflotten im
Schwarzen Meere, es baut sein Eisenbahnnetz uach dieser Richtung aus und
dislozirt seine Truppen im Westen, Südwesten und Süden derartig, daß eins
der hauptsächlichen Hindernisse eines schnellen strategischen Aufmarsches, das
in den ungeheuren Entfernungen eines großen Teils derselben von dem mut¬
maßlichen Kriegsschauplatze besteht, bedeutend vermindert werden wird.


Militärisch-politische Blicke nach Osten

arbeitet Rußland mit eiserner Beharrlichkeit an der Vernichtung der Türkei
und an der Gewinnung des Zugangs zum Mittelmeere. Seit 1768, also in
dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von zwölf Jahrzehnten, haben sich fünf
große Kriege zwischen ihm und der Pforte abgespielt und dahin geführt, daß
das Gebiet des Sultans immer kleiner und das des Zaren ungefähr in dem¬
selben Maße großer wurde. Der Friede von Kntschuk Kainardschi nahm der
Türkei und gab dem russischen Reiche Asow und ein Stück der Nordküste des
Schwarzen Meeres (1774). Der von Jnssh entzog den Türken zu Gunsten
der Russen das Gebiet östlich vom Dnjester, der nunmehr die Grenze zwischen
beiden bildete (1792). Der von Bukarest rückte diese Grenze weiter bis an den
Pruth und vereinigte das Douaudelta mit dem Zarenreiche (1812). Im Frie¬
den von Adrianopel verloren die Osmanen den Distrikt Achalzich in Asien an
die Russen, und zu gleicher Zeit wurde Griechenland selbständig (1829). Der
Friede von San Stefano (1873) verschaffte dem Zaren wichtige Festungen
und beträchtliche Gebietsteile der Pforte in Asien, machte Rumänien, Serbien
und Montenegro unabhängig und schuf ein halb selbständiges Bulgarien, dessen
Grenzen bis an das Schwarze und das Ägeische Meer reichten, und von dem
Rußland hoffen konnte, es werde sich zu seinem Vasallen bei einem zukünftigen
Feldzuge zur Vollendung seines Eroberuügswerkes ausbilden und gebrauchen
lassen, was von Montenegro mit Bestimmtheit zu erwarten war. Der Ber¬
liner Kongreß bestätigte den Frieden von San Stefano, aber unter Ein¬
schränkung der Grenzen Bulgariens und Teilung desselben in ein der Pforte
nur tributpflichtiges Fürstentum Bulgarien und ein ihr weniger selbständig
gegenüberstehendes Ostrumelien. Auch wurden der russischen Politik in Be¬
treff des Nestes der Türkei zwei Riegel vorgeschoben, indem Österreich die
Verwaltung Bosniens und der Herzegowina ans unbestimmte Zeitdauer
(d. h. der zwar nicht rechtliche, aber thatsächliche Besitz dieser türkischen Pro¬
vinzen) übertragen wurde und England dem Sultan gegen Abtretung Cyperns
für die Erhaltung seines kleinasiatischen Besitzes Gewähr leistete.

Rußland hat also in seinem letzten Kriege mit der Pforte, da Europa
sich der letzteren mit diplomatischen Mitteln annahm wie im Krimkriege mit
militärischen, nur einen Teil dessen erreicht, was es mit seinem Angriffe be¬
zweckte, zumal da Bulgarien die zukünftigen Hoffnungen nach kurzer Zeit täuschte
und der russischen Sache abtrünnig wurde. Es bereitet sich aber offenbar vor,
bei passender Gelegenheit seine Erobrerarbeit wieder aufzunehmen und mit der
Einnahme Konstantinopels zu beendigen. Es vermehrt seine Kriegsflotten im
Schwarzen Meere, es baut sein Eisenbahnnetz uach dieser Richtung aus und
dislozirt seine Truppen im Westen, Südwesten und Süden derartig, daß eins
der hauptsächlichen Hindernisse eines schnellen strategischen Aufmarsches, das
in den ungeheuren Entfernungen eines großen Teils derselben von dem mut¬
maßlichen Kriegsschauplatze besteht, bedeutend vermindert werden wird.


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[0402] Militärisch-politische Blicke nach Osten arbeitet Rußland mit eiserner Beharrlichkeit an der Vernichtung der Türkei und an der Gewinnung des Zugangs zum Mittelmeere. Seit 1768, also in dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von zwölf Jahrzehnten, haben sich fünf große Kriege zwischen ihm und der Pforte abgespielt und dahin geführt, daß das Gebiet des Sultans immer kleiner und das des Zaren ungefähr in dem¬ selben Maße großer wurde. Der Friede von Kntschuk Kainardschi nahm der Türkei und gab dem russischen Reiche Asow und ein Stück der Nordküste des Schwarzen Meeres (1774). Der von Jnssh entzog den Türken zu Gunsten der Russen das Gebiet östlich vom Dnjester, der nunmehr die Grenze zwischen beiden bildete (1792). Der von Bukarest rückte diese Grenze weiter bis an den Pruth und vereinigte das Douaudelta mit dem Zarenreiche (1812). Im Frie¬ den von Adrianopel verloren die Osmanen den Distrikt Achalzich in Asien an die Russen, und zu gleicher Zeit wurde Griechenland selbständig (1829). Der Friede von San Stefano (1873) verschaffte dem Zaren wichtige Festungen und beträchtliche Gebietsteile der Pforte in Asien, machte Rumänien, Serbien und Montenegro unabhängig und schuf ein halb selbständiges Bulgarien, dessen Grenzen bis an das Schwarze und das Ägeische Meer reichten, und von dem Rußland hoffen konnte, es werde sich zu seinem Vasallen bei einem zukünftigen Feldzuge zur Vollendung seines Eroberuügswerkes ausbilden und gebrauchen lassen, was von Montenegro mit Bestimmtheit zu erwarten war. Der Ber¬ liner Kongreß bestätigte den Frieden von San Stefano, aber unter Ein¬ schränkung der Grenzen Bulgariens und Teilung desselben in ein der Pforte nur tributpflichtiges Fürstentum Bulgarien und ein ihr weniger selbständig gegenüberstehendes Ostrumelien. Auch wurden der russischen Politik in Be¬ treff des Nestes der Türkei zwei Riegel vorgeschoben, indem Österreich die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina ans unbestimmte Zeitdauer (d. h. der zwar nicht rechtliche, aber thatsächliche Besitz dieser türkischen Pro¬ vinzen) übertragen wurde und England dem Sultan gegen Abtretung Cyperns für die Erhaltung seines kleinasiatischen Besitzes Gewähr leistete. Rußland hat also in seinem letzten Kriege mit der Pforte, da Europa sich der letzteren mit diplomatischen Mitteln annahm wie im Krimkriege mit militärischen, nur einen Teil dessen erreicht, was es mit seinem Angriffe be¬ zweckte, zumal da Bulgarien die zukünftigen Hoffnungen nach kurzer Zeit täuschte und der russischen Sache abtrünnig wurde. Es bereitet sich aber offenbar vor, bei passender Gelegenheit seine Erobrerarbeit wieder aufzunehmen und mit der Einnahme Konstantinopels zu beendigen. Es vermehrt seine Kriegsflotten im Schwarzen Meere, es baut sein Eisenbahnnetz uach dieser Richtung aus und dislozirt seine Truppen im Westen, Südwesten und Süden derartig, daß eins der hauptsächlichen Hindernisse eines schnellen strategischen Aufmarsches, das in den ungeheuren Entfernungen eines großen Teils derselben von dem mut¬ maßlichen Kriegsschauplatze besteht, bedeutend vermindert werden wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/402>, abgerufen am 29.06.2024.