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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

meinst hat, gerät er als Wildschütz mit den Behörden in Konflikt und endet auf
der Flucht vor Gensdarmen dnrch den Tod im tiefen See.

Diese echt poetisch anmutende und tragisch erschütternde Gestalt ist leider im
Sinne des Realismus nichts weniger als Mähr. Sie ist ein gutes Zeugnis für
Noseggcrs dichterisches Vermögen, aber im übrigen zeigt der Roman wieder, wie
unklar der Versasser in künstlerischen Dingen denkt. So ideal sein Held handelt
und dasteht, so realistisch im Sinne der Modernen ist seine Uingelnmg geschildert.
Nosegger vermag nämlich uicht wie der andre österreichische Dorfgcschichtcndichtcr,
wie Anzengrnber, eine Handlung im großen Stile zu erfinden und darzustellen,
Darum hält "Jakob der Letzte" mit dem "Sternsteinhof" nicht entfernt den Ver¬
gleich ans. Nosegger ist der geborne Episodist, der Skizzenmcinn, der von lyrischer
Stimiuuug erfüllte Naturschildercr, der Sittenmaler im kleinen Stil. Dies Ge¬
präge trägt auch die vorliegende Waldbaucrngeschichte. Jedes ihrer zahlreichen Kapitel
ist ein Bildchen für sich, geeignet, ganz abgetrennt in einer Zeitschrift zu erscheinen.
Ausführlich werden uus die Sitten der GebirgSbancrn geschildert, und viele Szenen
sind vou ungewöhnlicher Schönheit, insbesondere die Naturschilderungen. Sie
werden um so wirksamer, je weniger man Nosegger aus früheren Bänden keunt,
denn einigermaßen wiederholt er sich denn doch auch diesmal. Wenn man aber
an die Tendenz denkt, die dem Vorworte gemäß der Dichter mit seinem "Jakob
der Letzte" verfolgte, so muß man sagen, daß seine Geschichte eigentlich das Gegen¬
teil vou der Wirkung hervorruft, die sie beabsichtigt. Denn wie tief auch unser
Mitleid mit dem letzten Jakob sein mag: zur Aktion gegen den Millionär für
die Aitenmooser fühlen wir uns durchaus nicht gedrängt. Diese dummen Bauern,
die nicht soviel Verstand haben, zu merken, daß sie, ohne irgend ein Handwerk
gelernt zu haben, in der Fremde verkommen müssen, und die nach Noseggers
eigner Darstellung in Wahrheit sämtlich mehr oder weniger elend zu Grunde
gehen --- welches Recht haben sie darauf, die Hilfe des Staates anzurufen? Ist
der Staat etwa dazu da, jeden Narren vor Thorheiten zu bewahren? soll der
Staat das Amt des Schulmeisters oder Seelsorgers übernehmen? Es besteht heut¬
zutage viel zu viel das Bestreben, den Staat für die Fehler der einzelnen verant¬
wortlich zu machen; Nosegger schwimmt in dieser Strömung ohne Klarheit mit.
Den Stier bei den Hörnern zu fassen, das ihm dunkel vorschwebende Problem
der sozialen Frage, des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit zu ergreifen und
dichterisch zu behandeln, hat Nosegger nicht versucht. Solche Tragödien aber, wie
er sie uus geschildert, werden sich so lauge wiederhole", als es zwischen Menschen
einen Unterschied der Starken und Schwache", der Begabten und Unbegabten giebt.
Wer am Leben bleiben will, muß sich auch des Lebens erwehren können. Es ist
der Poesie Noseggers uur möglich, uns elegisch zu stimmen -- aber nicht mehr!


M N




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig -- Druck oren Carl Marqart in Leipzig
Litteratur

meinst hat, gerät er als Wildschütz mit den Behörden in Konflikt und endet auf
der Flucht vor Gensdarmen dnrch den Tod im tiefen See.

Diese echt poetisch anmutende und tragisch erschütternde Gestalt ist leider im
Sinne des Realismus nichts weniger als Mähr. Sie ist ein gutes Zeugnis für
Noseggcrs dichterisches Vermögen, aber im übrigen zeigt der Roman wieder, wie
unklar der Versasser in künstlerischen Dingen denkt. So ideal sein Held handelt
und dasteht, so realistisch im Sinne der Modernen ist seine Uingelnmg geschildert.
Nosegger vermag nämlich uicht wie der andre österreichische Dorfgcschichtcndichtcr,
wie Anzengrnber, eine Handlung im großen Stile zu erfinden und darzustellen,
Darum hält „Jakob der Letzte" mit dem „Sternsteinhof" nicht entfernt den Ver¬
gleich ans. Nosegger ist der geborne Episodist, der Skizzenmcinn, der von lyrischer
Stimiuuug erfüllte Naturschildercr, der Sittenmaler im kleinen Stil. Dies Ge¬
präge trägt auch die vorliegende Waldbaucrngeschichte. Jedes ihrer zahlreichen Kapitel
ist ein Bildchen für sich, geeignet, ganz abgetrennt in einer Zeitschrift zu erscheinen.
Ausführlich werden uus die Sitten der GebirgSbancrn geschildert, und viele Szenen
sind vou ungewöhnlicher Schönheit, insbesondere die Naturschilderungen. Sie
werden um so wirksamer, je weniger man Nosegger aus früheren Bänden keunt,
denn einigermaßen wiederholt er sich denn doch auch diesmal. Wenn man aber
an die Tendenz denkt, die dem Vorworte gemäß der Dichter mit seinem „Jakob
der Letzte" verfolgte, so muß man sagen, daß seine Geschichte eigentlich das Gegen¬
teil vou der Wirkung hervorruft, die sie beabsichtigt. Denn wie tief auch unser
Mitleid mit dem letzten Jakob sein mag: zur Aktion gegen den Millionär für
die Aitenmooser fühlen wir uns durchaus nicht gedrängt. Diese dummen Bauern,
die nicht soviel Verstand haben, zu merken, daß sie, ohne irgend ein Handwerk
gelernt zu haben, in der Fremde verkommen müssen, und die nach Noseggers
eigner Darstellung in Wahrheit sämtlich mehr oder weniger elend zu Grunde
gehen -— welches Recht haben sie darauf, die Hilfe des Staates anzurufen? Ist
der Staat etwa dazu da, jeden Narren vor Thorheiten zu bewahren? soll der
Staat das Amt des Schulmeisters oder Seelsorgers übernehmen? Es besteht heut¬
zutage viel zu viel das Bestreben, den Staat für die Fehler der einzelnen verant¬
wortlich zu machen; Nosegger schwimmt in dieser Strömung ohne Klarheit mit.
Den Stier bei den Hörnern zu fassen, das ihm dunkel vorschwebende Problem
der sozialen Frage, des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit zu ergreifen und
dichterisch zu behandeln, hat Nosegger nicht versucht. Solche Tragödien aber, wie
er sie uus geschildert, werden sich so lauge wiederhole», als es zwischen Menschen
einen Unterschied der Starken und Schwache», der Begabten und Unbegabten giebt.
Wer am Leben bleiben will, muß sich auch des Lebens erwehren können. Es ist
der Poesie Noseggers uur möglich, uns elegisch zu stimmen — aber nicht mehr!


M N




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig — Druck oren Carl Marqart in Leipzig
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[0352] Litteratur meinst hat, gerät er als Wildschütz mit den Behörden in Konflikt und endet auf der Flucht vor Gensdarmen dnrch den Tod im tiefen See. Diese echt poetisch anmutende und tragisch erschütternde Gestalt ist leider im Sinne des Realismus nichts weniger als Mähr. Sie ist ein gutes Zeugnis für Noseggcrs dichterisches Vermögen, aber im übrigen zeigt der Roman wieder, wie unklar der Versasser in künstlerischen Dingen denkt. So ideal sein Held handelt und dasteht, so realistisch im Sinne der Modernen ist seine Uingelnmg geschildert. Nosegger vermag nämlich uicht wie der andre österreichische Dorfgcschichtcndichtcr, wie Anzengrnber, eine Handlung im großen Stile zu erfinden und darzustellen, Darum hält „Jakob der Letzte" mit dem „Sternsteinhof" nicht entfernt den Ver¬ gleich ans. Nosegger ist der geborne Episodist, der Skizzenmcinn, der von lyrischer Stimiuuug erfüllte Naturschildercr, der Sittenmaler im kleinen Stil. Dies Ge¬ präge trägt auch die vorliegende Waldbaucrngeschichte. Jedes ihrer zahlreichen Kapitel ist ein Bildchen für sich, geeignet, ganz abgetrennt in einer Zeitschrift zu erscheinen. Ausführlich werden uus die Sitten der GebirgSbancrn geschildert, und viele Szenen sind vou ungewöhnlicher Schönheit, insbesondere die Naturschilderungen. Sie werden um so wirksamer, je weniger man Nosegger aus früheren Bänden keunt, denn einigermaßen wiederholt er sich denn doch auch diesmal. Wenn man aber an die Tendenz denkt, die dem Vorworte gemäß der Dichter mit seinem „Jakob der Letzte" verfolgte, so muß man sagen, daß seine Geschichte eigentlich das Gegen¬ teil vou der Wirkung hervorruft, die sie beabsichtigt. Denn wie tief auch unser Mitleid mit dem letzten Jakob sein mag: zur Aktion gegen den Millionär für die Aitenmooser fühlen wir uns durchaus nicht gedrängt. Diese dummen Bauern, die nicht soviel Verstand haben, zu merken, daß sie, ohne irgend ein Handwerk gelernt zu haben, in der Fremde verkommen müssen, und die nach Noseggers eigner Darstellung in Wahrheit sämtlich mehr oder weniger elend zu Grunde gehen -— welches Recht haben sie darauf, die Hilfe des Staates anzurufen? Ist der Staat etwa dazu da, jeden Narren vor Thorheiten zu bewahren? soll der Staat das Amt des Schulmeisters oder Seelsorgers übernehmen? Es besteht heut¬ zutage viel zu viel das Bestreben, den Staat für die Fehler der einzelnen verant¬ wortlich zu machen; Nosegger schwimmt in dieser Strömung ohne Klarheit mit. Den Stier bei den Hörnern zu fassen, das ihm dunkel vorschwebende Problem der sozialen Frage, des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit zu ergreifen und dichterisch zu behandeln, hat Nosegger nicht versucht. Solche Tragödien aber, wie er sie uus geschildert, werden sich so lauge wiederhole», als es zwischen Menschen einen Unterschied der Starken und Schwache», der Begabten und Unbegabten giebt. Wer am Leben bleiben will, muß sich auch des Lebens erwehren können. Es ist der Poesie Noseggers uur möglich, uns elegisch zu stimmen — aber nicht mehr! M N Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunvw in Leipzig — Druck oren Carl Marqart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/352>, abgerufen am 26.06.2024.