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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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littsraturs tavils. Er hatte sich durch ein gewissenhaftes Studium der klassischen
Schöpfungen auf Grund spiritnalistischer Philosophie ein Ideal von dem franzö¬
sischen Genius geschaffen, an dem er in einseitiger Weise alle Erscheinungen
der Litteratur maß und würdigte. Für ihn war lediglich das poetische Werk
der Ausgangspunkt der kritischen Betrachtung; der geschichtliche Hintergrund
und die Persönlichkeit des Schriftstellers kamen dabei wenig oder gar nicht
zur Geltung. Seine systematische Vernarrtheit in den S8xrit trimeMs machte
seine Mstoirs Ah 1a littsrawrs ÜANHMso parteiisch, unvollständig und wissen¬
schaftlich wertlos. Der ssxrit ist sein Dogma, und wer sich dagegen
versündigt, wird in Acht und Baun gethan. Trotzdem gilt Nisards Litteratur¬
geschichte noch bei vielen Geistern in Frankreich als klassisch: 0's8t un livrs
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Ans Seiten der romantische" Schale stand in den dreißiger Jahren Sainte-
Beuve. Er hatte sich Villemains Grundanschauung zu eigen gemacht, daß alle
Züge in einem großen Schriftsteller durch seine Zeit und seine Studien be¬
stimmt würden; daher nahm er nicht das dichterische Werk, sondern die Indivi¬
dualität des Verfassers zum Ausgangspunkte seiner kritischen Untersuchung.
Ein Kunstwerk kann man wohl als solches ohne Rücksicht auf den Ursprung
genießen; allein richtig zu beurteilen vermag man es erst dann, wenn mau
das ganze Wesen des Künstlers kennt, seinen Lebensgang, seinen Charakter,
seine Gewohnheiten, seinen moralischen Zustand. Es genügt nicht, den Schrift¬
steller in seinen Werken zu studiren, mau muß ihn in seinein eignen Lande
kennen lernen, in seiner Abstammung und Verwandtschaft, in seinen Zeit¬
genossen, seinen Anhängern und Gegnern. Bei jedem Geiste, den Sainte-
Beuve beurteilen wollte, legte er sich außerdem folgende Fragen vor: Was
hielt er von der Religion? Wie wirkte auf ihn der Anblick der Natur? Wie
verhielt er sich zu den Frauen? Zur Geldfrage? War er reich? War er
arm? Wie war seine Diät? Wie war seine tägliche Lebensweise? Endlich,
welches war sein Laster und seine Schwäche? denn jeder Mensch hat eine
Schwäche. So wurden die biographischen Einzelheiten die Grundsteine seiner
Kritik. Aber er ging noch weiter. Wo man bis dahin in der geistigen und
sittlichen Welt nur Zufall, Laune und Widerspruch gefunden hatte, da suchte
Sainte-Beuve Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Übereinstimmung aufzustellen.

Im Pflanzen- und Tierreich werden ans den Individuen Klassen,
Familien, Geschlechter gebildet. Dem entsprechend wollte er auch die Geister
eklektisch zusammenfassen und gruppiren. Zwar trat ihm bei dieser Arbeit die
menschliche Willensfreiheit oft störend entgegen, aber er hoffte, daß die Wissen¬
schaft auch in dieses dunkle, scheinbar gesetzlose Reich eindringen und feste
Grundsätze liefern würde. IVIioinnrs rnsrg.1 sse xws oomxlsxs, sagt er, it "


littsraturs tavils. Er hatte sich durch ein gewissenhaftes Studium der klassischen
Schöpfungen auf Grund spiritnalistischer Philosophie ein Ideal von dem franzö¬
sischen Genius geschaffen, an dem er in einseitiger Weise alle Erscheinungen
der Litteratur maß und würdigte. Für ihn war lediglich das poetische Werk
der Ausgangspunkt der kritischen Betrachtung; der geschichtliche Hintergrund
und die Persönlichkeit des Schriftstellers kamen dabei wenig oder gar nicht
zur Geltung. Seine systematische Vernarrtheit in den S8xrit trimeMs machte
seine Mstoirs Ah 1a littsrawrs ÜANHMso parteiisch, unvollständig und wissen¬
schaftlich wertlos. Der ssxrit ist sein Dogma, und wer sich dagegen
versündigt, wird in Acht und Baun gethan. Trotzdem gilt Nisards Litteratur¬
geschichte noch bei vielen Geistern in Frankreich als klassisch: 0's8t un livrs
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Ans Seiten der romantische» Schale stand in den dreißiger Jahren Sainte-
Beuve. Er hatte sich Villemains Grundanschauung zu eigen gemacht, daß alle
Züge in einem großen Schriftsteller durch seine Zeit und seine Studien be¬
stimmt würden; daher nahm er nicht das dichterische Werk, sondern die Indivi¬
dualität des Verfassers zum Ausgangspunkte seiner kritischen Untersuchung.
Ein Kunstwerk kann man wohl als solches ohne Rücksicht auf den Ursprung
genießen; allein richtig zu beurteilen vermag man es erst dann, wenn mau
das ganze Wesen des Künstlers kennt, seinen Lebensgang, seinen Charakter,
seine Gewohnheiten, seinen moralischen Zustand. Es genügt nicht, den Schrift¬
steller in seinen Werken zu studiren, mau muß ihn in seinein eignen Lande
kennen lernen, in seiner Abstammung und Verwandtschaft, in seinen Zeit¬
genossen, seinen Anhängern und Gegnern. Bei jedem Geiste, den Sainte-
Beuve beurteilen wollte, legte er sich außerdem folgende Fragen vor: Was
hielt er von der Religion? Wie wirkte auf ihn der Anblick der Natur? Wie
verhielt er sich zu den Frauen? Zur Geldfrage? War er reich? War er
arm? Wie war seine Diät? Wie war seine tägliche Lebensweise? Endlich,
welches war sein Laster und seine Schwäche? denn jeder Mensch hat eine
Schwäche. So wurden die biographischen Einzelheiten die Grundsteine seiner
Kritik. Aber er ging noch weiter. Wo man bis dahin in der geistigen und
sittlichen Welt nur Zufall, Laune und Widerspruch gefunden hatte, da suchte
Sainte-Beuve Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Übereinstimmung aufzustellen.

Im Pflanzen- und Tierreich werden ans den Individuen Klassen,
Familien, Geschlechter gebildet. Dem entsprechend wollte er auch die Geister
eklektisch zusammenfassen und gruppiren. Zwar trat ihm bei dieser Arbeit die
menschliche Willensfreiheit oft störend entgegen, aber er hoffte, daß die Wissen¬
schaft auch in dieses dunkle, scheinbar gesetzlose Reich eindringen und feste
Grundsätze liefern würde. IVIioinnrs rnsrg.1 sse xws oomxlsxs, sagt er, it »


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[0154] littsraturs tavils. Er hatte sich durch ein gewissenhaftes Studium der klassischen Schöpfungen auf Grund spiritnalistischer Philosophie ein Ideal von dem franzö¬ sischen Genius geschaffen, an dem er in einseitiger Weise alle Erscheinungen der Litteratur maß und würdigte. Für ihn war lediglich das poetische Werk der Ausgangspunkt der kritischen Betrachtung; der geschichtliche Hintergrund und die Persönlichkeit des Schriftstellers kamen dabei wenig oder gar nicht zur Geltung. Seine systematische Vernarrtheit in den S8xrit trimeMs machte seine Mstoirs Ah 1a littsrawrs ÜANHMso parteiisch, unvollständig und wissen¬ schaftlich wertlos. Der ssxrit ist sein Dogma, und wer sich dagegen versündigt, wird in Acht und Baun gethan. Trotzdem gilt Nisards Litteratur¬ geschichte noch bei vielen Geistern in Frankreich als klassisch: 0's8t un livrs pig-ssicius sntrs ton« se cis-us 1l>. xlsins !«zoextion 6ri mot, ez'oft-a-clirs inoäsls, W inoclsls als oritiqus se as sey^is, un ers8or Ah M^sinsirts sg.ins se. tortsinsut motivss, xlus snsors, an vsrita,b1<z se iminortsl inonumsnt. Ans Seiten der romantische» Schale stand in den dreißiger Jahren Sainte- Beuve. Er hatte sich Villemains Grundanschauung zu eigen gemacht, daß alle Züge in einem großen Schriftsteller durch seine Zeit und seine Studien be¬ stimmt würden; daher nahm er nicht das dichterische Werk, sondern die Indivi¬ dualität des Verfassers zum Ausgangspunkte seiner kritischen Untersuchung. Ein Kunstwerk kann man wohl als solches ohne Rücksicht auf den Ursprung genießen; allein richtig zu beurteilen vermag man es erst dann, wenn mau das ganze Wesen des Künstlers kennt, seinen Lebensgang, seinen Charakter, seine Gewohnheiten, seinen moralischen Zustand. Es genügt nicht, den Schrift¬ steller in seinen Werken zu studiren, mau muß ihn in seinein eignen Lande kennen lernen, in seiner Abstammung und Verwandtschaft, in seinen Zeit¬ genossen, seinen Anhängern und Gegnern. Bei jedem Geiste, den Sainte- Beuve beurteilen wollte, legte er sich außerdem folgende Fragen vor: Was hielt er von der Religion? Wie wirkte auf ihn der Anblick der Natur? Wie verhielt er sich zu den Frauen? Zur Geldfrage? War er reich? War er arm? Wie war seine Diät? Wie war seine tägliche Lebensweise? Endlich, welches war sein Laster und seine Schwäche? denn jeder Mensch hat eine Schwäche. So wurden die biographischen Einzelheiten die Grundsteine seiner Kritik. Aber er ging noch weiter. Wo man bis dahin in der geistigen und sittlichen Welt nur Zufall, Laune und Widerspruch gefunden hatte, da suchte Sainte-Beuve Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Übereinstimmung aufzustellen. Im Pflanzen- und Tierreich werden ans den Individuen Klassen, Familien, Geschlechter gebildet. Dem entsprechend wollte er auch die Geister eklektisch zusammenfassen und gruppiren. Zwar trat ihm bei dieser Arbeit die menschliche Willensfreiheit oft störend entgegen, aber er hoffte, daß die Wissen¬ schaft auch in dieses dunkle, scheinbar gesetzlose Reich eindringen und feste Grundsätze liefern würde. IVIioinnrs rnsrg.1 sse xws oomxlsxs, sagt er, it »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/154>, abgerufen am 29.06.2024.