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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

Stadt möglich ist, so gehört sie in den Kreis der Soziallvisseltschaften, die
poetische Litteratur kann aus ihr schöpfen und von ihr lernen, sowie umgekehrt
diese pathologische Anatomie ans deu lebendige" Schöpfungen der Dichtung
schöpfen und lernen müßte, aber niemals kann die Aufgabe der poetischen
Litteratur dahin begrenzt werden, die Krankheitsprozesse innerhalb der mensch¬
lichen Natur und Kultur darzustellen. In Wahrheit drückt mau mit einer
Aufgabe wie der bezeichnete" die Dichtung tief uuter die Wissenschaft. Denn
die pathologische Anatomie als Wissenschaft stützt sich durchaus auf die Kenntnis
des normalen gesunden Körpers. Der modernen poetische"? Litteratur aber wird
kaltblütig zugemutet, von der Gesundheit, der Schönheit, der nugeörochenen
Kraft des Lebens, vo" der Zuversicht des Glaubens und den siegende" idealen
Kräfte" in der menschlichen Natur, von der Gesundheit überhaupt, nichts meh^
zu wissen. Es giebt und kann keine Experimentalpoesie gebe", weil die
dichterische Begabung an der Fülle der Erscheinungen an sich Anteil nehmen
muß, weil sie sich mit der Erkenntnis eines wenn auch noch so interessanten
Gesetzes in abstoßende", widerwärtigen Erscheimmge" nicht befriedigen kann.

Für die Hereinziehung naturwissenschaftlicher, physiologischer und Psycho¬
logischer Kenntnisse in der poetischen Darstellung gilt offenbar die gleiche
Schranke wie für die Verwertung historischer, archäologischer und ethnogra¬
phischer Kenntnisse in der poetischen Litteratur. Niemand kann dem Dichter
im voraus vorschreiben, wie viel oder wie wenig er davon in seinem Gebilde
verwenden dürfe. In den? Maße aber, wie diese Kenntnisse eine selbständige
Rolle spielen und statt in Fleisch und Blut wirklicher Lebensdarstellung über¬
gegangen zu sein, zum theatralischen Aufputz dienen, i" dem Maße, wie sie
statt die Gestaltung zu unterstützen, lebloses Kostüm und anspruchsvolle Deko¬
ration werden, erscheinen sie als das überflüssigste und störendste von der Welt,
und der einfachste Hörer oder Leser entschlage sich des Gedankens nicht, daß die
eigentliche Auschanungs- und Gestaltungskraft, die bewußte Goethische "Kenntnis
mannichfaltiger menschlicher Zustände durch Antizipation" schwach ""d dürftig
sei, und durch wissenschnftlicheu Prunk verdeckt werden folle. Komischerweise
ist niemand eifriger darauf ausgewesen, den naiven Glauben des Bildnngs-
philisters an Bedeutung und Wirkung geschichtlicher und verwandter Elemente
in der Poesie von Grund aus zu zerstören, als dieselbe "Schule," die nicht
genug naturwissenschaftliche oder, ehrlicher gesagt, pathologische Episoden in die
moderne Lebensdarstellung hineinziehen kann und die Echtheit des Nnturstudiums
eines Dichters lediglich an dem größeren oder geringeren Übergewicht der
Krankheitsschilderungen bei ihm mißt. Sie gefüllt sich in einer Herabsetzung des
Wertes historischer Zustände und Charaktere für die Dichtung, bei der nicht nur die
Leistungen der neuesten archäologischen Erzählungskunst oder vielmehr Uulümt.
sondern auch Shakespeares chronikalische Dramen, Goethes "Götz" und Schillers
"Fiesko," Walter Scotts Romane und Scheffels "Ekkehard" in nichts sinken.


Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft

Stadt möglich ist, so gehört sie in den Kreis der Soziallvisseltschaften, die
poetische Litteratur kann aus ihr schöpfen und von ihr lernen, sowie umgekehrt
diese pathologische Anatomie ans deu lebendige» Schöpfungen der Dichtung
schöpfen und lernen müßte, aber niemals kann die Aufgabe der poetischen
Litteratur dahin begrenzt werden, die Krankheitsprozesse innerhalb der mensch¬
lichen Natur und Kultur darzustellen. In Wahrheit drückt mau mit einer
Aufgabe wie der bezeichnete» die Dichtung tief uuter die Wissenschaft. Denn
die pathologische Anatomie als Wissenschaft stützt sich durchaus auf die Kenntnis
des normalen gesunden Körpers. Der modernen poetische«? Litteratur aber wird
kaltblütig zugemutet, von der Gesundheit, der Schönheit, der nugeörochenen
Kraft des Lebens, vo» der Zuversicht des Glaubens und den siegende» idealen
Kräfte» in der menschlichen Natur, von der Gesundheit überhaupt, nichts meh^
zu wissen. Es giebt und kann keine Experimentalpoesie gebe», weil die
dichterische Begabung an der Fülle der Erscheinungen an sich Anteil nehmen
muß, weil sie sich mit der Erkenntnis eines wenn auch noch so interessanten
Gesetzes in abstoßende», widerwärtigen Erscheimmge» nicht befriedigen kann.

Für die Hereinziehung naturwissenschaftlicher, physiologischer und Psycho¬
logischer Kenntnisse in der poetischen Darstellung gilt offenbar die gleiche
Schranke wie für die Verwertung historischer, archäologischer und ethnogra¬
phischer Kenntnisse in der poetischen Litteratur. Niemand kann dem Dichter
im voraus vorschreiben, wie viel oder wie wenig er davon in seinem Gebilde
verwenden dürfe. In den? Maße aber, wie diese Kenntnisse eine selbständige
Rolle spielen und statt in Fleisch und Blut wirklicher Lebensdarstellung über¬
gegangen zu sein, zum theatralischen Aufputz dienen, i» dem Maße, wie sie
statt die Gestaltung zu unterstützen, lebloses Kostüm und anspruchsvolle Deko¬
ration werden, erscheinen sie als das überflüssigste und störendste von der Welt,
und der einfachste Hörer oder Leser entschlage sich des Gedankens nicht, daß die
eigentliche Auschanungs- und Gestaltungskraft, die bewußte Goethische „Kenntnis
mannichfaltiger menschlicher Zustände durch Antizipation" schwach »»d dürftig
sei, und durch wissenschnftlicheu Prunk verdeckt werden folle. Komischerweise
ist niemand eifriger darauf ausgewesen, den naiven Glauben des Bildnngs-
philisters an Bedeutung und Wirkung geschichtlicher und verwandter Elemente
in der Poesie von Grund aus zu zerstören, als dieselbe „Schule," die nicht
genug naturwissenschaftliche oder, ehrlicher gesagt, pathologische Episoden in die
moderne Lebensdarstellung hineinziehen kann und die Echtheit des Nnturstudiums
eines Dichters lediglich an dem größeren oder geringeren Übergewicht der
Krankheitsschilderungen bei ihm mißt. Sie gefüllt sich in einer Herabsetzung des
Wertes historischer Zustände und Charaktere für die Dichtung, bei der nicht nur die
Leistungen der neuesten archäologischen Erzählungskunst oder vielmehr Uulümt.
sondern auch Shakespeares chronikalische Dramen, Goethes „Götz" und Schillers
„Fiesko," Walter Scotts Romane und Scheffels „Ekkehard" in nichts sinken.


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[0146] Die Grenzen zwischen Dichtung und Wissenschaft Stadt möglich ist, so gehört sie in den Kreis der Soziallvisseltschaften, die poetische Litteratur kann aus ihr schöpfen und von ihr lernen, sowie umgekehrt diese pathologische Anatomie ans deu lebendige» Schöpfungen der Dichtung schöpfen und lernen müßte, aber niemals kann die Aufgabe der poetischen Litteratur dahin begrenzt werden, die Krankheitsprozesse innerhalb der mensch¬ lichen Natur und Kultur darzustellen. In Wahrheit drückt mau mit einer Aufgabe wie der bezeichnete» die Dichtung tief uuter die Wissenschaft. Denn die pathologische Anatomie als Wissenschaft stützt sich durchaus auf die Kenntnis des normalen gesunden Körpers. Der modernen poetische«? Litteratur aber wird kaltblütig zugemutet, von der Gesundheit, der Schönheit, der nugeörochenen Kraft des Lebens, vo» der Zuversicht des Glaubens und den siegende» idealen Kräfte» in der menschlichen Natur, von der Gesundheit überhaupt, nichts meh^ zu wissen. Es giebt und kann keine Experimentalpoesie gebe», weil die dichterische Begabung an der Fülle der Erscheinungen an sich Anteil nehmen muß, weil sie sich mit der Erkenntnis eines wenn auch noch so interessanten Gesetzes in abstoßende», widerwärtigen Erscheimmge» nicht befriedigen kann. Für die Hereinziehung naturwissenschaftlicher, physiologischer und Psycho¬ logischer Kenntnisse in der poetischen Darstellung gilt offenbar die gleiche Schranke wie für die Verwertung historischer, archäologischer und ethnogra¬ phischer Kenntnisse in der poetischen Litteratur. Niemand kann dem Dichter im voraus vorschreiben, wie viel oder wie wenig er davon in seinem Gebilde verwenden dürfe. In den? Maße aber, wie diese Kenntnisse eine selbständige Rolle spielen und statt in Fleisch und Blut wirklicher Lebensdarstellung über¬ gegangen zu sein, zum theatralischen Aufputz dienen, i» dem Maße, wie sie statt die Gestaltung zu unterstützen, lebloses Kostüm und anspruchsvolle Deko¬ ration werden, erscheinen sie als das überflüssigste und störendste von der Welt, und der einfachste Hörer oder Leser entschlage sich des Gedankens nicht, daß die eigentliche Auschanungs- und Gestaltungskraft, die bewußte Goethische „Kenntnis mannichfaltiger menschlicher Zustände durch Antizipation" schwach »»d dürftig sei, und durch wissenschnftlicheu Prunk verdeckt werden folle. Komischerweise ist niemand eifriger darauf ausgewesen, den naiven Glauben des Bildnngs- philisters an Bedeutung und Wirkung geschichtlicher und verwandter Elemente in der Poesie von Grund aus zu zerstören, als dieselbe „Schule," die nicht genug naturwissenschaftliche oder, ehrlicher gesagt, pathologische Episoden in die moderne Lebensdarstellung hineinziehen kann und die Echtheit des Nnturstudiums eines Dichters lediglich an dem größeren oder geringeren Übergewicht der Krankheitsschilderungen bei ihm mißt. Sie gefüllt sich in einer Herabsetzung des Wertes historischer Zustände und Charaktere für die Dichtung, bei der nicht nur die Leistungen der neuesten archäologischen Erzählungskunst oder vielmehr Uulümt. sondern auch Shakespeares chronikalische Dramen, Goethes „Götz" und Schillers „Fiesko," Walter Scotts Romane und Scheffels „Ekkehard" in nichts sinken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/146>, abgerufen am 28.09.2024.