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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen zwischen Äichinng und Wissenschaft

Mag sein, antwortete Goethe, allein hätte ich nicht die Welt durch Antizipation
bereits in nur getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle
Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen, als ein ganz totes, vergeb¬
liches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen
wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer
uns dergleichen nicht wahrnehmen."

Einfacher und zugleich stärker und deutlicher kann das Verhältnis des
Naturstudiums, jeder wissenschaftlichen Einsicht und Erkenntnis zum angeborenen
Poetischen Talent, der Voraussetzung alles wirklichen Schaffens, nicht ausgedrückt
werdeu, als in dieser Goethe-Eckermannschen Unterredung. Das schöpferische
Talent, die autizipireude gestaltende Phantasie, die nach Maßgabe ihrer Kraft
sich ein Stück oder einen Teil der Welt und im höchsten Falle die Welt selbst
aneignet, der alle Beobachtung, alle Erfahrung und aller Erwerb von Kenntnissen
nur dienen müssen, bleibt die erste Bedingung aller dichterische,? Thätigkeit, und
daß eine Schule moderner Kritik solche Thätigkeit ohne jene erste Voraussetzung
überhaupt für möglich hält, ist bereits eine Verirrung. Es ist nicht zu ermessen,
wie weit hierbei eine Selbsttäuschung unterläuft; Zola z. B., der unablässig
von Analyse spricht und gar nicht ahnt, wie sehr alle seine Naturbeobachtungen,
seine Vergleichungen und Lokalstudicu unter der Herrschaft einer düster
gefärbten, vom Ekel an der Welt erfüllten Phantasie stehen, scheint in der
That den klapperdürren Beschreibungen, die er macht, stärkeres Gewicht
beizulegen, als der leidenschaftlichen Empfindung, mit der er sie in Fluß und
Bewegung bringt, und Dostojewski) schreibt seiner logischen Psychologie Wirkungen
zu, die einfach aus seinem starken Mitgefühl für menschliches Elend erwachsen.
Gewiß aber ist, das; die Phrasen von dem strengen Naturstudium, von dem be¬
rechtigten Übergewicht der "vergleichenden Erfahrung," von der "wissenschaftlichen
Probehaltigkeit" moderner Litteratur in der Luft schwirren, und daß man den
Glauben zu verbreiten trachtet, als hätte" die großen Dichter vergangner
Zeiten, Shakespeare (der dann natürlich nicht "Bacon" sein kann) und
Goethe eingeschlossen, ohne Ahnung von der Tiefe der Natur und ohne
Kenntnis ewiger Gesetze des Lebeus und der menschlichen Entwicklung rein
willkürlich phantasirt. Dem gegenüber ist es Pflicht, immer zu wiederholen,
daß kein echter Dichter, so groß anch seine Phantasie und Gestaltungskraft sei,
die Erfahrung und die Kenntnis der äußern Welt verschmäht, daß er nach
Maßgabe seines Talents, seiner besondern Richtung sich jederzeit die ganze Rreite
der dein Dichter notwendigen Erfahrung verschafft, daß er für die lebendige
Darstellung einer poetischen Idee und Handlung keine Anstrengung und kein
Studium scheut, daß aber der echte Dichter es ebensowenig als Aufgabe der
Dichtung betrachtet, ausgeführte Beispiele für pathologische Erkenntnisse, für
Physiologische Sätze herzustellen. Wenn eine pathologische Anatomie der mensch¬
lichen Gesellschaft oder auch nur der Gesellschaft eines Landes oder einer


Grenzboten I 1889 18
Die Grenzen zwischen Äichinng und Wissenschaft

Mag sein, antwortete Goethe, allein hätte ich nicht die Welt durch Antizipation
bereits in nur getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle
Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen, als ein ganz totes, vergeb¬
liches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen
wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer
uns dergleichen nicht wahrnehmen."

Einfacher und zugleich stärker und deutlicher kann das Verhältnis des
Naturstudiums, jeder wissenschaftlichen Einsicht und Erkenntnis zum angeborenen
Poetischen Talent, der Voraussetzung alles wirklichen Schaffens, nicht ausgedrückt
werdeu, als in dieser Goethe-Eckermannschen Unterredung. Das schöpferische
Talent, die autizipireude gestaltende Phantasie, die nach Maßgabe ihrer Kraft
sich ein Stück oder einen Teil der Welt und im höchsten Falle die Welt selbst
aneignet, der alle Beobachtung, alle Erfahrung und aller Erwerb von Kenntnissen
nur dienen müssen, bleibt die erste Bedingung aller dichterische,? Thätigkeit, und
daß eine Schule moderner Kritik solche Thätigkeit ohne jene erste Voraussetzung
überhaupt für möglich hält, ist bereits eine Verirrung. Es ist nicht zu ermessen,
wie weit hierbei eine Selbsttäuschung unterläuft; Zola z. B., der unablässig
von Analyse spricht und gar nicht ahnt, wie sehr alle seine Naturbeobachtungen,
seine Vergleichungen und Lokalstudicu unter der Herrschaft einer düster
gefärbten, vom Ekel an der Welt erfüllten Phantasie stehen, scheint in der
That den klapperdürren Beschreibungen, die er macht, stärkeres Gewicht
beizulegen, als der leidenschaftlichen Empfindung, mit der er sie in Fluß und
Bewegung bringt, und Dostojewski) schreibt seiner logischen Psychologie Wirkungen
zu, die einfach aus seinem starken Mitgefühl für menschliches Elend erwachsen.
Gewiß aber ist, das; die Phrasen von dem strengen Naturstudium, von dem be¬
rechtigten Übergewicht der „vergleichenden Erfahrung," von der „wissenschaftlichen
Probehaltigkeit" moderner Litteratur in der Luft schwirren, und daß man den
Glauben zu verbreiten trachtet, als hätte« die großen Dichter vergangner
Zeiten, Shakespeare (der dann natürlich nicht „Bacon" sein kann) und
Goethe eingeschlossen, ohne Ahnung von der Tiefe der Natur und ohne
Kenntnis ewiger Gesetze des Lebeus und der menschlichen Entwicklung rein
willkürlich phantasirt. Dem gegenüber ist es Pflicht, immer zu wiederholen,
daß kein echter Dichter, so groß anch seine Phantasie und Gestaltungskraft sei,
die Erfahrung und die Kenntnis der äußern Welt verschmäht, daß er nach
Maßgabe seines Talents, seiner besondern Richtung sich jederzeit die ganze Rreite
der dein Dichter notwendigen Erfahrung verschafft, daß er für die lebendige
Darstellung einer poetischen Idee und Handlung keine Anstrengung und kein
Studium scheut, daß aber der echte Dichter es ebensowenig als Aufgabe der
Dichtung betrachtet, ausgeführte Beispiele für pathologische Erkenntnisse, für
Physiologische Sätze herzustellen. Wenn eine pathologische Anatomie der mensch¬
lichen Gesellschaft oder auch nur der Gesellschaft eines Landes oder einer


Grenzboten I 1889 18
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[0145] Die Grenzen zwischen Äichinng und Wissenschaft Mag sein, antwortete Goethe, allein hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in nur getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen, als ein ganz totes, vergeb¬ liches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen." Einfacher und zugleich stärker und deutlicher kann das Verhältnis des Naturstudiums, jeder wissenschaftlichen Einsicht und Erkenntnis zum angeborenen Poetischen Talent, der Voraussetzung alles wirklichen Schaffens, nicht ausgedrückt werdeu, als in dieser Goethe-Eckermannschen Unterredung. Das schöpferische Talent, die autizipireude gestaltende Phantasie, die nach Maßgabe ihrer Kraft sich ein Stück oder einen Teil der Welt und im höchsten Falle die Welt selbst aneignet, der alle Beobachtung, alle Erfahrung und aller Erwerb von Kenntnissen nur dienen müssen, bleibt die erste Bedingung aller dichterische,? Thätigkeit, und daß eine Schule moderner Kritik solche Thätigkeit ohne jene erste Voraussetzung überhaupt für möglich hält, ist bereits eine Verirrung. Es ist nicht zu ermessen, wie weit hierbei eine Selbsttäuschung unterläuft; Zola z. B., der unablässig von Analyse spricht und gar nicht ahnt, wie sehr alle seine Naturbeobachtungen, seine Vergleichungen und Lokalstudicu unter der Herrschaft einer düster gefärbten, vom Ekel an der Welt erfüllten Phantasie stehen, scheint in der That den klapperdürren Beschreibungen, die er macht, stärkeres Gewicht beizulegen, als der leidenschaftlichen Empfindung, mit der er sie in Fluß und Bewegung bringt, und Dostojewski) schreibt seiner logischen Psychologie Wirkungen zu, die einfach aus seinem starken Mitgefühl für menschliches Elend erwachsen. Gewiß aber ist, das; die Phrasen von dem strengen Naturstudium, von dem be¬ rechtigten Übergewicht der „vergleichenden Erfahrung," von der „wissenschaftlichen Probehaltigkeit" moderner Litteratur in der Luft schwirren, und daß man den Glauben zu verbreiten trachtet, als hätte« die großen Dichter vergangner Zeiten, Shakespeare (der dann natürlich nicht „Bacon" sein kann) und Goethe eingeschlossen, ohne Ahnung von der Tiefe der Natur und ohne Kenntnis ewiger Gesetze des Lebeus und der menschlichen Entwicklung rein willkürlich phantasirt. Dem gegenüber ist es Pflicht, immer zu wiederholen, daß kein echter Dichter, so groß anch seine Phantasie und Gestaltungskraft sei, die Erfahrung und die Kenntnis der äußern Welt verschmäht, daß er nach Maßgabe seines Talents, seiner besondern Richtung sich jederzeit die ganze Rreite der dein Dichter notwendigen Erfahrung verschafft, daß er für die lebendige Darstellung einer poetischen Idee und Handlung keine Anstrengung und kein Studium scheut, daß aber der echte Dichter es ebensowenig als Aufgabe der Dichtung betrachtet, ausgeführte Beispiele für pathologische Erkenntnisse, für Physiologische Sätze herzustellen. Wenn eine pathologische Anatomie der mensch¬ lichen Gesellschaft oder auch nur der Gesellschaft eines Landes oder einer Grenzboten I 1889 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/145>, abgerufen am 26.06.2024.