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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die ZVahlbewegung in Preußen.

gemeinsame öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, die Möglichkeit geboten
werden, auch bei Widerspruch der Beteiligten statutarisch gemeinsame Einrichtungen
ins Leben zu rufen." Mit besondrer Spannung erwarteten wir die Auslassungen
der konservativen Partei in Bezug auf die Volksschule und die Macht der Kirche.
Der Aufruf sagt in diesen Beziehungen: "Die konservative Partei tritt im
Interesse der religiös-sittlichen Jugenderziehung und im Anschlusse an die ge¬
schichtliche Entwicklung für die konfessionelle Volksschule ein, sie kann aber zu
einer gesetzlichen Regelung des Verhältnisses der Kirche zur Schule, wie sie
der Antrag der Zentrumspartei fordert, die Hand nicht bieten. Das Verlangen
der evangelischen Kirche nach einer Dotation halten wir, wiederholten Zusagen
entsprechend, für ein gerechtes. Ebenso glauben wir, daß der Staat in der
Lage ist, solche Wünsche der evangelischen Kirche nach freier Bewegung zu
erfüllen, welche durch deren geordnete Organe ausgesprochen worden und ein
Zusammenwirken von Staat und Kirche zu fördern geeignet sind." Das
deutschkonservative Wahlprogramm ist also gemäßigter, als viele erwartet habe"
werden, und keineswegs von der Art, daß es nicht zur Partei gehörige Wähler
abschrecken müßte, dem konservativen Kandidaten seines Wahlkreises, wenn die
eigne Partei keine Aussichten hat, seine Stimme zu geben. Überdies soll es
den nationalliberalen Wählern in einzelnen Bezirken auch sonst erleichtert werden,
für den konservativen Bewerber um das Mandat zu wirken.

Was die Aussichten der Partei betrifft, so scheinen sie in den östlichen
Provinzen gut zu sein. Doch wird ein kleiner Ausfall von Stimmen, der hie
und da von Wichtigkeit werden kann, wahrscheinlich eintreten, wenn die Ber¬
liner Börsen-Zeitung mit der Nachricht Recht hat, daß die Berliner Leitung der
antisemitischen Partei beschlossen habe, ihren Mitgliedern in den verschiedenen
Wahlkreisen zu empfehlen, sich bei den Abgeordnetenwahlen der Abstimmung
zu enthalten. Das Blatt will die Sache " aus einer in diesen Angelegenheiten
stets aufs beste unterrichteten Quelle" haben, giebt aber keinen Grund für
diesen Beschluß an, und auch wir vermögen uns ihn nicht zu erklären. Nehmen
wir die Nachricht aber als Thatsache an, so hätte sie immerhin einige Be¬
deutung, wenigstens für die großen Städte. Mögen die Antisemiten, wenn sie
als selbständige Partei auftreten und ihre eignen Kandidaten aufstellen, keinen
sehr imponirenden Eindruck machen, so können sie da, wo sie sich einer andern
Partei anschließen, deren Wählerzahl bedeutend verstärken, ja ihr unter Um¬
ständen zum Siege verhelfen. Im sechsten Berliner Wahlkreise z. B. gaben sie über
4000 Stimmen ab, mehr als die hier allerdings schwachen Kartellparteien
zusammengenommen, die, wenn die Antisemiten mit ihnen gestimmt hätten,
wenigstens stärker gewesen wären als die Deutschfreisinnigen. Bei den vorher¬
gehenden Wahlen standen nun die Antisemiten immer auf der Seite der Kon¬
servativen, und es darf vermutet werden, daß deren Kandidaten in einigen
Fällen ihren Erfolg ihnen zu verdanken hatten, und so wäre es hier, wenn sie


Die ZVahlbewegung in Preußen.

gemeinsame öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, die Möglichkeit geboten
werden, auch bei Widerspruch der Beteiligten statutarisch gemeinsame Einrichtungen
ins Leben zu rufen." Mit besondrer Spannung erwarteten wir die Auslassungen
der konservativen Partei in Bezug auf die Volksschule und die Macht der Kirche.
Der Aufruf sagt in diesen Beziehungen: „Die konservative Partei tritt im
Interesse der religiös-sittlichen Jugenderziehung und im Anschlusse an die ge¬
schichtliche Entwicklung für die konfessionelle Volksschule ein, sie kann aber zu
einer gesetzlichen Regelung des Verhältnisses der Kirche zur Schule, wie sie
der Antrag der Zentrumspartei fordert, die Hand nicht bieten. Das Verlangen
der evangelischen Kirche nach einer Dotation halten wir, wiederholten Zusagen
entsprechend, für ein gerechtes. Ebenso glauben wir, daß der Staat in der
Lage ist, solche Wünsche der evangelischen Kirche nach freier Bewegung zu
erfüllen, welche durch deren geordnete Organe ausgesprochen worden und ein
Zusammenwirken von Staat und Kirche zu fördern geeignet sind." Das
deutschkonservative Wahlprogramm ist also gemäßigter, als viele erwartet habe»
werden, und keineswegs von der Art, daß es nicht zur Partei gehörige Wähler
abschrecken müßte, dem konservativen Kandidaten seines Wahlkreises, wenn die
eigne Partei keine Aussichten hat, seine Stimme zu geben. Überdies soll es
den nationalliberalen Wählern in einzelnen Bezirken auch sonst erleichtert werden,
für den konservativen Bewerber um das Mandat zu wirken.

Was die Aussichten der Partei betrifft, so scheinen sie in den östlichen
Provinzen gut zu sein. Doch wird ein kleiner Ausfall von Stimmen, der hie
und da von Wichtigkeit werden kann, wahrscheinlich eintreten, wenn die Ber¬
liner Börsen-Zeitung mit der Nachricht Recht hat, daß die Berliner Leitung der
antisemitischen Partei beschlossen habe, ihren Mitgliedern in den verschiedenen
Wahlkreisen zu empfehlen, sich bei den Abgeordnetenwahlen der Abstimmung
zu enthalten. Das Blatt will die Sache „ aus einer in diesen Angelegenheiten
stets aufs beste unterrichteten Quelle" haben, giebt aber keinen Grund für
diesen Beschluß an, und auch wir vermögen uns ihn nicht zu erklären. Nehmen
wir die Nachricht aber als Thatsache an, so hätte sie immerhin einige Be¬
deutung, wenigstens für die großen Städte. Mögen die Antisemiten, wenn sie
als selbständige Partei auftreten und ihre eignen Kandidaten aufstellen, keinen
sehr imponirenden Eindruck machen, so können sie da, wo sie sich einer andern
Partei anschließen, deren Wählerzahl bedeutend verstärken, ja ihr unter Um¬
ständen zum Siege verhelfen. Im sechsten Berliner Wahlkreise z. B. gaben sie über
4000 Stimmen ab, mehr als die hier allerdings schwachen Kartellparteien
zusammengenommen, die, wenn die Antisemiten mit ihnen gestimmt hätten,
wenigstens stärker gewesen wären als die Deutschfreisinnigen. Bei den vorher¬
gehenden Wahlen standen nun die Antisemiten immer auf der Seite der Kon¬
servativen, und es darf vermutet werden, daß deren Kandidaten in einigen
Fällen ihren Erfolg ihnen zu verdanken hatten, und so wäre es hier, wenn sie


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[0624] Die ZVahlbewegung in Preußen. gemeinsame öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, die Möglichkeit geboten werden, auch bei Widerspruch der Beteiligten statutarisch gemeinsame Einrichtungen ins Leben zu rufen." Mit besondrer Spannung erwarteten wir die Auslassungen der konservativen Partei in Bezug auf die Volksschule und die Macht der Kirche. Der Aufruf sagt in diesen Beziehungen: „Die konservative Partei tritt im Interesse der religiös-sittlichen Jugenderziehung und im Anschlusse an die ge¬ schichtliche Entwicklung für die konfessionelle Volksschule ein, sie kann aber zu einer gesetzlichen Regelung des Verhältnisses der Kirche zur Schule, wie sie der Antrag der Zentrumspartei fordert, die Hand nicht bieten. Das Verlangen der evangelischen Kirche nach einer Dotation halten wir, wiederholten Zusagen entsprechend, für ein gerechtes. Ebenso glauben wir, daß der Staat in der Lage ist, solche Wünsche der evangelischen Kirche nach freier Bewegung zu erfüllen, welche durch deren geordnete Organe ausgesprochen worden und ein Zusammenwirken von Staat und Kirche zu fördern geeignet sind." Das deutschkonservative Wahlprogramm ist also gemäßigter, als viele erwartet habe» werden, und keineswegs von der Art, daß es nicht zur Partei gehörige Wähler abschrecken müßte, dem konservativen Kandidaten seines Wahlkreises, wenn die eigne Partei keine Aussichten hat, seine Stimme zu geben. Überdies soll es den nationalliberalen Wählern in einzelnen Bezirken auch sonst erleichtert werden, für den konservativen Bewerber um das Mandat zu wirken. Was die Aussichten der Partei betrifft, so scheinen sie in den östlichen Provinzen gut zu sein. Doch wird ein kleiner Ausfall von Stimmen, der hie und da von Wichtigkeit werden kann, wahrscheinlich eintreten, wenn die Ber¬ liner Börsen-Zeitung mit der Nachricht Recht hat, daß die Berliner Leitung der antisemitischen Partei beschlossen habe, ihren Mitgliedern in den verschiedenen Wahlkreisen zu empfehlen, sich bei den Abgeordnetenwahlen der Abstimmung zu enthalten. Das Blatt will die Sache „ aus einer in diesen Angelegenheiten stets aufs beste unterrichteten Quelle" haben, giebt aber keinen Grund für diesen Beschluß an, und auch wir vermögen uns ihn nicht zu erklären. Nehmen wir die Nachricht aber als Thatsache an, so hätte sie immerhin einige Be¬ deutung, wenigstens für die großen Städte. Mögen die Antisemiten, wenn sie als selbständige Partei auftreten und ihre eignen Kandidaten aufstellen, keinen sehr imponirenden Eindruck machen, so können sie da, wo sie sich einer andern Partei anschließen, deren Wählerzahl bedeutend verstärken, ja ihr unter Um¬ ständen zum Siege verhelfen. Im sechsten Berliner Wahlkreise z. B. gaben sie über 4000 Stimmen ab, mehr als die hier allerdings schwachen Kartellparteien zusammengenommen, die, wenn die Antisemiten mit ihnen gestimmt hätten, wenigstens stärker gewesen wären als die Deutschfreisinnigen. Bei den vorher¬ gehenden Wahlen standen nun die Antisemiten immer auf der Seite der Kon¬ servativen, und es darf vermutet werden, daß deren Kandidaten in einigen Fällen ihren Erfolg ihnen zu verdanken hatten, und so wäre es hier, wenn sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/624>, abgerufen am 22.07.2024.