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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Der Pfarrer ging. Am Vormittage kehrte er zurück und bereitete sie zum
Tode vor.

Die Kräfte nahmen, seltsam auflodernd, schnell ab, aber noch in der Däm¬
merung, als Ricks sie zum letzten mal in seine Arme schloß, um Abschied von
ihr zu nehmen, ehe die Schatten des Todes sich gar zu tief gelagert hatten,
war sie bei vollem Bewußtsein. Aber die Liebe, die das höchste Glück seines
Lebens gewesen war, war in ihrem Blick erloschen, sie war nicht mehr die
Seine, schon jetzt nicht mehr, die Schwingen hatten bereits angefangen zu
wachsen, sie sehnte sich nur nach ihrem Gott.

Um Mitternacht starb sie.

Es waren schwere Zeiten, die nun folgten. Die Zeit schwoll zu etwas
Ungeheuern, Feindlichem an; jeder Tag war eine unendliche Wüste von In¬
haltslosigkeit, jede Nacht eine Hölle von Erinnerungen. Erst nach Monaten,
als der Sommer zur Neige ging, hatte der schäumende, reißende Strom des
Kummers sich ein Flußbett in seiner Seele geschaffen, sodaß er dahinrinuen
konnte wie ein murmelnder, schwerwogender Strom des Entbehrens und der
Schwermut.

Da, eines Tages, als er vom Felde heimkehrte, fand er seinen kleinen
Knaben schwer erkrankt vor. Der Kleine hatte in den letzten Tagen ein wenig
gekränkelt und war in der vorhergehenden Nacht unruhig gewesen, niemand
hatte jedoch geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe; jetzt lag er fieberheiß
und sieberkalt in seinem kleinen Bette und stöhnte vor Schmerz.

Der Wagen wurde sofort nach Varde geschickt, um den Arzt zu holen,
aber keiner von den Ärzten war zu Hause, und er mußte viele Stunden warten.
Zur Schlafcngehenszeit war er noch nicht zurück.

Ricks saß am Lager des Knaben; jede halbe Stunde wenigstens sandte er
jemand hinaus, um zu lauschen und zu spähen, ob der Wagen noch nicht käme.
Ein reitender Bote wurde dem Wagen entgegen geschickt. Aber er begegnete
keinem Wagen und ritt bis nach Varde.

Dies Warten auf eine Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch un¬
erträglicher, Zeuge der Leiden des kranken Kindes zu sein. Und die Krankheit
machte reißende Fortschritte.

Bald nach ein Uhr kam der reitende Bote mit dem Bescheid zurück, daß
der Wagen fürs erste nicht zu erwarten sei, da, als er die Stadt verlassen hatte,
noch keiner der Ärzte nach Hause gekommen war.

Da brach Ricks zusammen. Er hatte, so lange noch ein Hoffnungsfunke
vorhanden gewesen war, mutig gegen die Verzweiflung angekämpft, jetzt konnte
er nicht länger. Er ging in die dunkle Stube, die "eben dem Krankenzimmer
lag, und starrte durch die dunkeln Fensterscheiben, während seine Nägel sich in
das Holz des Fensterrahmeus gruben; seine Augen fraßen sich gleichsam durch
das Dunkel hindurch nach Hoffnung, sein Hirn krümmte sich zum Sprunge,


Ricks Lyhne.

Der Pfarrer ging. Am Vormittage kehrte er zurück und bereitete sie zum
Tode vor.

Die Kräfte nahmen, seltsam auflodernd, schnell ab, aber noch in der Däm¬
merung, als Ricks sie zum letzten mal in seine Arme schloß, um Abschied von
ihr zu nehmen, ehe die Schatten des Todes sich gar zu tief gelagert hatten,
war sie bei vollem Bewußtsein. Aber die Liebe, die das höchste Glück seines
Lebens gewesen war, war in ihrem Blick erloschen, sie war nicht mehr die
Seine, schon jetzt nicht mehr, die Schwingen hatten bereits angefangen zu
wachsen, sie sehnte sich nur nach ihrem Gott.

Um Mitternacht starb sie.

Es waren schwere Zeiten, die nun folgten. Die Zeit schwoll zu etwas
Ungeheuern, Feindlichem an; jeder Tag war eine unendliche Wüste von In¬
haltslosigkeit, jede Nacht eine Hölle von Erinnerungen. Erst nach Monaten,
als der Sommer zur Neige ging, hatte der schäumende, reißende Strom des
Kummers sich ein Flußbett in seiner Seele geschaffen, sodaß er dahinrinuen
konnte wie ein murmelnder, schwerwogender Strom des Entbehrens und der
Schwermut.

Da, eines Tages, als er vom Felde heimkehrte, fand er seinen kleinen
Knaben schwer erkrankt vor. Der Kleine hatte in den letzten Tagen ein wenig
gekränkelt und war in der vorhergehenden Nacht unruhig gewesen, niemand
hatte jedoch geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe; jetzt lag er fieberheiß
und sieberkalt in seinem kleinen Bette und stöhnte vor Schmerz.

Der Wagen wurde sofort nach Varde geschickt, um den Arzt zu holen,
aber keiner von den Ärzten war zu Hause, und er mußte viele Stunden warten.
Zur Schlafcngehenszeit war er noch nicht zurück.

Ricks saß am Lager des Knaben; jede halbe Stunde wenigstens sandte er
jemand hinaus, um zu lauschen und zu spähen, ob der Wagen noch nicht käme.
Ein reitender Bote wurde dem Wagen entgegen geschickt. Aber er begegnete
keinem Wagen und ritt bis nach Varde.

Dies Warten auf eine Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch un¬
erträglicher, Zeuge der Leiden des kranken Kindes zu sein. Und die Krankheit
machte reißende Fortschritte.

Bald nach ein Uhr kam der reitende Bote mit dem Bescheid zurück, daß
der Wagen fürs erste nicht zu erwarten sei, da, als er die Stadt verlassen hatte,
noch keiner der Ärzte nach Hause gekommen war.

Da brach Ricks zusammen. Er hatte, so lange noch ein Hoffnungsfunke
vorhanden gewesen war, mutig gegen die Verzweiflung angekämpft, jetzt konnte
er nicht länger. Er ging in die dunkle Stube, die »eben dem Krankenzimmer
lag, und starrte durch die dunkeln Fensterscheiben, während seine Nägel sich in
das Holz des Fensterrahmeus gruben; seine Augen fraßen sich gleichsam durch
das Dunkel hindurch nach Hoffnung, sein Hirn krümmte sich zum Sprunge,


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[0571] Ricks Lyhne. Der Pfarrer ging. Am Vormittage kehrte er zurück und bereitete sie zum Tode vor. Die Kräfte nahmen, seltsam auflodernd, schnell ab, aber noch in der Däm¬ merung, als Ricks sie zum letzten mal in seine Arme schloß, um Abschied von ihr zu nehmen, ehe die Schatten des Todes sich gar zu tief gelagert hatten, war sie bei vollem Bewußtsein. Aber die Liebe, die das höchste Glück seines Lebens gewesen war, war in ihrem Blick erloschen, sie war nicht mehr die Seine, schon jetzt nicht mehr, die Schwingen hatten bereits angefangen zu wachsen, sie sehnte sich nur nach ihrem Gott. Um Mitternacht starb sie. Es waren schwere Zeiten, die nun folgten. Die Zeit schwoll zu etwas Ungeheuern, Feindlichem an; jeder Tag war eine unendliche Wüste von In¬ haltslosigkeit, jede Nacht eine Hölle von Erinnerungen. Erst nach Monaten, als der Sommer zur Neige ging, hatte der schäumende, reißende Strom des Kummers sich ein Flußbett in seiner Seele geschaffen, sodaß er dahinrinuen konnte wie ein murmelnder, schwerwogender Strom des Entbehrens und der Schwermut. Da, eines Tages, als er vom Felde heimkehrte, fand er seinen kleinen Knaben schwer erkrankt vor. Der Kleine hatte in den letzten Tagen ein wenig gekränkelt und war in der vorhergehenden Nacht unruhig gewesen, niemand hatte jedoch geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe; jetzt lag er fieberheiß und sieberkalt in seinem kleinen Bette und stöhnte vor Schmerz. Der Wagen wurde sofort nach Varde geschickt, um den Arzt zu holen, aber keiner von den Ärzten war zu Hause, und er mußte viele Stunden warten. Zur Schlafcngehenszeit war er noch nicht zurück. Ricks saß am Lager des Knaben; jede halbe Stunde wenigstens sandte er jemand hinaus, um zu lauschen und zu spähen, ob der Wagen noch nicht käme. Ein reitender Bote wurde dem Wagen entgegen geschickt. Aber er begegnete keinem Wagen und ritt bis nach Varde. Dies Warten auf eine Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch un¬ erträglicher, Zeuge der Leiden des kranken Kindes zu sein. Und die Krankheit machte reißende Fortschritte. Bald nach ein Uhr kam der reitende Bote mit dem Bescheid zurück, daß der Wagen fürs erste nicht zu erwarten sei, da, als er die Stadt verlassen hatte, noch keiner der Ärzte nach Hause gekommen war. Da brach Ricks zusammen. Er hatte, so lange noch ein Hoffnungsfunke vorhanden gewesen war, mutig gegen die Verzweiflung angekämpft, jetzt konnte er nicht länger. Er ging in die dunkle Stube, die »eben dem Krankenzimmer lag, und starrte durch die dunkeln Fensterscheiben, während seine Nägel sich in das Holz des Fensterrahmeus gruben; seine Augen fraßen sich gleichsam durch das Dunkel hindurch nach Hoffnung, sein Hirn krümmte sich zum Sprunge,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/571>, abgerufen am 22.07.2024.