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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Er sah sie mir an, indem er einen klagenden Seufzer ausstieß.

Gerda umklammerte seine Hand fest und warf sich in ihrer Angst über
ihn. Ich kann nicht sterben, sagte sie.

Er sank vor dem Bette auf die Kniee und schob seinen Arm unter ihr
Kopfkissen, sodaß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Thränen standen ihm
in den Augen, sodaß er sie nicht sehen konnte, sie liefen eine nach der andern
an seiner Wange herab. Er führte ihre Hand rin einem Zipfel des Tuches
an seine Augen, dann gewann er wieder Macht über seine Stimme. Sage mir
alles, teure Gerda, begann er. Kehre dich an nichts. Willst du den Pfarrer
haben? Er konnte nicht recht glauben, daß es das sei, und es lag ein wenig
Zweifel in seiner Stimme.

Sie antwortete nicht, sie schloß ihre Augen und zog den Kopf ein wenig
zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.

Es währte eine Weile. Das langgezogene, weiche Flöten einer Drossel
ertönte unter dem Fenster, dann flötete eine zweite und eine dritte; eine ganze
Reihe von Flötentönen drängte sich in das Schweigen im Zimmer.

Dann blickte sie wieder auf. Wenn du mit mir kommen könntest! sagte
sie und lehnte sich schwer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Lieb¬
kosung darin, das fühlte er. Wenn du mit mir gehen könntest! Aber so ganz
allein! und sie nahm leise seine Hand in die ihre und ließ sie dann wieder
fallen. Ich wage es nicht! Ihre Augen nahmen einen ängstlichen Ausdruck
an. Du mußt ihn holen, Ricks, ich wage es nicht, allein dahinauf zu kommen --
und so! Wir haben ja niemals daran gedacht, daß ich znerst sterben könnte,
wir waren so fest überzeugt, daß du vorausgehen müßtest. Ich weiß ja freilich --
aber wenn wir uns nun doch geirrt Hütten, Ricks, es könnte doch möglich sein,
Ricks, nicht wahr? Du glaubst es nicht; aber es wäre doch wunderbar, wenn
sich alle Menschen geirrt haben sollten, wenn da gar nichts wäre, alle die
großen Kirchen -- und wenn sie sie begraben -- die Glocken -- Sie lag
regungslos da, als lauschte sie auf die Glockentöne.

Es ist unmöglich, Ricks, daß es mit dem Tode vorbei ist, du kannst es
nicht so fühlen, du bist ja gesund; du meinst, der Tod müsse uns völlig ver¬
nichten, weil man so matt ist und weil alles hinschwindet; aber das ist nur
für die Außenwelt. Hier drinnen ist ebensoviel Seele wie vorher, glaube mir
es, Ricks, ich habe es alles hier drinnen, was ich bekommen habe, dieselbe un¬
endliche Welt, nur stiller, nur mehr für mich allein, gerade so, als wenn man
seine Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, das von dir fortgeht, fort von
dir, ins Dunkle hinein, und es wird für dich schwächer und schwächer, und du
kannst es nicht sehen, und doch leuchtet es noch ebenso hell, dort, wo es jetzt
ist, weit fort von dir. Ich habe immer geglaubt, ich würde eine alte, alte
Frau werden, ich würde hier bei euch allen bleiben, aber nun darf ich nicht
länger, sie reißen mich fort von Haus und Herd und lassen mich ganz allein


Grouzbotcn III. 1S3L. 71
Ricks Lyhne.

Er sah sie mir an, indem er einen klagenden Seufzer ausstieß.

Gerda umklammerte seine Hand fest und warf sich in ihrer Angst über
ihn. Ich kann nicht sterben, sagte sie.

Er sank vor dem Bette auf die Kniee und schob seinen Arm unter ihr
Kopfkissen, sodaß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Thränen standen ihm
in den Augen, sodaß er sie nicht sehen konnte, sie liefen eine nach der andern
an seiner Wange herab. Er führte ihre Hand rin einem Zipfel des Tuches
an seine Augen, dann gewann er wieder Macht über seine Stimme. Sage mir
alles, teure Gerda, begann er. Kehre dich an nichts. Willst du den Pfarrer
haben? Er konnte nicht recht glauben, daß es das sei, und es lag ein wenig
Zweifel in seiner Stimme.

Sie antwortete nicht, sie schloß ihre Augen und zog den Kopf ein wenig
zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.

Es währte eine Weile. Das langgezogene, weiche Flöten einer Drossel
ertönte unter dem Fenster, dann flötete eine zweite und eine dritte; eine ganze
Reihe von Flötentönen drängte sich in das Schweigen im Zimmer.

Dann blickte sie wieder auf. Wenn du mit mir kommen könntest! sagte
sie und lehnte sich schwer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Lieb¬
kosung darin, das fühlte er. Wenn du mit mir gehen könntest! Aber so ganz
allein! und sie nahm leise seine Hand in die ihre und ließ sie dann wieder
fallen. Ich wage es nicht! Ihre Augen nahmen einen ängstlichen Ausdruck
an. Du mußt ihn holen, Ricks, ich wage es nicht, allein dahinauf zu kommen —
und so! Wir haben ja niemals daran gedacht, daß ich znerst sterben könnte,
wir waren so fest überzeugt, daß du vorausgehen müßtest. Ich weiß ja freilich —
aber wenn wir uns nun doch geirrt Hütten, Ricks, es könnte doch möglich sein,
Ricks, nicht wahr? Du glaubst es nicht; aber es wäre doch wunderbar, wenn
sich alle Menschen geirrt haben sollten, wenn da gar nichts wäre, alle die
großen Kirchen — und wenn sie sie begraben — die Glocken — Sie lag
regungslos da, als lauschte sie auf die Glockentöne.

Es ist unmöglich, Ricks, daß es mit dem Tode vorbei ist, du kannst es
nicht so fühlen, du bist ja gesund; du meinst, der Tod müsse uns völlig ver¬
nichten, weil man so matt ist und weil alles hinschwindet; aber das ist nur
für die Außenwelt. Hier drinnen ist ebensoviel Seele wie vorher, glaube mir
es, Ricks, ich habe es alles hier drinnen, was ich bekommen habe, dieselbe un¬
endliche Welt, nur stiller, nur mehr für mich allein, gerade so, als wenn man
seine Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, das von dir fortgeht, fort von
dir, ins Dunkle hinein, und es wird für dich schwächer und schwächer, und du
kannst es nicht sehen, und doch leuchtet es noch ebenso hell, dort, wo es jetzt
ist, weit fort von dir. Ich habe immer geglaubt, ich würde eine alte, alte
Frau werden, ich würde hier bei euch allen bleiben, aber nun darf ich nicht
länger, sie reißen mich fort von Haus und Herd und lassen mich ganz allein


Grouzbotcn III. 1S3L. 71
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[0569] Ricks Lyhne. Er sah sie mir an, indem er einen klagenden Seufzer ausstieß. Gerda umklammerte seine Hand fest und warf sich in ihrer Angst über ihn. Ich kann nicht sterben, sagte sie. Er sank vor dem Bette auf die Kniee und schob seinen Arm unter ihr Kopfkissen, sodaß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Thränen standen ihm in den Augen, sodaß er sie nicht sehen konnte, sie liefen eine nach der andern an seiner Wange herab. Er führte ihre Hand rin einem Zipfel des Tuches an seine Augen, dann gewann er wieder Macht über seine Stimme. Sage mir alles, teure Gerda, begann er. Kehre dich an nichts. Willst du den Pfarrer haben? Er konnte nicht recht glauben, daß es das sei, und es lag ein wenig Zweifel in seiner Stimme. Sie antwortete nicht, sie schloß ihre Augen und zog den Kopf ein wenig zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein. Es währte eine Weile. Das langgezogene, weiche Flöten einer Drossel ertönte unter dem Fenster, dann flötete eine zweite und eine dritte; eine ganze Reihe von Flötentönen drängte sich in das Schweigen im Zimmer. Dann blickte sie wieder auf. Wenn du mit mir kommen könntest! sagte sie und lehnte sich schwer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Lieb¬ kosung darin, das fühlte er. Wenn du mit mir gehen könntest! Aber so ganz allein! und sie nahm leise seine Hand in die ihre und ließ sie dann wieder fallen. Ich wage es nicht! Ihre Augen nahmen einen ängstlichen Ausdruck an. Du mußt ihn holen, Ricks, ich wage es nicht, allein dahinauf zu kommen — und so! Wir haben ja niemals daran gedacht, daß ich znerst sterben könnte, wir waren so fest überzeugt, daß du vorausgehen müßtest. Ich weiß ja freilich — aber wenn wir uns nun doch geirrt Hütten, Ricks, es könnte doch möglich sein, Ricks, nicht wahr? Du glaubst es nicht; aber es wäre doch wunderbar, wenn sich alle Menschen geirrt haben sollten, wenn da gar nichts wäre, alle die großen Kirchen — und wenn sie sie begraben — die Glocken — Sie lag regungslos da, als lauschte sie auf die Glockentöne. Es ist unmöglich, Ricks, daß es mit dem Tode vorbei ist, du kannst es nicht so fühlen, du bist ja gesund; du meinst, der Tod müsse uns völlig ver¬ nichten, weil man so matt ist und weil alles hinschwindet; aber das ist nur für die Außenwelt. Hier drinnen ist ebensoviel Seele wie vorher, glaube mir es, Ricks, ich habe es alles hier drinnen, was ich bekommen habe, dieselbe un¬ endliche Welt, nur stiller, nur mehr für mich allein, gerade so, als wenn man seine Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, das von dir fortgeht, fort von dir, ins Dunkle hinein, und es wird für dich schwächer und schwächer, und du kannst es nicht sehen, und doch leuchtet es noch ebenso hell, dort, wo es jetzt ist, weit fort von dir. Ich habe immer geglaubt, ich würde eine alte, alte Frau werden, ich würde hier bei euch allen bleiben, aber nun darf ich nicht länger, sie reißen mich fort von Haus und Herd und lassen mich ganz allein Grouzbotcn III. 1S3L. 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/569>, abgerufen am 24.08.2024.