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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

der in den Worten lag: dein Volk mein Volk, dein Gott mein Gott! Und
nun fing er ernstlich an, sie zu belehren, und er entwickelte ihr, wie alle Götter
nichts seien als Menschenwerk, wie sie gleich allem, was von Menschen stammt,
nicht für ewige Zeiten bestehen könnten, sondern verfallen mußten, Götter-
geschlecht auf Göttergeschlecht, weil sich die Menschheit ewig fortentwickle und
stets um ihre Ideale herum wachse. Und ein Gott, in den die Edelsten und
Größten nicht ihren reichsten, geistigen Inhalt niederlegten, ein Gott, der sein
Licht nicht von der Menschheit erhielt, sondern der aus sich selber leuchten
sollte, ein Gott, der keine natürliche Folge war, sondern erstarrt in dem histo¬
rischen Kalk der Dogmen, war nicht länger ein Gott, vielmehr ein Abgott, und
darum war das Judentum in seinem vollen Rechte einem Baal und einer
Astarte gegenüber, und auch das Christentum war in seinem vollen Rechte einem
Juppiter und einem Odin gegenüber, denn ein Abgott ist nichts in der Welt.
Von einem Gotte zum andern war die Menschheit vorgeschritten, und deswegen
konnte Christus auf der einen Seite gegen den alten Gott gewendet sagen, daß
er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vervollkommnen,
konnte er auf der andern Seite, über sich hinaus, auf ein noch höheres Gottes¬
ideal zeigen durch seine mystischen Worte von der Sünde, die nicht verziehen
werden könne, nämlich die Sünde wider den heiligen Geist.

Und weiter lehrte er sie, wie der Glaube an einen persönlichen Gott,
der alles zum Besten lenkt und in einem andern Leben straft und belohnt,
nichts sei als ein Entfliehen vor der rauhen Wirklichkeit, ein ohnmächtiger
Versuch, der trostlosen Willkür des Daseins den Stachel zu nehmen. Er wies
ihr nach, wie es das Mitleid der Menschen mit den Unglücklichen abschwächen
und sie weniger bereit machen müßte, alle Kräfte anzuspannen, um zu helfen,
wenn sie sich mit dem Gedanken beruhigen könnten, daß alles, was hier in
diesem kurzen Erdenleben erlitten wird, den Leidenden den Weg zur Ewigkeit
in Herrlichkeit und Freuden bahne.

Er hob hervor, welche Kraft und Selbständigkeit es dem Menschengeschlecht
verleihen müsse, wenn es im Glauben an sich selber sein Leben im Einklang
mit dem zu leben suche, was der Einzelne von allem, was in ihm lebe, in
seinen besten Augenblicken am höchsten stelle, statt es außerhalb seiner selbst
auf eine kontrolirte Göttlichkeit zu übertragen. Er machte seinen Glanben so
schön, so segensreich, wie er nur konnte, aber er verbarg ihr auch nicht, wie
erdrückend schwer, wie trostlos die Wahrheit des Atheismus in Zeiten des
Leidens zu tragen sei, im Vergleich mit jenem lichten, glücklichen Traume von
einem himmlischen Vater, der lenkt und regiert. Aber sie war mutig. Wohl
erschütterten sie viele seiner Lehren bis ins innerste Mark ihrer Seele, und
am häufigsten gerade die, von denen man es am wenigsten hätte glauben sollen,
aber ihr Vertrauen zu ihm kannte keine Grenzen, ihre Liebe zog mit ihm, alle
Himmel hinter sich lassend, und sie liebte sich in seine Anschauungen hinein


Ricks Lyhne.

der in den Worten lag: dein Volk mein Volk, dein Gott mein Gott! Und
nun fing er ernstlich an, sie zu belehren, und er entwickelte ihr, wie alle Götter
nichts seien als Menschenwerk, wie sie gleich allem, was von Menschen stammt,
nicht für ewige Zeiten bestehen könnten, sondern verfallen mußten, Götter-
geschlecht auf Göttergeschlecht, weil sich die Menschheit ewig fortentwickle und
stets um ihre Ideale herum wachse. Und ein Gott, in den die Edelsten und
Größten nicht ihren reichsten, geistigen Inhalt niederlegten, ein Gott, der sein
Licht nicht von der Menschheit erhielt, sondern der aus sich selber leuchten
sollte, ein Gott, der keine natürliche Folge war, sondern erstarrt in dem histo¬
rischen Kalk der Dogmen, war nicht länger ein Gott, vielmehr ein Abgott, und
darum war das Judentum in seinem vollen Rechte einem Baal und einer
Astarte gegenüber, und auch das Christentum war in seinem vollen Rechte einem
Juppiter und einem Odin gegenüber, denn ein Abgott ist nichts in der Welt.
Von einem Gotte zum andern war die Menschheit vorgeschritten, und deswegen
konnte Christus auf der einen Seite gegen den alten Gott gewendet sagen, daß
er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vervollkommnen,
konnte er auf der andern Seite, über sich hinaus, auf ein noch höheres Gottes¬
ideal zeigen durch seine mystischen Worte von der Sünde, die nicht verziehen
werden könne, nämlich die Sünde wider den heiligen Geist.

Und weiter lehrte er sie, wie der Glaube an einen persönlichen Gott,
der alles zum Besten lenkt und in einem andern Leben straft und belohnt,
nichts sei als ein Entfliehen vor der rauhen Wirklichkeit, ein ohnmächtiger
Versuch, der trostlosen Willkür des Daseins den Stachel zu nehmen. Er wies
ihr nach, wie es das Mitleid der Menschen mit den Unglücklichen abschwächen
und sie weniger bereit machen müßte, alle Kräfte anzuspannen, um zu helfen,
wenn sie sich mit dem Gedanken beruhigen könnten, daß alles, was hier in
diesem kurzen Erdenleben erlitten wird, den Leidenden den Weg zur Ewigkeit
in Herrlichkeit und Freuden bahne.

Er hob hervor, welche Kraft und Selbständigkeit es dem Menschengeschlecht
verleihen müsse, wenn es im Glauben an sich selber sein Leben im Einklang
mit dem zu leben suche, was der Einzelne von allem, was in ihm lebe, in
seinen besten Augenblicken am höchsten stelle, statt es außerhalb seiner selbst
auf eine kontrolirte Göttlichkeit zu übertragen. Er machte seinen Glanben so
schön, so segensreich, wie er nur konnte, aber er verbarg ihr auch nicht, wie
erdrückend schwer, wie trostlos die Wahrheit des Atheismus in Zeiten des
Leidens zu tragen sei, im Vergleich mit jenem lichten, glücklichen Traume von
einem himmlischen Vater, der lenkt und regiert. Aber sie war mutig. Wohl
erschütterten sie viele seiner Lehren bis ins innerste Mark ihrer Seele, und
am häufigsten gerade die, von denen man es am wenigsten hätte glauben sollen,
aber ihr Vertrauen zu ihm kannte keine Grenzen, ihre Liebe zog mit ihm, alle
Himmel hinter sich lassend, und sie liebte sich in seine Anschauungen hinein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/567>, abgerufen am 22.07.2024.