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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

stimmt, und sie wurden einander ganz unentbehrlich. Man fühlte sich nur
halb, wenn man allein war.

Da geschah es eines Morgens, als Ricks aussegeln wollte, daß er Madame
Otero im Garten singen hörte. Er beabsichtigte im ersten Augenblicke umzu-
kehren und sie zu schelten; ehe er sich aber noch recht besonnen hatte, war er
schon außer Hörweite gelangt; außerdem war der Wind so verlockend zu einer
Fahrt nach Limone, und zu Mittag wollte er ja wieder zurück sein. So segelte
er denn davon.

Madame Otero war ungewöhnlich früh in den Garten gekommen. Der
frische Duft, der draußen herrschte, die runden Wellen, die so glasklar und blank
unter der Gartenmauer stiegen und sanken, und die ganze Farbenpracht auf
allen Seiten, der blaue See, sonnenbeleuchtete Berge, und Segel, die über die
Wasserfläche dahinschossen, und rote Blumen in Unmenge über ihrem Haupte,
alles das und dann ein Traum, den sie nicht vergessen konnte, der noch immer
in ihrem Herzen wogte -- sie konnte nicht schweigen, sie mußte ihr Teil bei¬
trage" zu all diesem Leben.

Und so sang sie.

Voller und voller erklang der Jubel ihrer Stimme, sie berauschte sich an
ihrem Wohllaut, sie erzitterte in einem wohligen Gefühl ihrer Macht; und sie
sang weiter, sie konnte nicht inne halten, dazu trug es sie viel zu schön dahin
durch wunderbare Träume von zukünftigen Triumphen.

Es stellte sich auch keine Müdigkeit ein, sie konnte reisen, gleich reisen, die
ganze Nichtigkeit dieser Monate abschütteln und vorwärts kommen und leben!

Schon am Nachmittage waren alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen.

Als der Wagen bereits vor der Thüre hielt, kam ihr plötzlich der Gedanke
an Ricks Lyhne. Sie zog ein kleines Schreibebuch, das sie in der Tasche trug,
hervor und schrieb es voll Abschiedsworte an Ricks Lyhne, denn die Blätter
waren so klein, daß auf einem jeden nur drei bis vier Worte stehen konnten.
Dann legte sie das Ganze in ein Kouvert und fuhr davon.

Als Ricks am Nachmittage -- er war von der Gesundheitspolizei in
Limone aufgehalten worden -- heimkehrte, war sie längst in Mori und auf der
Eisenbahn.

Er wunderte sich nicht, er war nur traurig, nicht im geringsten ärgerlich,
er hatte sogar ein leichtes, resignirtes Lächeln für diese neue Feindseligkeit des
Geschickes. Als er aber am Abend in dem leeren, mondhellen Garten saß und
dem kleinen Sohne des Wirtes die Geschichte von der Prinzessin erzählte, die
ihr Federgewand wiedergefunden hatte und damit fortflog, weit fort von dem
Geliebten, in das Land der Feen, da erfaßte ihn eine unsagbare Sehnsucht nach
Lönborggaard, nach einem Heim, das ihn umschließen, das ihn an sich ziehen
und ihn halten könnte, gleichviel wie. Er konnte die Gleichgiltigkeit des Daseins
nicht länger ertragen, das Gefühl, stets losgelassen, stets auf sich selber zurück


Ricks Lyhne.

stimmt, und sie wurden einander ganz unentbehrlich. Man fühlte sich nur
halb, wenn man allein war.

Da geschah es eines Morgens, als Ricks aussegeln wollte, daß er Madame
Otero im Garten singen hörte. Er beabsichtigte im ersten Augenblicke umzu-
kehren und sie zu schelten; ehe er sich aber noch recht besonnen hatte, war er
schon außer Hörweite gelangt; außerdem war der Wind so verlockend zu einer
Fahrt nach Limone, und zu Mittag wollte er ja wieder zurück sein. So segelte
er denn davon.

Madame Otero war ungewöhnlich früh in den Garten gekommen. Der
frische Duft, der draußen herrschte, die runden Wellen, die so glasklar und blank
unter der Gartenmauer stiegen und sanken, und die ganze Farbenpracht auf
allen Seiten, der blaue See, sonnenbeleuchtete Berge, und Segel, die über die
Wasserfläche dahinschossen, und rote Blumen in Unmenge über ihrem Haupte,
alles das und dann ein Traum, den sie nicht vergessen konnte, der noch immer
in ihrem Herzen wogte — sie konnte nicht schweigen, sie mußte ihr Teil bei¬
trage» zu all diesem Leben.

Und so sang sie.

Voller und voller erklang der Jubel ihrer Stimme, sie berauschte sich an
ihrem Wohllaut, sie erzitterte in einem wohligen Gefühl ihrer Macht; und sie
sang weiter, sie konnte nicht inne halten, dazu trug es sie viel zu schön dahin
durch wunderbare Träume von zukünftigen Triumphen.

Es stellte sich auch keine Müdigkeit ein, sie konnte reisen, gleich reisen, die
ganze Nichtigkeit dieser Monate abschütteln und vorwärts kommen und leben!

Schon am Nachmittage waren alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen.

Als der Wagen bereits vor der Thüre hielt, kam ihr plötzlich der Gedanke
an Ricks Lyhne. Sie zog ein kleines Schreibebuch, das sie in der Tasche trug,
hervor und schrieb es voll Abschiedsworte an Ricks Lyhne, denn die Blätter
waren so klein, daß auf einem jeden nur drei bis vier Worte stehen konnten.
Dann legte sie das Ganze in ein Kouvert und fuhr davon.

Als Ricks am Nachmittage — er war von der Gesundheitspolizei in
Limone aufgehalten worden — heimkehrte, war sie längst in Mori und auf der
Eisenbahn.

Er wunderte sich nicht, er war nur traurig, nicht im geringsten ärgerlich,
er hatte sogar ein leichtes, resignirtes Lächeln für diese neue Feindseligkeit des
Geschickes. Als er aber am Abend in dem leeren, mondhellen Garten saß und
dem kleinen Sohne des Wirtes die Geschichte von der Prinzessin erzählte, die
ihr Federgewand wiedergefunden hatte und damit fortflog, weit fort von dem
Geliebten, in das Land der Feen, da erfaßte ihn eine unsagbare Sehnsucht nach
Lönborggaard, nach einem Heim, das ihn umschließen, das ihn an sich ziehen
und ihn halten könnte, gleichviel wie. Er konnte die Gleichgiltigkeit des Daseins
nicht länger ertragen, das Gefühl, stets losgelassen, stets auf sich selber zurück


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/526>, abgerufen am 22.07.2024.