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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Die Entfernungen in der Geschichte.

Küstenlinie des Atlantischen Ozeans vor. Wer weitsichtig ist, sieht beim Alpen-
übergange Hannibals die neuere Geschichte aufdämmern, die immer mehr wcst-
und mitteleuropäisch geworden ist, bis sie, übers Weltmeer wandernd, sogar den
atlantischen Charakter annahm.

Das Ringen der Völker um Macht oder auch bloß um Leben kennt den
außerordentlichen Einfluß, deu die Bewältigung der Entfernungen im entscheiden¬
den Kampfesaugenblicke gewinnt. Oft entscheidet ein Zeitgewinn bei Zurücklegung
der Wege auf ein von beiden Seiten gleichmäßig angestrebtes Ziel. Die Krieg¬
führung sucht schon beim Aufmarsch dem Gegner zuvorzukommen, es ist eine
Frage der Geschwindigkeit, welche von zwei Mächten der andern den Krieg ins
Land spielt. Eine rastlose Beweglichkeit, die zuerst fertig am Platze ist und
dem Gegner keine Ruhe läßt, hat 1814 und 1866 in Frankreich und Böhmen
auf preußischer Seite weltgeschichtliche Fragen rasch zur Lösung gebracht. 1756
handelte es sich um die Existenz Preußens, als Friedrich II. in Eilmärschen
die sächsische Grenze überschritt. Wo stünde" wir möglicherweise, wenn Blücher
und Gneisenau am 18. Juni 1815 ein paar Stunden mehr gebraucht hätten,
um die Entfernung von Ligny nach Belle Alliance zurückzulegen, oder wenn
es Napoleon I. möglich geworden wäre, im März 1814 Blücher auf seinem
Marsche nach Paris, der durch die Stationen Trohes, Laon und Montmartre
bezeichnet wird, zu überholen? Die Siege von Königgrätz, von Sedan sind
nicht bloß durch Geist, Disziplin und Mut entschiede" worden, sondern auch
durch die prompte Überwindung der räumlichen Entfernungen. Wellingtons
Wort in der Schlacht bei Belle Alliance: Ich wollte, es wäre Nacht oder die
Preußen kämen, ist typisch für die entscheidende Bedeutung des Raumes. Mit
Änderung der Zeit und des Ortes hat mancher große Feldherr in Augenblicken
der Entscheidung ähnlich gedacht oder gesprochen.

Die vorstehenden Betrachtungen knüpfen an ein Buch an, welches das Wachs¬
tum der Fähigkeit, Entfernungen zu bewältigen, unter dem Gesichtspunkte der
engen Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem Boden, auf dem er lebt, zu
schildern unternimmt.*) Dabei ist der friedliche Verkehr, der seine Strahlen von
den großen Plätzen des Handels nach deu Stätten der Erzeugung und des Ver¬
brauches wichtiger Waren zieht, in den Vordergrund gestellt, ohne daß indessen,
wie natürlich, die politischen Mitursachen und Folgen der damit gegebenen Er¬
weiterung des geographischen Gesichtskreises vernachlässigt werden. Es ist das ein
gelehrtes Buch, insofern es aus einer Fülle von Thatsachen schöpft, wie sie nur im
eindringenden Studium der ersten Quellen oder einer ebenso reichen wie zerstreuten
und stellenweise geradezu verborgenen Litteratur gewonnen wird. Es ist aber zu¬
gleich ein Buch für ungelehrte, freilich gebildete Leser, da der Stoff ungewöhnlich



*) Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels. Eine historisch-geographische
Untersuchung samt einer Einleitung für eine "Wissenschaft der geographischen Entfernungen."
Von Dr. Wilhelm Götz, Mit 5 Karten in Farbendruck. Stuttgart, Ferdinand Ente, 1888.
Die Entfernungen in der Geschichte.

Küstenlinie des Atlantischen Ozeans vor. Wer weitsichtig ist, sieht beim Alpen-
übergange Hannibals die neuere Geschichte aufdämmern, die immer mehr wcst-
und mitteleuropäisch geworden ist, bis sie, übers Weltmeer wandernd, sogar den
atlantischen Charakter annahm.

Das Ringen der Völker um Macht oder auch bloß um Leben kennt den
außerordentlichen Einfluß, deu die Bewältigung der Entfernungen im entscheiden¬
den Kampfesaugenblicke gewinnt. Oft entscheidet ein Zeitgewinn bei Zurücklegung
der Wege auf ein von beiden Seiten gleichmäßig angestrebtes Ziel. Die Krieg¬
führung sucht schon beim Aufmarsch dem Gegner zuvorzukommen, es ist eine
Frage der Geschwindigkeit, welche von zwei Mächten der andern den Krieg ins
Land spielt. Eine rastlose Beweglichkeit, die zuerst fertig am Platze ist und
dem Gegner keine Ruhe läßt, hat 1814 und 1866 in Frankreich und Böhmen
auf preußischer Seite weltgeschichtliche Fragen rasch zur Lösung gebracht. 1756
handelte es sich um die Existenz Preußens, als Friedrich II. in Eilmärschen
die sächsische Grenze überschritt. Wo stünde» wir möglicherweise, wenn Blücher
und Gneisenau am 18. Juni 1815 ein paar Stunden mehr gebraucht hätten,
um die Entfernung von Ligny nach Belle Alliance zurückzulegen, oder wenn
es Napoleon I. möglich geworden wäre, im März 1814 Blücher auf seinem
Marsche nach Paris, der durch die Stationen Trohes, Laon und Montmartre
bezeichnet wird, zu überholen? Die Siege von Königgrätz, von Sedan sind
nicht bloß durch Geist, Disziplin und Mut entschiede» worden, sondern auch
durch die prompte Überwindung der räumlichen Entfernungen. Wellingtons
Wort in der Schlacht bei Belle Alliance: Ich wollte, es wäre Nacht oder die
Preußen kämen, ist typisch für die entscheidende Bedeutung des Raumes. Mit
Änderung der Zeit und des Ortes hat mancher große Feldherr in Augenblicken
der Entscheidung ähnlich gedacht oder gesprochen.

Die vorstehenden Betrachtungen knüpfen an ein Buch an, welches das Wachs¬
tum der Fähigkeit, Entfernungen zu bewältigen, unter dem Gesichtspunkte der
engen Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem Boden, auf dem er lebt, zu
schildern unternimmt.*) Dabei ist der friedliche Verkehr, der seine Strahlen von
den großen Plätzen des Handels nach deu Stätten der Erzeugung und des Ver¬
brauches wichtiger Waren zieht, in den Vordergrund gestellt, ohne daß indessen,
wie natürlich, die politischen Mitursachen und Folgen der damit gegebenen Er¬
weiterung des geographischen Gesichtskreises vernachlässigt werden. Es ist das ein
gelehrtes Buch, insofern es aus einer Fülle von Thatsachen schöpft, wie sie nur im
eindringenden Studium der ersten Quellen oder einer ebenso reichen wie zerstreuten
und stellenweise geradezu verborgenen Litteratur gewonnen wird. Es ist aber zu¬
gleich ein Buch für ungelehrte, freilich gebildete Leser, da der Stoff ungewöhnlich



*) Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels. Eine historisch-geographische
Untersuchung samt einer Einleitung für eine „Wissenschaft der geographischen Entfernungen."
Von Dr. Wilhelm Götz, Mit 5 Karten in Farbendruck. Stuttgart, Ferdinand Ente, 1888.
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[0508] Die Entfernungen in der Geschichte. Küstenlinie des Atlantischen Ozeans vor. Wer weitsichtig ist, sieht beim Alpen- übergange Hannibals die neuere Geschichte aufdämmern, die immer mehr wcst- und mitteleuropäisch geworden ist, bis sie, übers Weltmeer wandernd, sogar den atlantischen Charakter annahm. Das Ringen der Völker um Macht oder auch bloß um Leben kennt den außerordentlichen Einfluß, deu die Bewältigung der Entfernungen im entscheiden¬ den Kampfesaugenblicke gewinnt. Oft entscheidet ein Zeitgewinn bei Zurücklegung der Wege auf ein von beiden Seiten gleichmäßig angestrebtes Ziel. Die Krieg¬ führung sucht schon beim Aufmarsch dem Gegner zuvorzukommen, es ist eine Frage der Geschwindigkeit, welche von zwei Mächten der andern den Krieg ins Land spielt. Eine rastlose Beweglichkeit, die zuerst fertig am Platze ist und dem Gegner keine Ruhe läßt, hat 1814 und 1866 in Frankreich und Böhmen auf preußischer Seite weltgeschichtliche Fragen rasch zur Lösung gebracht. 1756 handelte es sich um die Existenz Preußens, als Friedrich II. in Eilmärschen die sächsische Grenze überschritt. Wo stünde» wir möglicherweise, wenn Blücher und Gneisenau am 18. Juni 1815 ein paar Stunden mehr gebraucht hätten, um die Entfernung von Ligny nach Belle Alliance zurückzulegen, oder wenn es Napoleon I. möglich geworden wäre, im März 1814 Blücher auf seinem Marsche nach Paris, der durch die Stationen Trohes, Laon und Montmartre bezeichnet wird, zu überholen? Die Siege von Königgrätz, von Sedan sind nicht bloß durch Geist, Disziplin und Mut entschiede» worden, sondern auch durch die prompte Überwindung der räumlichen Entfernungen. Wellingtons Wort in der Schlacht bei Belle Alliance: Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen, ist typisch für die entscheidende Bedeutung des Raumes. Mit Änderung der Zeit und des Ortes hat mancher große Feldherr in Augenblicken der Entscheidung ähnlich gedacht oder gesprochen. Die vorstehenden Betrachtungen knüpfen an ein Buch an, welches das Wachs¬ tum der Fähigkeit, Entfernungen zu bewältigen, unter dem Gesichtspunkte der engen Zusammengehörigkeit des Menschen mit dem Boden, auf dem er lebt, zu schildern unternimmt.*) Dabei ist der friedliche Verkehr, der seine Strahlen von den großen Plätzen des Handels nach deu Stätten der Erzeugung und des Ver¬ brauches wichtiger Waren zieht, in den Vordergrund gestellt, ohne daß indessen, wie natürlich, die politischen Mitursachen und Folgen der damit gegebenen Er¬ weiterung des geographischen Gesichtskreises vernachlässigt werden. Es ist das ein gelehrtes Buch, insofern es aus einer Fülle von Thatsachen schöpft, wie sie nur im eindringenden Studium der ersten Quellen oder einer ebenso reichen wie zerstreuten und stellenweise geradezu verborgenen Litteratur gewonnen wird. Es ist aber zu¬ gleich ein Buch für ungelehrte, freilich gebildete Leser, da der Stoff ungewöhnlich *) Die Verkehrswege im Dienste des Welthandels. Eine historisch-geographische Untersuchung samt einer Einleitung für eine „Wissenschaft der geographischen Entfernungen." Von Dr. Wilhelm Götz, Mit 5 Karten in Farbendruck. Stuttgart, Ferdinand Ente, 1888.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/508>, abgerufen am 22.07.2024.