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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

gestellt hat, daß er für die Entwicklung seines Geistes sorgen konnte, wer von
uns allen hat nicht mit begeistertem Blicke hinausgestarrt auf das unendliche
Meer des Wissens, und wer hat sich nicht hingezogen gefühlt zu seinen klaren,
kühlen Wassern, und hat nicht angefangen, in dem leichtgläubigen Übermute der
Jugend es mit der hohlen Hand zu schöpfen wie das Kind in der Legende?
Weißt du noch, die Sonne konnte über sommcrhcllcm Lande lachen, du sahest
weder Blumen noch Wolken noch Quelle; die Feste des Lebens konnten vorüber¬
ziehen, sie erweckten keinen Traum in deinem jungen Blute; selbst die Heimat
lag dir fern; weißt du das noch? Und weißt du auch noch, wie er sich dann
in deinen Gedanken aufbaute aus den gelbwerdenden Blättern, geschlossen und
gesammelt, in sich selber ruhend wie ein Kunstwerk, und es war dein Werk in
jeder Einzelheit, und dein Geist lebte in dem Ganzen. Wenn die Säulen schlank
aufstiegen, mit selbstbewußter Tragkraft in ihrer starken Nundung, so war es
ein Teil deines eignen Ichs, dies kecke Aufsteigen, in dir lag dies stolze Tragen;
und wenn die Wölbung zu schweben schien, weil es seine ganze Schwere, Stein
auf Stein, gesammelt hatte und sein Gewicht in mächtigen Tropfen auf den
Nacken der Säulen senkte, so ward er dein, dieser Traum vom gewichtlosen
Schweben, weil die Sicherheit, mit der sich die Wölbung herabsenkte, ja nichts
andres war als du selber, der den Fuß auf sein eignes Ich setzte.

Ja, so war es, so wächst unser Wesen mit unserm Wissen, klärt sich da¬
durch, sammelt sich darin. Es ist ebenso schön zu lernen wie zu leben. Fürchte
nicht, dich selber in Geistern zu verlieren, die größer sind als du selber. Sitze
nicht da und grüble ängstlich über die Eigentümlichkeit deiner Seele, verschließe
dich nicht vor dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit sich hinab¬
reißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen Strudel mit
sich fortreißen könnte. Sei überzeugt, die Eigentümlichkeit, die in dem Aus¬
scheiden und dem Unbilden einer fröhlichen Entwicklung verloren geht, war nur
eine UnVollkommenheit, ein im Dunkeln getriebener Sprößling, dessen ganze
Eigentümlichkeit darin bestand, daß er krank war an lichtscheuer Blässe. Und
von dem Gesunden in dir sollst du leben, aus dem Gesunden heraus entwickelt
sich das Große.

Es war ganz unerwartet für Ricks Lyhne Weihnachten geworden.

In diesem ganzen verstrichenen Halbjahr war er nirgends zu Besuch ge¬
wesen, nur hin und wieder einmal bei dem Etatsrat, und von diesem hatte er
auch eine Einladung erhalten, den Weihnachtsabend in seiner Familie zu ver¬
bringen. Aber vor einem Jahre hatte er Weihnachten in Clarens gefeiert, und
deshalb wünschte er allein zu sein. Einige Stunden, nachdem es dunkel ge¬
worden war, ging er aus.

Es war sehr windig. Eine dünne, noch nicht ganz niedergetretene Schnee¬
decke lag in den Straßen und schien sie zu verbreitern, und der Schnee auf
den Dächern und Fenstersimsen verlieh den Häusern einen Schmuck, aber zugleich


Grenzboten III. 1S83. g
Ricks Lyhne.

gestellt hat, daß er für die Entwicklung seines Geistes sorgen konnte, wer von
uns allen hat nicht mit begeistertem Blicke hinausgestarrt auf das unendliche
Meer des Wissens, und wer hat sich nicht hingezogen gefühlt zu seinen klaren,
kühlen Wassern, und hat nicht angefangen, in dem leichtgläubigen Übermute der
Jugend es mit der hohlen Hand zu schöpfen wie das Kind in der Legende?
Weißt du noch, die Sonne konnte über sommcrhcllcm Lande lachen, du sahest
weder Blumen noch Wolken noch Quelle; die Feste des Lebens konnten vorüber¬
ziehen, sie erweckten keinen Traum in deinem jungen Blute; selbst die Heimat
lag dir fern; weißt du das noch? Und weißt du auch noch, wie er sich dann
in deinen Gedanken aufbaute aus den gelbwerdenden Blättern, geschlossen und
gesammelt, in sich selber ruhend wie ein Kunstwerk, und es war dein Werk in
jeder Einzelheit, und dein Geist lebte in dem Ganzen. Wenn die Säulen schlank
aufstiegen, mit selbstbewußter Tragkraft in ihrer starken Nundung, so war es
ein Teil deines eignen Ichs, dies kecke Aufsteigen, in dir lag dies stolze Tragen;
und wenn die Wölbung zu schweben schien, weil es seine ganze Schwere, Stein
auf Stein, gesammelt hatte und sein Gewicht in mächtigen Tropfen auf den
Nacken der Säulen senkte, so ward er dein, dieser Traum vom gewichtlosen
Schweben, weil die Sicherheit, mit der sich die Wölbung herabsenkte, ja nichts
andres war als du selber, der den Fuß auf sein eignes Ich setzte.

Ja, so war es, so wächst unser Wesen mit unserm Wissen, klärt sich da¬
durch, sammelt sich darin. Es ist ebenso schön zu lernen wie zu leben. Fürchte
nicht, dich selber in Geistern zu verlieren, die größer sind als du selber. Sitze
nicht da und grüble ängstlich über die Eigentümlichkeit deiner Seele, verschließe
dich nicht vor dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit sich hinab¬
reißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen Strudel mit
sich fortreißen könnte. Sei überzeugt, die Eigentümlichkeit, die in dem Aus¬
scheiden und dem Unbilden einer fröhlichen Entwicklung verloren geht, war nur
eine UnVollkommenheit, ein im Dunkeln getriebener Sprößling, dessen ganze
Eigentümlichkeit darin bestand, daß er krank war an lichtscheuer Blässe. Und
von dem Gesunden in dir sollst du leben, aus dem Gesunden heraus entwickelt
sich das Große.

Es war ganz unerwartet für Ricks Lyhne Weihnachten geworden.

In diesem ganzen verstrichenen Halbjahr war er nirgends zu Besuch ge¬
wesen, nur hin und wieder einmal bei dem Etatsrat, und von diesem hatte er
auch eine Einladung erhalten, den Weihnachtsabend in seiner Familie zu ver¬
bringen. Aber vor einem Jahre hatte er Weihnachten in Clarens gefeiert, und
deshalb wünschte er allein zu sein. Einige Stunden, nachdem es dunkel ge¬
worden war, ging er aus.

Es war sehr windig. Eine dünne, noch nicht ganz niedergetretene Schnee¬
decke lag in den Straßen und schien sie zu verbreitern, und der Schnee auf
den Dächern und Fenstersimsen verlieh den Häusern einen Schmuck, aber zugleich


Grenzboten III. 1S83. g
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[0049] Ricks Lyhne. gestellt hat, daß er für die Entwicklung seines Geistes sorgen konnte, wer von uns allen hat nicht mit begeistertem Blicke hinausgestarrt auf das unendliche Meer des Wissens, und wer hat sich nicht hingezogen gefühlt zu seinen klaren, kühlen Wassern, und hat nicht angefangen, in dem leichtgläubigen Übermute der Jugend es mit der hohlen Hand zu schöpfen wie das Kind in der Legende? Weißt du noch, die Sonne konnte über sommcrhcllcm Lande lachen, du sahest weder Blumen noch Wolken noch Quelle; die Feste des Lebens konnten vorüber¬ ziehen, sie erweckten keinen Traum in deinem jungen Blute; selbst die Heimat lag dir fern; weißt du das noch? Und weißt du auch noch, wie er sich dann in deinen Gedanken aufbaute aus den gelbwerdenden Blättern, geschlossen und gesammelt, in sich selber ruhend wie ein Kunstwerk, und es war dein Werk in jeder Einzelheit, und dein Geist lebte in dem Ganzen. Wenn die Säulen schlank aufstiegen, mit selbstbewußter Tragkraft in ihrer starken Nundung, so war es ein Teil deines eignen Ichs, dies kecke Aufsteigen, in dir lag dies stolze Tragen; und wenn die Wölbung zu schweben schien, weil es seine ganze Schwere, Stein auf Stein, gesammelt hatte und sein Gewicht in mächtigen Tropfen auf den Nacken der Säulen senkte, so ward er dein, dieser Traum vom gewichtlosen Schweben, weil die Sicherheit, mit der sich die Wölbung herabsenkte, ja nichts andres war als du selber, der den Fuß auf sein eignes Ich setzte. Ja, so war es, so wächst unser Wesen mit unserm Wissen, klärt sich da¬ durch, sammelt sich darin. Es ist ebenso schön zu lernen wie zu leben. Fürchte nicht, dich selber in Geistern zu verlieren, die größer sind als du selber. Sitze nicht da und grüble ängstlich über die Eigentümlichkeit deiner Seele, verschließe dich nicht vor dem, was Macht hat, aus Furcht, daß es dich mit sich hinab¬ reißen und deine liebe, innerste Eigenheit in seinem mächtigen Strudel mit sich fortreißen könnte. Sei überzeugt, die Eigentümlichkeit, die in dem Aus¬ scheiden und dem Unbilden einer fröhlichen Entwicklung verloren geht, war nur eine UnVollkommenheit, ein im Dunkeln getriebener Sprößling, dessen ganze Eigentümlichkeit darin bestand, daß er krank war an lichtscheuer Blässe. Und von dem Gesunden in dir sollst du leben, aus dem Gesunden heraus entwickelt sich das Große. Es war ganz unerwartet für Ricks Lyhne Weihnachten geworden. In diesem ganzen verstrichenen Halbjahr war er nirgends zu Besuch ge¬ wesen, nur hin und wieder einmal bei dem Etatsrat, und von diesem hatte er auch eine Einladung erhalten, den Weihnachtsabend in seiner Familie zu ver¬ bringen. Aber vor einem Jahre hatte er Weihnachten in Clarens gefeiert, und deshalb wünschte er allein zu sein. Einige Stunden, nachdem es dunkel ge¬ worden war, ging er aus. Es war sehr windig. Eine dünne, noch nicht ganz niedergetretene Schnee¬ decke lag in den Straßen und schien sie zu verbreitern, und der Schnee auf den Dächern und Fenstersimsen verlieh den Häusern einen Schmuck, aber zugleich Grenzboten III. 1S83. g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/49>, abgerufen am 22.07.2024.