Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ricks Lyhne.

Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben
mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern
glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer
selbst willen -- das war im Grunde das Wenigste --, aber es war ihm, als
sei seine Fahne dadurch befleckt. Logisch betrachtet freilich nicht, und doch!

Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war
jetzt allein und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch
als eine Erleichterung. Es gab so vieles, was seiner wartete. Das Jahr auf
Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch ge¬
nommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich
in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel
geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit
seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu
sammeln. Es gab so vieles, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel,
daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er
hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht
unabhängig von dem väterlichen Bücherschränke, und es liegt so nahe, auf der¬
selben Bahn weiterzuschreiten, die andre zum Ziele geführt hat, und deshalb
hatte er sich nicht selber ein "Vinland" in der weiten Welt der Bücher auf¬
gesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte
autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, das ihm gewinkt, um besser
in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine
Ohren für vieles verschlossen, das rief, um besser den mystischen Naturlauten
des Volksliedes lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß
es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es
weit einfacher sei, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gora Loke-
dyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des
eignen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen
und die eignen Worte echoschwach zurück zu erhalten.

Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offnes Auge gehabt, aber
er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen
war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und
deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals
ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt
nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand ge¬
wesen wäre.

Aber dazu gehörte etwas andres, und Ricks fiel mit Begeisterung über
seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst
nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig
er auch sein Amt verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für
eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so


Ricks Lyhne.

Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben
mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern
glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer
selbst willen — das war im Grunde das Wenigste —, aber es war ihm, als
sei seine Fahne dadurch befleckt. Logisch betrachtet freilich nicht, und doch!

Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war
jetzt allein und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch
als eine Erleichterung. Es gab so vieles, was seiner wartete. Das Jahr auf
Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch ge¬
nommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich
in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel
geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit
seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu
sammeln. Es gab so vieles, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel,
daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er
hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht
unabhängig von dem väterlichen Bücherschränke, und es liegt so nahe, auf der¬
selben Bahn weiterzuschreiten, die andre zum Ziele geführt hat, und deshalb
hatte er sich nicht selber ein „Vinland" in der weiten Welt der Bücher auf¬
gesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte
autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, das ihm gewinkt, um besser
in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine
Ohren für vieles verschlossen, das rief, um besser den mystischen Naturlauten
des Volksliedes lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß
es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es
weit einfacher sei, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gora Loke-
dyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des
eignen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen
und die eignen Worte echoschwach zurück zu erhalten.

Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offnes Auge gehabt, aber
er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen
war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und
deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals
ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt
nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand ge¬
wesen wäre.

Aber dazu gehörte etwas andres, und Ricks fiel mit Begeisterung über
seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst
nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig
er auch sein Amt verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für
eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0048" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289171"/>
          <fw type="header" place="top"> Ricks Lyhne.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_183"> Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben<lb/>
mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern<lb/>
glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer<lb/>
selbst willen &#x2014; das war im Grunde das Wenigste &#x2014;, aber es war ihm, als<lb/>
sei seine Fahne dadurch befleckt.  Logisch betrachtet freilich nicht, und doch!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_184"> Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war<lb/>
jetzt allein und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch<lb/>
als eine Erleichterung. Es gab so vieles, was seiner wartete. Das Jahr auf<lb/>
Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch ge¬<lb/>
nommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich<lb/>
in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel<lb/>
geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit<lb/>
seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu<lb/>
sammeln. Es gab so vieles, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel,<lb/>
daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er<lb/>
hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht<lb/>
unabhängig von dem väterlichen Bücherschränke, und es liegt so nahe, auf der¬<lb/>
selben Bahn weiterzuschreiten, die andre zum Ziele geführt hat, und deshalb<lb/>
hatte er sich nicht selber ein &#x201E;Vinland" in der weiten Welt der Bücher auf¬<lb/>
gesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte<lb/>
autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, das ihm gewinkt, um besser<lb/>
in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine<lb/>
Ohren für vieles verschlossen, das rief, um besser den mystischen Naturlauten<lb/>
des Volksliedes lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß<lb/>
es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es<lb/>
weit einfacher sei, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gora Loke-<lb/>
dyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des<lb/>
eignen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen<lb/>
und die eignen Worte echoschwach zurück zu erhalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_185"> Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offnes Auge gehabt, aber<lb/>
er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen<lb/>
war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und<lb/>
deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals<lb/>
ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt<lb/>
nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand ge¬<lb/>
wesen wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_186" next="#ID_187"> Aber dazu gehörte etwas andres, und Ricks fiel mit Begeisterung über<lb/>
seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst<lb/>
nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig<lb/>
er auch sein Amt verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für<lb/>
eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0048] Ricks Lyhne. Wenn er nur gewußt hätte, was sie doch eine Sekunde lang gewußt haben mußte, was sie jetzt aber vielleicht nicht mehr wußte. Er wollte so ungern glauben, wovon er sie doch so schwer freisprechen konnte. Nicht allein um ihrer selbst willen — das war im Grunde das Wenigste —, aber es war ihm, als sei seine Fahne dadurch befleckt. Logisch betrachtet freilich nicht, und doch! Wie sie ihn nun auch verlassen haben mochte, das eine stand fest: er war jetzt allein und er empfand es als eine Entbehrung, aber gleich darauf auch als eine Erleichterung. Es gab so vieles, was seiner wartete. Das Jahr auf Lönborggaard und im Auslande war, wie sehr es ihn auch in Anspruch ge¬ nommen hatte, eine unfreiwillige Ruhe gewesen, und der Umstand, daß er sich in diesem Jahre auf so mancherlei Weise klarer über seine Vorzüge und Mängel geworden war, konnte ja nur seinen Durst vermehren, in ungestörter Arbeit seine Kräfte zu gebrauchen. Nicht um zu schaffen, das eilte nicht, aber um zu sammeln. Es gab so vieles, was er sich aneignen mußte, so unübersehbar viel, daß er anfing, die Kürze des Lebens mit mißtrauischen Blicken zu messen. Er hatte auch früher die Zeit nicht vergeudet, aber man macht sich nicht so leicht unabhängig von dem väterlichen Bücherschränke, und es liegt so nahe, auf der¬ selben Bahn weiterzuschreiten, die andre zum Ziele geführt hat, und deshalb hatte er sich nicht selber ein „Vinland" in der weiten Welt der Bücher auf¬ gesucht, sondern war gefahren, wie die Väter vor ihm gefahren waren, hatte autoritätsgläubig seine Augen für vieles verschlossen, das ihm gewinkt, um besser in die große Nacht der Edda und der Sagen hineinsehen zu können, hatte seine Ohren für vieles verschlossen, das rief, um besser den mystischen Naturlauten des Volksliedes lauschen zu können. Jetzt hatte er endlich begriffen, daß es keine Naturnotwendigkeit war, altmodisch oder romantisch zu sein, und daß es weit einfacher sei, seine Zweifel selber auszusprechen, als sie Gora Loke- dyrker in den Mund zu legen, weit natürlicher, einen Laut für die Mystik des eignen Wesens zu finden, als gegen die mittelalterlichen Klostermauern anzurufen und die eignen Worte echoschwach zurück zu erhalten. Für das Neue in der Zeit hatte er ja stets ein offnes Auge gehabt, aber er hatte eigentlich mehr zugehört, wie das Neue dunkel im Alten ausgesprochen war, als daß er auf das gelauscht hätte, was das Neue selber ihm klar und deutlich zurief; und darin lag nichts Merkwürdiges, denn es ist noch niemals ein neues Evangelium hier auf Erden gepredigt worden, ohne daß die Welt nicht sofort mit einer Unmenge von alten Prophezeiungen bei der Hand ge¬ wesen wäre. Aber dazu gehörte etwas andres, und Ricks fiel mit Begeisterung über seine neue Arbeit her; er war von der Eroberungslust ergriffen, von dem Durst nach der Macht des Wissens, den wohl jeder Diener des Geistes, wie demütig er auch sein Amt verrichten mag, einmal empfunden hat, sei es auch nur für eine einzige armselige Stunde. Wer von uns, den ein gütiges Schicksal so

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/48
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/48>, abgerufen am 22.07.2024.