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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

Wer doch alles über sie wüßte!

Sie lachte bei dem Gedanke" an Frau Boyes neuen Mann.

Und die ganze Zeit, während sie mit all diesen Gedanken beschäftigt war,
sehnte sie sich, lauschte sie nach Ricks. sie dachte sich ihn kommend, immer
kommend, da draußen über das Eis her. Sie ahnte nicht, daß sich nun schon
seit zwei Stunden ein dunkler, kleiner Punkt aus der entgegengesetzten Richtung
über die schneeweißen Felder mühsam vorwärts gearbeitet hatte, um ihr eine
ganz andre Nachricht zu bringen als die, die sie von jenseits des Fjordes er¬
wartete. Es war nur ein Mann in einer Friesjacke und Schmierstiefeln, und
jetzt klopfte er an das Küchenfenster und flößte dem Mädchen einen tötlichen
Schreck ein.

Es sei ein Brief gekommen, sagte Trine, als sie zu ihrer Herrin ins
Zimmer trat.

Femnmore nahm das Papier; es war ein Telegramm. Ruhig reichte sie
dem Mädchen die Bescheinigung und ließ sie gehen; sie war nicht im geringsten
besorgt. Erik hatte ihr in letzter Zeit mehrmals telegraphirt, daß er am nächsten
Tage einige Gäste mit nach Hause bringen würde.

Und dann las sie.

Sie schrie plötzlich laut auf, fuhr entsetzt von ihrem Stuhle auf und starrte
mit namenloser Angst auf die Thür.

Sie wollte es nicht hier im Zimmer haben, sie wagte es nicht, und mit
einem Satze war sie an der Thür, stemmte ihre Schulter dagegen und drehte
an dem Schlüssel, bis ihr die Hand schmerzte. Aber er wollte nicht schließen,
wie sehr sie sich auch bemühte. Dann ließ sie die Hand sinken. Es war ja
auch richtig, es war gar nicht hier, sondern weit fort von ihr in einem fremden
Hause.

Sie fing an zu zittern, ihre Kniee trugen sie nicht mehr, sie glitt an der
Thür herab auf den Fußboden.

Erik war tot. Die Pferde waren durchgegangen, hatten den Wagen an
einer Straßenecke umgeworfen, und Erik war mit dem Kopfe gegen die Mauer
geschleudert worden. Nun lag er tot in Aalborg. So hatte sich die Sache
zugetragen, und das meiste davon stand in dem Telegramm. Außer ihm war
nur der weißhalsige Hauslehrer, der Araber, auf dem Wagen gewesen, der hatte
auch das Telegramm geschickt.

Sie lag am Boden und jammerte leise vor sich hin; die beiden Hände
hatte sie flach gegen den Teppich gepreßt, den Blick zu Boden gesenkt, aus¬
druckslos und starr, hilflos wiegte sie den Oberkörper von einer Seite zur
andern.

Noch vor wenig kurzen Augenblicken war es so hell und duftig um sie
her gewesen, sie konnte es nicht sofort alles aufgeben und in die pechschwarze
Nacht des Kummers und der Reue hüllen, wie sehr sie sich auch bemühte. Es


Ricks Lyhne.

Wer doch alles über sie wüßte!

Sie lachte bei dem Gedanke» an Frau Boyes neuen Mann.

Und die ganze Zeit, während sie mit all diesen Gedanken beschäftigt war,
sehnte sie sich, lauschte sie nach Ricks. sie dachte sich ihn kommend, immer
kommend, da draußen über das Eis her. Sie ahnte nicht, daß sich nun schon
seit zwei Stunden ein dunkler, kleiner Punkt aus der entgegengesetzten Richtung
über die schneeweißen Felder mühsam vorwärts gearbeitet hatte, um ihr eine
ganz andre Nachricht zu bringen als die, die sie von jenseits des Fjordes er¬
wartete. Es war nur ein Mann in einer Friesjacke und Schmierstiefeln, und
jetzt klopfte er an das Küchenfenster und flößte dem Mädchen einen tötlichen
Schreck ein.

Es sei ein Brief gekommen, sagte Trine, als sie zu ihrer Herrin ins
Zimmer trat.

Femnmore nahm das Papier; es war ein Telegramm. Ruhig reichte sie
dem Mädchen die Bescheinigung und ließ sie gehen; sie war nicht im geringsten
besorgt. Erik hatte ihr in letzter Zeit mehrmals telegraphirt, daß er am nächsten
Tage einige Gäste mit nach Hause bringen würde.

Und dann las sie.

Sie schrie plötzlich laut auf, fuhr entsetzt von ihrem Stuhle auf und starrte
mit namenloser Angst auf die Thür.

Sie wollte es nicht hier im Zimmer haben, sie wagte es nicht, und mit
einem Satze war sie an der Thür, stemmte ihre Schulter dagegen und drehte
an dem Schlüssel, bis ihr die Hand schmerzte. Aber er wollte nicht schließen,
wie sehr sie sich auch bemühte. Dann ließ sie die Hand sinken. Es war ja
auch richtig, es war gar nicht hier, sondern weit fort von ihr in einem fremden
Hause.

Sie fing an zu zittern, ihre Kniee trugen sie nicht mehr, sie glitt an der
Thür herab auf den Fußboden.

Erik war tot. Die Pferde waren durchgegangen, hatten den Wagen an
einer Straßenecke umgeworfen, und Erik war mit dem Kopfe gegen die Mauer
geschleudert worden. Nun lag er tot in Aalborg. So hatte sich die Sache
zugetragen, und das meiste davon stand in dem Telegramm. Außer ihm war
nur der weißhalsige Hauslehrer, der Araber, auf dem Wagen gewesen, der hatte
auch das Telegramm geschickt.

Sie lag am Boden und jammerte leise vor sich hin; die beiden Hände
hatte sie flach gegen den Teppich gepreßt, den Blick zu Boden gesenkt, aus¬
druckslos und starr, hilflos wiegte sie den Oberkörper von einer Seite zur
andern.

Noch vor wenig kurzen Augenblicken war es so hell und duftig um sie
her gewesen, sie konnte es nicht sofort alles aufgeben und in die pechschwarze
Nacht des Kummers und der Reue hüllen, wie sehr sie sich auch bemühte. Es


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[0435] Ricks Lyhne. Wer doch alles über sie wüßte! Sie lachte bei dem Gedanke» an Frau Boyes neuen Mann. Und die ganze Zeit, während sie mit all diesen Gedanken beschäftigt war, sehnte sie sich, lauschte sie nach Ricks. sie dachte sich ihn kommend, immer kommend, da draußen über das Eis her. Sie ahnte nicht, daß sich nun schon seit zwei Stunden ein dunkler, kleiner Punkt aus der entgegengesetzten Richtung über die schneeweißen Felder mühsam vorwärts gearbeitet hatte, um ihr eine ganz andre Nachricht zu bringen als die, die sie von jenseits des Fjordes er¬ wartete. Es war nur ein Mann in einer Friesjacke und Schmierstiefeln, und jetzt klopfte er an das Küchenfenster und flößte dem Mädchen einen tötlichen Schreck ein. Es sei ein Brief gekommen, sagte Trine, als sie zu ihrer Herrin ins Zimmer trat. Femnmore nahm das Papier; es war ein Telegramm. Ruhig reichte sie dem Mädchen die Bescheinigung und ließ sie gehen; sie war nicht im geringsten besorgt. Erik hatte ihr in letzter Zeit mehrmals telegraphirt, daß er am nächsten Tage einige Gäste mit nach Hause bringen würde. Und dann las sie. Sie schrie plötzlich laut auf, fuhr entsetzt von ihrem Stuhle auf und starrte mit namenloser Angst auf die Thür. Sie wollte es nicht hier im Zimmer haben, sie wagte es nicht, und mit einem Satze war sie an der Thür, stemmte ihre Schulter dagegen und drehte an dem Schlüssel, bis ihr die Hand schmerzte. Aber er wollte nicht schließen, wie sehr sie sich auch bemühte. Dann ließ sie die Hand sinken. Es war ja auch richtig, es war gar nicht hier, sondern weit fort von ihr in einem fremden Hause. Sie fing an zu zittern, ihre Kniee trugen sie nicht mehr, sie glitt an der Thür herab auf den Fußboden. Erik war tot. Die Pferde waren durchgegangen, hatten den Wagen an einer Straßenecke umgeworfen, und Erik war mit dem Kopfe gegen die Mauer geschleudert worden. Nun lag er tot in Aalborg. So hatte sich die Sache zugetragen, und das meiste davon stand in dem Telegramm. Außer ihm war nur der weißhalsige Hauslehrer, der Araber, auf dem Wagen gewesen, der hatte auch das Telegramm geschickt. Sie lag am Boden und jammerte leise vor sich hin; die beiden Hände hatte sie flach gegen den Teppich gepreßt, den Blick zu Boden gesenkt, aus¬ druckslos und starr, hilflos wiegte sie den Oberkörper von einer Seite zur andern. Noch vor wenig kurzen Augenblicken war es so hell und duftig um sie her gewesen, sie konnte es nicht sofort alles aufgeben und in die pechschwarze Nacht des Kummers und der Reue hüllen, wie sehr sie sich auch bemühte. Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/435>, abgerufen am 22.07.2024.