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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der gelehrten Kunstkritik.

Wohl für das Studium der Theologie nicht gar so viel Zeit übrig haben könne:
"die Natur bildet die Künstler, aber nicht die Gelehrten, und noch weniger die
Theologen." In merkwürdigem Gegensatz hierzu lautet der Schlußsatz seiner
Vorrede: "Ich suche den Malern Erläuterungen über die Wahrheit der Geschichte,
der Sätze der Religion, der Sitten und des Kostüms zu geben. Ich zeige
ihnen nicht nur, was die bisherigen Maler gewagt haben, vorzustellen, sondern
bei Gelegenheit auch, wie sie sich dabei hätten verhalten sollen." Darauf werden
die einzelnen Szenen und Darstellungen des neuen Testaments der Reihe nach
durchgesprochen und mit ebenso ausführlichen wie überflüssigen Erörterungen über
die Trachten und einzelnen Lebensgewohnheiten der orientalischen Völker begleitet.
Daß den Künstler irgendwelche andern Absichten leiten können, als solche Ver¬
nünftelei, scheint Pelletier nicht einzuleuchten. Das "einzige Mittel, um den Beifall
der Nachwelt zu erhalten," sieht er darin, daß "der Maler Werke liefere, die ganz
mit der Wahrheit übereinkommen." Ein Wereschagin würde sich also wohl
seines Beifalls erfreut haben, während sich im neunzehnten Jahrhundert be¬
kanntlich die Geistlichkeit Wiens nicht zu solcher Auffassung aus der Zeit der
Allongeperücken bekennen wollte.

Italien und Spanien steuerten zu der Diskussion ebenfalls das ihre bei,
namentlich das spanische Werk Ayalas ?1ot>or onristiMus kruäitus (Madrid,
1730), welches den ganzen christlichen Bilderkreis umfaßt, muß hier erwähnt
werden.

Daß auch die Künstler selbst sich mit der Frage nach dem "Lokal¬
kolorit" in den biblisch-historischen Darstellungen -- wie es in unserm Kunst¬
jargon heißen würde -- befaßten, beweisen uns einzelne ^onKrönokZ Ah l'^o^
avais roznle ac xöiuwrg et Ä6 sorüvwrö in Paris, die zeitweise einen so
stürmischen Charakter annahmen, daß man die Sitzungen einstellen mußte.
Freilich zog man es hier, wo die Künstler unter sich waren, vor, seine Kritik
an den älteren Meistern zu üben. So beanstandete man namentlich die Dar¬
stellung heiliger Szenen in der spätern venezianischen Schule, die übrigens schon
1573 Paolo Veronese vor die Schranken des venezianischen Jnquisitions-
tribunals gebracht hatten. Es sei doch, meinte in einer Sitzung Louis Bou-
logne, höchst bedenklich, wenn im Hintergrunde der vierZs M 1s,M von Tizian
sich Renaissancebauten erhöben, deren Stil zur Zeit und Gegend der dargestellten
Szene durchaus nicht passen wollten. Glücklicher Alma Tadema und Genossen,
die ihr solchen Vorwürfen den blanken Schild eurer archäologischen Gewissen¬
haftigkeit entgegenhalten könnt, wo ein Tizian wehrlos vor dem Richterstuhl
der gelehrten Kunstkritik stehen mußte!

Gegenüber diesen Beispielen von Urteilslosigkeit der Mediziner und Theo¬
logen in Sachen der Kunst -- welchem Kenner der gegenwärtigen Kunstlitte¬
ratur fielen nicht zahlreiche Epigonen eines Biondo und Jünger ein! -- wird
man sich mit den gleichzeitigen Leistungen der philosophischen Fakultät auf


Grenzboten III. iggg. 5g
Zur Geschichte der gelehrten Kunstkritik.

Wohl für das Studium der Theologie nicht gar so viel Zeit übrig haben könne:
„die Natur bildet die Künstler, aber nicht die Gelehrten, und noch weniger die
Theologen." In merkwürdigem Gegensatz hierzu lautet der Schlußsatz seiner
Vorrede: „Ich suche den Malern Erläuterungen über die Wahrheit der Geschichte,
der Sätze der Religion, der Sitten und des Kostüms zu geben. Ich zeige
ihnen nicht nur, was die bisherigen Maler gewagt haben, vorzustellen, sondern
bei Gelegenheit auch, wie sie sich dabei hätten verhalten sollen." Darauf werden
die einzelnen Szenen und Darstellungen des neuen Testaments der Reihe nach
durchgesprochen und mit ebenso ausführlichen wie überflüssigen Erörterungen über
die Trachten und einzelnen Lebensgewohnheiten der orientalischen Völker begleitet.
Daß den Künstler irgendwelche andern Absichten leiten können, als solche Ver¬
nünftelei, scheint Pelletier nicht einzuleuchten. Das „einzige Mittel, um den Beifall
der Nachwelt zu erhalten," sieht er darin, daß „der Maler Werke liefere, die ganz
mit der Wahrheit übereinkommen." Ein Wereschagin würde sich also wohl
seines Beifalls erfreut haben, während sich im neunzehnten Jahrhundert be¬
kanntlich die Geistlichkeit Wiens nicht zu solcher Auffassung aus der Zeit der
Allongeperücken bekennen wollte.

Italien und Spanien steuerten zu der Diskussion ebenfalls das ihre bei,
namentlich das spanische Werk Ayalas ?1ot>or onristiMus kruäitus (Madrid,
1730), welches den ganzen christlichen Bilderkreis umfaßt, muß hier erwähnt
werden.

Daß auch die Künstler selbst sich mit der Frage nach dem „Lokal¬
kolorit" in den biblisch-historischen Darstellungen — wie es in unserm Kunst¬
jargon heißen würde — befaßten, beweisen uns einzelne ^onKrönokZ Ah l'^o^
avais roznle ac xöiuwrg et Ä6 sorüvwrö in Paris, die zeitweise einen so
stürmischen Charakter annahmen, daß man die Sitzungen einstellen mußte.
Freilich zog man es hier, wo die Künstler unter sich waren, vor, seine Kritik
an den älteren Meistern zu üben. So beanstandete man namentlich die Dar¬
stellung heiliger Szenen in der spätern venezianischen Schule, die übrigens schon
1573 Paolo Veronese vor die Schranken des venezianischen Jnquisitions-
tribunals gebracht hatten. Es sei doch, meinte in einer Sitzung Louis Bou-
logne, höchst bedenklich, wenn im Hintergrunde der vierZs M 1s,M von Tizian
sich Renaissancebauten erhöben, deren Stil zur Zeit und Gegend der dargestellten
Szene durchaus nicht passen wollten. Glücklicher Alma Tadema und Genossen,
die ihr solchen Vorwürfen den blanken Schild eurer archäologischen Gewissen¬
haftigkeit entgegenhalten könnt, wo ein Tizian wehrlos vor dem Richterstuhl
der gelehrten Kunstkritik stehen mußte!

Gegenüber diesen Beispielen von Urteilslosigkeit der Mediziner und Theo¬
logen in Sachen der Kunst — welchem Kenner der gegenwärtigen Kunstlitte¬
ratur fielen nicht zahlreiche Epigonen eines Biondo und Jünger ein! — wird
man sich mit den gleichzeitigen Leistungen der philosophischen Fakultät auf


Grenzboten III. iggg. 5g
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[0425] Zur Geschichte der gelehrten Kunstkritik. Wohl für das Studium der Theologie nicht gar so viel Zeit übrig haben könne: „die Natur bildet die Künstler, aber nicht die Gelehrten, und noch weniger die Theologen." In merkwürdigem Gegensatz hierzu lautet der Schlußsatz seiner Vorrede: „Ich suche den Malern Erläuterungen über die Wahrheit der Geschichte, der Sätze der Religion, der Sitten und des Kostüms zu geben. Ich zeige ihnen nicht nur, was die bisherigen Maler gewagt haben, vorzustellen, sondern bei Gelegenheit auch, wie sie sich dabei hätten verhalten sollen." Darauf werden die einzelnen Szenen und Darstellungen des neuen Testaments der Reihe nach durchgesprochen und mit ebenso ausführlichen wie überflüssigen Erörterungen über die Trachten und einzelnen Lebensgewohnheiten der orientalischen Völker begleitet. Daß den Künstler irgendwelche andern Absichten leiten können, als solche Ver¬ nünftelei, scheint Pelletier nicht einzuleuchten. Das „einzige Mittel, um den Beifall der Nachwelt zu erhalten," sieht er darin, daß „der Maler Werke liefere, die ganz mit der Wahrheit übereinkommen." Ein Wereschagin würde sich also wohl seines Beifalls erfreut haben, während sich im neunzehnten Jahrhundert be¬ kanntlich die Geistlichkeit Wiens nicht zu solcher Auffassung aus der Zeit der Allongeperücken bekennen wollte. Italien und Spanien steuerten zu der Diskussion ebenfalls das ihre bei, namentlich das spanische Werk Ayalas ?1ot>or onristiMus kruäitus (Madrid, 1730), welches den ganzen christlichen Bilderkreis umfaßt, muß hier erwähnt werden. Daß auch die Künstler selbst sich mit der Frage nach dem „Lokal¬ kolorit" in den biblisch-historischen Darstellungen — wie es in unserm Kunst¬ jargon heißen würde — befaßten, beweisen uns einzelne ^onKrönokZ Ah l'^o^ avais roznle ac xöiuwrg et Ä6 sorüvwrö in Paris, die zeitweise einen so stürmischen Charakter annahmen, daß man die Sitzungen einstellen mußte. Freilich zog man es hier, wo die Künstler unter sich waren, vor, seine Kritik an den älteren Meistern zu üben. So beanstandete man namentlich die Dar¬ stellung heiliger Szenen in der spätern venezianischen Schule, die übrigens schon 1573 Paolo Veronese vor die Schranken des venezianischen Jnquisitions- tribunals gebracht hatten. Es sei doch, meinte in einer Sitzung Louis Bou- logne, höchst bedenklich, wenn im Hintergrunde der vierZs M 1s,M von Tizian sich Renaissancebauten erhöben, deren Stil zur Zeit und Gegend der dargestellten Szene durchaus nicht passen wollten. Glücklicher Alma Tadema und Genossen, die ihr solchen Vorwürfen den blanken Schild eurer archäologischen Gewissen¬ haftigkeit entgegenhalten könnt, wo ein Tizian wehrlos vor dem Richterstuhl der gelehrten Kunstkritik stehen mußte! Gegenüber diesen Beispielen von Urteilslosigkeit der Mediziner und Theo¬ logen in Sachen der Kunst — welchem Kenner der gegenwärtigen Kunstlitte¬ ratur fielen nicht zahlreiche Epigonen eines Biondo und Jünger ein! — wird man sich mit den gleichzeitigen Leistungen der philosophischen Fakultät auf Grenzboten III. iggg. 5g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/425>, abgerufen am 03.07.2024.