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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

das praktische Bedürfnis sich wohlthätig erwiesen. Beide sind aber auch keine
Kodifikationen. Die Wechselordnung umfaßt ein einzelnes Rechtsinstitut, das
zufolge des im Wechsel vorherrschenden formalen Elements sich vorzugsweise
zur Ordnung durch positives Gesetz eignet. Auch das Handelsgesetzbuch, obwohl
es ein weit umfassenderes Gesetz ist, lehnt doch durch Artikel 1, worin es heißt,
daß in Handelssachen neben den Bestimmungen dieses Gesetzbuches die Handels¬
gebräuche und das allgemeine bürgerliche Recht Anwendung finden sollen, den
Charakter einer Kodifikation bestimmt ab. Betrachten wir heute Entscheidungen
aus dem Gebiete des Handelsrechts, so werden wir finden, daß in solchen das
gemeine Recht kaum eine geringere Rolle spielt als die Bestimmungen des
Handelsgesetzbuches.

Aber auch der Gedanke an Kodifikation des gesamten Zivilrechts trat wieder
auf, zunächst nur als ein Ziel für die Gesetzgebung der Einzelstaaten. In
Sachsen, Baiern und Hessen-Darmstadt wurden Entwürfe zu Zivilgesetzbüchern
ausgearbeitet, die mehr oder minder weit gediehen und auch an die Öffentlichkeit
gelangten. Dann aber wurde im Jahre 1861 von einer Anzahl deutscher
Staaten -- Preußen beteiligte sich nicht dabei -- eine Kommission zu Dresden
niedergesetzt, die ein gemeinsames deutsches Obligationenrecht schaffen sollte. Von
allen diesen Entwürfen ist nur ein einziger Gesetz geworden. Für das König¬
reich Sachsen ist im Jahre 1865 ein vollständiges Zivilgesetzbuch ins Leben
getreten. Über die Wirksamkeit desselben ist außerhalb Sachsens wenig bekannt
geworden, da namentlich auch die sächsische Regierung dadurch, daß sie für
Sachsen nur ein einziges Oberlandesgericht schuf, ihrem Lande für die auf das
Zivilgesetzbuch sich gründende Rechtsprechung die Immunität von der Revisions¬
instanz des Reichsgerichts zu bewahren gewußt hat. Die thüringischen und
anhaltischen Staaten, die an der Beratung des sächsischen Zivilgesetzbuches teil¬
genommen hatten, haben es bei sich nicht eingeführt.

Als nach dem großen Umschwunge der deutschen Verhältnisse der nord¬
deutsche Bund geschaffen wurde, gehörte es zu den Wünschen der national¬
gesinnten Parteien, daß die Zuständigkeit des Bundes auf die Gesetzgebung für
das gesamte Zivilrecht ausgedehnt werden möge. Da diese Ausdehnung nicht
gleich zu stände kam, so ging die Frage auf das deutsche Reich über und bildete
noch zu Anfang der siebziger Jahre den Gegenstand wiederholter Verhandlungen
im Reichstage. Niemals ist bei diesen Verhandlungen die Frage zum Austrag
gekommen, ob diese Ausdehnung der Zuständigkeit darauf abziele, daß mit Einzel¬
gesetzen vorgegangen werde oder daß eine Kodifikation geschaffen werden solle.
Nur einzelne Redner sprachen sich gelegentlich darüber aus, wie sie sich die
Sache dachten. Die weitaus überwiegende Zahl derselben erklärte sich dahin,
daß sie nur ein Vorgehen mit Einzelgesetzen im Auge hätten. So z. B. sagte
am 30. März 1867 der Abgeordnete von Gerber (jetzt sächsischer Kultusminister):
"Ich glaube, die einzelnen Gebiete des Rechts liegen verschieden; ich würde gar


Das bürgerliche Gesetzbuch und die Zukunft der deutschen Rechtsprechung.

das praktische Bedürfnis sich wohlthätig erwiesen. Beide sind aber auch keine
Kodifikationen. Die Wechselordnung umfaßt ein einzelnes Rechtsinstitut, das
zufolge des im Wechsel vorherrschenden formalen Elements sich vorzugsweise
zur Ordnung durch positives Gesetz eignet. Auch das Handelsgesetzbuch, obwohl
es ein weit umfassenderes Gesetz ist, lehnt doch durch Artikel 1, worin es heißt,
daß in Handelssachen neben den Bestimmungen dieses Gesetzbuches die Handels¬
gebräuche und das allgemeine bürgerliche Recht Anwendung finden sollen, den
Charakter einer Kodifikation bestimmt ab. Betrachten wir heute Entscheidungen
aus dem Gebiete des Handelsrechts, so werden wir finden, daß in solchen das
gemeine Recht kaum eine geringere Rolle spielt als die Bestimmungen des
Handelsgesetzbuches.

Aber auch der Gedanke an Kodifikation des gesamten Zivilrechts trat wieder
auf, zunächst nur als ein Ziel für die Gesetzgebung der Einzelstaaten. In
Sachsen, Baiern und Hessen-Darmstadt wurden Entwürfe zu Zivilgesetzbüchern
ausgearbeitet, die mehr oder minder weit gediehen und auch an die Öffentlichkeit
gelangten. Dann aber wurde im Jahre 1861 von einer Anzahl deutscher
Staaten — Preußen beteiligte sich nicht dabei — eine Kommission zu Dresden
niedergesetzt, die ein gemeinsames deutsches Obligationenrecht schaffen sollte. Von
allen diesen Entwürfen ist nur ein einziger Gesetz geworden. Für das König¬
reich Sachsen ist im Jahre 1865 ein vollständiges Zivilgesetzbuch ins Leben
getreten. Über die Wirksamkeit desselben ist außerhalb Sachsens wenig bekannt
geworden, da namentlich auch die sächsische Regierung dadurch, daß sie für
Sachsen nur ein einziges Oberlandesgericht schuf, ihrem Lande für die auf das
Zivilgesetzbuch sich gründende Rechtsprechung die Immunität von der Revisions¬
instanz des Reichsgerichts zu bewahren gewußt hat. Die thüringischen und
anhaltischen Staaten, die an der Beratung des sächsischen Zivilgesetzbuches teil¬
genommen hatten, haben es bei sich nicht eingeführt.

Als nach dem großen Umschwunge der deutschen Verhältnisse der nord¬
deutsche Bund geschaffen wurde, gehörte es zu den Wünschen der national¬
gesinnten Parteien, daß die Zuständigkeit des Bundes auf die Gesetzgebung für
das gesamte Zivilrecht ausgedehnt werden möge. Da diese Ausdehnung nicht
gleich zu stände kam, so ging die Frage auf das deutsche Reich über und bildete
noch zu Anfang der siebziger Jahre den Gegenstand wiederholter Verhandlungen
im Reichstage. Niemals ist bei diesen Verhandlungen die Frage zum Austrag
gekommen, ob diese Ausdehnung der Zuständigkeit darauf abziele, daß mit Einzel¬
gesetzen vorgegangen werde oder daß eine Kodifikation geschaffen werden solle.
Nur einzelne Redner sprachen sich gelegentlich darüber aus, wie sie sich die
Sache dachten. Die weitaus überwiegende Zahl derselben erklärte sich dahin,
daß sie nur ein Vorgehen mit Einzelgesetzen im Auge hätten. So z. B. sagte
am 30. März 1867 der Abgeordnete von Gerber (jetzt sächsischer Kultusminister):
„Ich glaube, die einzelnen Gebiete des Rechts liegen verschieden; ich würde gar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/404>, abgerufen am 22.07.2024.