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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

war doch höher, damals lebte man noch in jugendlicher Begeisterung für ein
Ideal, für das Altertum, damals strebte man nach wirklicher Bildung, nach
Vielseitigkeit, nach Schönheit und Kunstfertigkeit in allem; heute ist man an¬
gegreift, beschäftigt sich einseitig und glaubt nicht an Idealismus, an selbstlose
Hingebung. Freilich von der sittlichen Wirkung der Wissenschaft, von der sonst
gesprochen wird, war schon damals wenig zu verspüren, gerade die Humanisten
bieten Musterstücke an Halt- und Charakterlosigkeit, und auch heute noch
scheint es, als ob das Ärmliche der Beschäftigung, die Kleinlichkeit des Materials
die Menschen klein und erbärmlich mache. Im Schweiße des Angesichts kehrt
so ein Dutzendschüler, Urkunden- und Quellcnjüngling oder -Meister einige
Staubkörnchcn um und um und wieder um, und dann setzt er sich auf seinen
Maulwurfparnaß, wie ein König der Zwerge, breit und geschwollen, ohne zu sehen,
daß Berge rings ihn naturam. Wie jener Frankfurter Bürger, steht er am
brausende" Strome der Zeit, blickt zur Brücke und sagt sich mit Wohlgefallen:
Alles, was du durch jenen Bogenpfeiler erkennst, alles ist Frankfurter Land.

Die Beschränktheit entspringt guten Teils dem Charakter des Deutschen,
zumal desjenigen Deutschen, der noch überall Schlagbäume sah, wirkliche und
geistige, das junge Reich arbeitet ihr mächtig entgegen. Aber zugleich mit ihr
entweicht ihre liebenswürdige Schwester: die Bescheidenheit. Kein Geringerer
als Mommsen hat gesagt: "Wir sind durchaus nicht bescheiden und wünschen
nicht dafür gehalten zu werden." Wie groß wäre das Wort, wenn alle die
durchaus nicht bescheidenen Leute wie Mommsen wären! Und doch, auch in
Jakob Grimm leuchtete das Genie, und alle Bescheidenheit that ihm nicht Ab¬
bruch. Vielleicht fühlte er sich innerlich glücklicher als seine fortgeschrittenen
Nachfolger.

Der Spezialismus bietet den Vorteil der Vertiefung, der Gründlichkeit im
besondern, aber auch den Nachteil der Einseitigkeit und was mit ihr zusammen¬
hängt; er ist mithin Fels und Klippe zugleich.

Alles das gilt natürlich nur, wenn Spezialismus und Einseitigkeit zu¬
sammenfallen, oder doch jener mit geringem Studienumfange verbunden ist,
wenn er innerlich hierauf beruht. Anders verhält es sich mit Gelehrten, die
weite Gebiete beherrschen und doch ihrem Wesen nach Spezialforscher waren,
etwa wie Waitz im Mittelalter, Gutschmid im Altertume. (Schluß folgt.)




Gefahren in der Geschichtswissenschaft.

war doch höher, damals lebte man noch in jugendlicher Begeisterung für ein
Ideal, für das Altertum, damals strebte man nach wirklicher Bildung, nach
Vielseitigkeit, nach Schönheit und Kunstfertigkeit in allem; heute ist man an¬
gegreift, beschäftigt sich einseitig und glaubt nicht an Idealismus, an selbstlose
Hingebung. Freilich von der sittlichen Wirkung der Wissenschaft, von der sonst
gesprochen wird, war schon damals wenig zu verspüren, gerade die Humanisten
bieten Musterstücke an Halt- und Charakterlosigkeit, und auch heute noch
scheint es, als ob das Ärmliche der Beschäftigung, die Kleinlichkeit des Materials
die Menschen klein und erbärmlich mache. Im Schweiße des Angesichts kehrt
so ein Dutzendschüler, Urkunden- und Quellcnjüngling oder -Meister einige
Staubkörnchcn um und um und wieder um, und dann setzt er sich auf seinen
Maulwurfparnaß, wie ein König der Zwerge, breit und geschwollen, ohne zu sehen,
daß Berge rings ihn naturam. Wie jener Frankfurter Bürger, steht er am
brausende» Strome der Zeit, blickt zur Brücke und sagt sich mit Wohlgefallen:
Alles, was du durch jenen Bogenpfeiler erkennst, alles ist Frankfurter Land.

Die Beschränktheit entspringt guten Teils dem Charakter des Deutschen,
zumal desjenigen Deutschen, der noch überall Schlagbäume sah, wirkliche und
geistige, das junge Reich arbeitet ihr mächtig entgegen. Aber zugleich mit ihr
entweicht ihre liebenswürdige Schwester: die Bescheidenheit. Kein Geringerer
als Mommsen hat gesagt: „Wir sind durchaus nicht bescheiden und wünschen
nicht dafür gehalten zu werden." Wie groß wäre das Wort, wenn alle die
durchaus nicht bescheidenen Leute wie Mommsen wären! Und doch, auch in
Jakob Grimm leuchtete das Genie, und alle Bescheidenheit that ihm nicht Ab¬
bruch. Vielleicht fühlte er sich innerlich glücklicher als seine fortgeschrittenen
Nachfolger.

Der Spezialismus bietet den Vorteil der Vertiefung, der Gründlichkeit im
besondern, aber auch den Nachteil der Einseitigkeit und was mit ihr zusammen¬
hängt; er ist mithin Fels und Klippe zugleich.

Alles das gilt natürlich nur, wenn Spezialismus und Einseitigkeit zu¬
sammenfallen, oder doch jener mit geringem Studienumfange verbunden ist,
wenn er innerlich hierauf beruht. Anders verhält es sich mit Gelehrten, die
weite Gebiete beherrschen und doch ihrem Wesen nach Spezialforscher waren,
etwa wie Waitz im Mittelalter, Gutschmid im Altertume. (Schluß folgt.)




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[0360] Gefahren in der Geschichtswissenschaft. war doch höher, damals lebte man noch in jugendlicher Begeisterung für ein Ideal, für das Altertum, damals strebte man nach wirklicher Bildung, nach Vielseitigkeit, nach Schönheit und Kunstfertigkeit in allem; heute ist man an¬ gegreift, beschäftigt sich einseitig und glaubt nicht an Idealismus, an selbstlose Hingebung. Freilich von der sittlichen Wirkung der Wissenschaft, von der sonst gesprochen wird, war schon damals wenig zu verspüren, gerade die Humanisten bieten Musterstücke an Halt- und Charakterlosigkeit, und auch heute noch scheint es, als ob das Ärmliche der Beschäftigung, die Kleinlichkeit des Materials die Menschen klein und erbärmlich mache. Im Schweiße des Angesichts kehrt so ein Dutzendschüler, Urkunden- und Quellcnjüngling oder -Meister einige Staubkörnchcn um und um und wieder um, und dann setzt er sich auf seinen Maulwurfparnaß, wie ein König der Zwerge, breit und geschwollen, ohne zu sehen, daß Berge rings ihn naturam. Wie jener Frankfurter Bürger, steht er am brausende» Strome der Zeit, blickt zur Brücke und sagt sich mit Wohlgefallen: Alles, was du durch jenen Bogenpfeiler erkennst, alles ist Frankfurter Land. Die Beschränktheit entspringt guten Teils dem Charakter des Deutschen, zumal desjenigen Deutschen, der noch überall Schlagbäume sah, wirkliche und geistige, das junge Reich arbeitet ihr mächtig entgegen. Aber zugleich mit ihr entweicht ihre liebenswürdige Schwester: die Bescheidenheit. Kein Geringerer als Mommsen hat gesagt: „Wir sind durchaus nicht bescheiden und wünschen nicht dafür gehalten zu werden." Wie groß wäre das Wort, wenn alle die durchaus nicht bescheidenen Leute wie Mommsen wären! Und doch, auch in Jakob Grimm leuchtete das Genie, und alle Bescheidenheit that ihm nicht Ab¬ bruch. Vielleicht fühlte er sich innerlich glücklicher als seine fortgeschrittenen Nachfolger. Der Spezialismus bietet den Vorteil der Vertiefung, der Gründlichkeit im besondern, aber auch den Nachteil der Einseitigkeit und was mit ihr zusammen¬ hängt; er ist mithin Fels und Klippe zugleich. Alles das gilt natürlich nur, wenn Spezialismus und Einseitigkeit zu¬ sammenfallen, oder doch jener mit geringem Studienumfange verbunden ist, wenn er innerlich hierauf beruht. Anders verhält es sich mit Gelehrten, die weite Gebiete beherrschen und doch ihrem Wesen nach Spezialforscher waren, etwa wie Waitz im Mittelalter, Gutschmid im Altertume. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/360>, abgerufen am 29.06.2024.