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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Gefahren in der Geschichtswissenschaft,

zu verurteilen. Es wurde" Bücher geschrieben, eigentlich nur für den, der sie
schrieb, höchstens noch für einen oder einige Genossen. Der Begriff von
Wichtigem und Unwichtigem verwischte sich, die Wissenschaft gedieh bisweilen
geradezu zum Spott. Hatte man früher über hohe, unlösbare Fragen ge¬
stritten, so kämpfte man jetzt um niedere, die nicht selten ebenso ungelöst blieben.
"Mit der genialen Fähigkeit, es sich sauer werden zu lassen, verband man keine
Empfänglichkeit für irgend welche andre Genialität." In der besten deutschen
Zeitschrift, in den Fliegenden Blättern, war kürzlich die Frage aufgeworfen:
"Was ist ein Professor?" und die Antwort lautete: "Ein Mann, der andrer
Meinung ist." In Deutschland besteht nun die Mehrzahl der Geschichtsbe-
flissenen aus Professoren oder doch aus solchen, die es gerne würden. Und
wohl nirgends hegen die Gelehrten so wenig wahre, aufrichtige Achtung vor
einander, als bei den Deutschen, nirgends finden sich derartige gleiche Extreme
von kniefälliger Anbetung und selbstgefälligen Hochmute. Renans Ausspruch:
"Kaum einer mit Ausnahme Littres könne ein Versehen eingestehen, ohne an
seiner Würde zu verlieren" gilt leider nicht allein für Frankreich, und weit
mehr noch, als er wirklich gilt, glauben viele ihn befolgen zu müssen. Und
doch ist gerade der Irrtum das Erbteil des Menschen, und ihn zu überwinden
und sich dessen nicht zu schämen ist schöne Menschlichkeit, ist wahres Gelehrten-
tum. Je mehr man sich in einen Gegenstand vertieft, je öfter man ihn von
neuem betrachtet, umso weiter rückt die Grenze der Wahrheit. stupide Hart¬
näckigkeit, sagen wir Größenwahn, und Überzeugungstreue wird nur zu oft
verwechselt.

Das ganze Getriebe erzeugte Bevorzugung und Großziehung der Mittel¬
mäßigkeit, denn gerade das Genie irrt am leichtesten in Nebendingen, weil es
das Große, die heutige Wissenschaft gewöhnlich das Kleine vor Augen hat.
Der Dünkel stieg nur zu oft in dem Verhältnisse des kleiner werdenden Leser¬
kreises. Wie schön ist es, wenn man glaubt oder sich einredet: Wovon ich etwas
verstehe, weiß sonst niemand etwas; welch ein großer Mann bin ich doch! Die
Jünger, die sich um einen Lehrer sammelten und dessen Kunst inne zu haben
glaubten, erstarrten nicht selten zur Kaste. Das trifft selbständige Köpfe am
leichtesten, denn sie haben am wenigsten Lust, ihre Freiheit für so und so viele
Vorteile aufzugeben, besitzen am meisten das Gefühl, sich auf sich selber ver¬
lassen zu können. Eine der schlimmsten Cliquen war bekanntlich die Scherers.
Seine Geschichte der deutschen Litteratur liest sich recht gut, zeigt viel Geist,
viele unbegründete Phantasie und nicht selten baren historischen Unsinn. Und
doch wie wurde das Buch ausposaunt! Wie anders würde das Urteil gelautet
haben, wenn ein andrer als Scherer jene Dinge verbrochen hätte! Wir sind
ziemlich wieder bei dem Treiben der italienischen Humanisten des fünfzehnten
Jahrhunderts angelangt, die es auch so trefflich verstanden, "Akademien" zu
bilden und sich gegenseitig unsterblich zu machen. Aber nein, jenes Treiben


Gefahren in der Geschichtswissenschaft,

zu verurteilen. Es wurde» Bücher geschrieben, eigentlich nur für den, der sie
schrieb, höchstens noch für einen oder einige Genossen. Der Begriff von
Wichtigem und Unwichtigem verwischte sich, die Wissenschaft gedieh bisweilen
geradezu zum Spott. Hatte man früher über hohe, unlösbare Fragen ge¬
stritten, so kämpfte man jetzt um niedere, die nicht selten ebenso ungelöst blieben.
„Mit der genialen Fähigkeit, es sich sauer werden zu lassen, verband man keine
Empfänglichkeit für irgend welche andre Genialität." In der besten deutschen
Zeitschrift, in den Fliegenden Blättern, war kürzlich die Frage aufgeworfen:
„Was ist ein Professor?" und die Antwort lautete: „Ein Mann, der andrer
Meinung ist." In Deutschland besteht nun die Mehrzahl der Geschichtsbe-
flissenen aus Professoren oder doch aus solchen, die es gerne würden. Und
wohl nirgends hegen die Gelehrten so wenig wahre, aufrichtige Achtung vor
einander, als bei den Deutschen, nirgends finden sich derartige gleiche Extreme
von kniefälliger Anbetung und selbstgefälligen Hochmute. Renans Ausspruch:
„Kaum einer mit Ausnahme Littres könne ein Versehen eingestehen, ohne an
seiner Würde zu verlieren" gilt leider nicht allein für Frankreich, und weit
mehr noch, als er wirklich gilt, glauben viele ihn befolgen zu müssen. Und
doch ist gerade der Irrtum das Erbteil des Menschen, und ihn zu überwinden
und sich dessen nicht zu schämen ist schöne Menschlichkeit, ist wahres Gelehrten-
tum. Je mehr man sich in einen Gegenstand vertieft, je öfter man ihn von
neuem betrachtet, umso weiter rückt die Grenze der Wahrheit. stupide Hart¬
näckigkeit, sagen wir Größenwahn, und Überzeugungstreue wird nur zu oft
verwechselt.

Das ganze Getriebe erzeugte Bevorzugung und Großziehung der Mittel¬
mäßigkeit, denn gerade das Genie irrt am leichtesten in Nebendingen, weil es
das Große, die heutige Wissenschaft gewöhnlich das Kleine vor Augen hat.
Der Dünkel stieg nur zu oft in dem Verhältnisse des kleiner werdenden Leser¬
kreises. Wie schön ist es, wenn man glaubt oder sich einredet: Wovon ich etwas
verstehe, weiß sonst niemand etwas; welch ein großer Mann bin ich doch! Die
Jünger, die sich um einen Lehrer sammelten und dessen Kunst inne zu haben
glaubten, erstarrten nicht selten zur Kaste. Das trifft selbständige Köpfe am
leichtesten, denn sie haben am wenigsten Lust, ihre Freiheit für so und so viele
Vorteile aufzugeben, besitzen am meisten das Gefühl, sich auf sich selber ver¬
lassen zu können. Eine der schlimmsten Cliquen war bekanntlich die Scherers.
Seine Geschichte der deutschen Litteratur liest sich recht gut, zeigt viel Geist,
viele unbegründete Phantasie und nicht selten baren historischen Unsinn. Und
doch wie wurde das Buch ausposaunt! Wie anders würde das Urteil gelautet
haben, wenn ein andrer als Scherer jene Dinge verbrochen hätte! Wir sind
ziemlich wieder bei dem Treiben der italienischen Humanisten des fünfzehnten
Jahrhunderts angelangt, die es auch so trefflich verstanden, „Akademien" zu
bilden und sich gegenseitig unsterblich zu machen. Aber nein, jenes Treiben


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[0359] Gefahren in der Geschichtswissenschaft, zu verurteilen. Es wurde» Bücher geschrieben, eigentlich nur für den, der sie schrieb, höchstens noch für einen oder einige Genossen. Der Begriff von Wichtigem und Unwichtigem verwischte sich, die Wissenschaft gedieh bisweilen geradezu zum Spott. Hatte man früher über hohe, unlösbare Fragen ge¬ stritten, so kämpfte man jetzt um niedere, die nicht selten ebenso ungelöst blieben. „Mit der genialen Fähigkeit, es sich sauer werden zu lassen, verband man keine Empfänglichkeit für irgend welche andre Genialität." In der besten deutschen Zeitschrift, in den Fliegenden Blättern, war kürzlich die Frage aufgeworfen: „Was ist ein Professor?" und die Antwort lautete: „Ein Mann, der andrer Meinung ist." In Deutschland besteht nun die Mehrzahl der Geschichtsbe- flissenen aus Professoren oder doch aus solchen, die es gerne würden. Und wohl nirgends hegen die Gelehrten so wenig wahre, aufrichtige Achtung vor einander, als bei den Deutschen, nirgends finden sich derartige gleiche Extreme von kniefälliger Anbetung und selbstgefälligen Hochmute. Renans Ausspruch: „Kaum einer mit Ausnahme Littres könne ein Versehen eingestehen, ohne an seiner Würde zu verlieren" gilt leider nicht allein für Frankreich, und weit mehr noch, als er wirklich gilt, glauben viele ihn befolgen zu müssen. Und doch ist gerade der Irrtum das Erbteil des Menschen, und ihn zu überwinden und sich dessen nicht zu schämen ist schöne Menschlichkeit, ist wahres Gelehrten- tum. Je mehr man sich in einen Gegenstand vertieft, je öfter man ihn von neuem betrachtet, umso weiter rückt die Grenze der Wahrheit. stupide Hart¬ näckigkeit, sagen wir Größenwahn, und Überzeugungstreue wird nur zu oft verwechselt. Das ganze Getriebe erzeugte Bevorzugung und Großziehung der Mittel¬ mäßigkeit, denn gerade das Genie irrt am leichtesten in Nebendingen, weil es das Große, die heutige Wissenschaft gewöhnlich das Kleine vor Augen hat. Der Dünkel stieg nur zu oft in dem Verhältnisse des kleiner werdenden Leser¬ kreises. Wie schön ist es, wenn man glaubt oder sich einredet: Wovon ich etwas verstehe, weiß sonst niemand etwas; welch ein großer Mann bin ich doch! Die Jünger, die sich um einen Lehrer sammelten und dessen Kunst inne zu haben glaubten, erstarrten nicht selten zur Kaste. Das trifft selbständige Köpfe am leichtesten, denn sie haben am wenigsten Lust, ihre Freiheit für so und so viele Vorteile aufzugeben, besitzen am meisten das Gefühl, sich auf sich selber ver¬ lassen zu können. Eine der schlimmsten Cliquen war bekanntlich die Scherers. Seine Geschichte der deutschen Litteratur liest sich recht gut, zeigt viel Geist, viele unbegründete Phantasie und nicht selten baren historischen Unsinn. Und doch wie wurde das Buch ausposaunt! Wie anders würde das Urteil gelautet haben, wenn ein andrer als Scherer jene Dinge verbrochen hätte! Wir sind ziemlich wieder bei dem Treiben der italienischen Humanisten des fünfzehnten Jahrhunderts angelangt, die es auch so trefflich verstanden, „Akademien" zu bilden und sich gegenseitig unsterblich zu machen. Aber nein, jenes Treiben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/359>, abgerufen am 01.07.2024.