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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhue,

den Schläfen habe es angefangen und habe sich dann weiter und weiter der¬
breitet, bis es gerade hinter den Augen angelangt sei; wenn es nur nichts Ge¬
fährliches werde, sie sei so gar nicht daran gewöhnt, krank zu sein, und sei
sehr bange und unglücklich darüber.

Ricks tröstete sie, so gut er konnte. Er sagte ihr, sie solle nur ruhig
liegen bleiben, ihre Augen schließen und ganz still sein; er suchte einen dicken
Shawl, den er um ihre Füße wickelte, holte Essig ans dein Büffet und machte
einen nassen Umschlag, den er ihr auf die Stirn legte. Dann setzte er sich
still ans Fenster und sah hinaus in den strömenden Regen.

Von Zeit zu Zeit schlich er auf den Zehen zu ihr hinan und wechselte
den Umschlag, ohne zu sprechen, indem er ihr nur zunickte, wenn sie dankbar
zu ihm aufsah. Zuweilen wollte sie sprechen, er aber wehrte alle Worte mit
einem Kopfschütteln ab.

Schließlich fiel sie in Schlaf.

Eine Stunde verging, und noch eine, und sie schlief noch immer. Eine
Viertelstunde ging langsam in die andre über, während das trübe Tageslicht
mehr und mehr abnahm, und die Schatten des Zimmers langsam länger wurden
und aus den Möbeln und Wänden herauswuchsen. Und der Negen da draußen
fiel noch immer gleichmüßig und ununterbrochen, alles, was es an Lauten gab,
mit seinem rieselnden Sausen übertäubend.

Der Essigdampf und der Vanillegeruch von den Heliotropen auf den
Fensterbrettern vereinigte sich zu einem säuerlichen Weinduft und erfüllte die
Luft, die warm von ihrem Atem einen immer dichteren Thau über die grauen
Fensterscheiben zog, je mehr die Kühle des Abends zunahm.

Ricks war jetzt weit fort in Erinnerungen und Träumen, wahrend doch
die ganze Zeit ein Teil seines Bewußtseins bei der Schlafenden Wache hielt
und ihrem Schlummer folgte. Ganz allmählich, als die Dunkelheit zunahm, er¬
müdete die Phantasie, die stets aufflackernden, stets wieder ersterbenden Träume
zu schüren, gleichsam wie der Erdboden ermüdet, stets dieselbe Frucht zu erzengen;
die Träume wurden matter, unfruchtbarer, ohne üppig wuchernde Einzelheiten, sie
wurden starrer und büßten ihre lang aufgeschossenen, seltsam geformten Ranken
ein. Und der Sinn ließ es alles fahren, das Ferne, und kehrte wieder heim.

Wie still es da war! Waren sie nicht beide da, er und sie wie auf einer
Insel des Schweigens, die sich über dem einförmigen Schallmeer des Regens
erhob? Und ihre Seelen waren still, so still und sicher, während die Zukunft
in einer Wiege des Friedens zu schlafen schien.

Möchte sie doch nie erwachen, möchte doch alles so bleiben, wie es jetzt
war, nicht das geringste Glück außer dem, das ini Frieden lag, aber anch kein
Kummer, keine peinigende Unruhe! Daß es sich jetzt schließen könnte, dieses
gegenwärtige Dasein, so wie eine Knospe sich um sich selber schließt, und daß
nimmer ein Frühling kommen möge!


Ricks Lyhue,

den Schläfen habe es angefangen und habe sich dann weiter und weiter der¬
breitet, bis es gerade hinter den Augen angelangt sei; wenn es nur nichts Ge¬
fährliches werde, sie sei so gar nicht daran gewöhnt, krank zu sein, und sei
sehr bange und unglücklich darüber.

Ricks tröstete sie, so gut er konnte. Er sagte ihr, sie solle nur ruhig
liegen bleiben, ihre Augen schließen und ganz still sein; er suchte einen dicken
Shawl, den er um ihre Füße wickelte, holte Essig ans dein Büffet und machte
einen nassen Umschlag, den er ihr auf die Stirn legte. Dann setzte er sich
still ans Fenster und sah hinaus in den strömenden Regen.

Von Zeit zu Zeit schlich er auf den Zehen zu ihr hinan und wechselte
den Umschlag, ohne zu sprechen, indem er ihr nur zunickte, wenn sie dankbar
zu ihm aufsah. Zuweilen wollte sie sprechen, er aber wehrte alle Worte mit
einem Kopfschütteln ab.

Schließlich fiel sie in Schlaf.

Eine Stunde verging, und noch eine, und sie schlief noch immer. Eine
Viertelstunde ging langsam in die andre über, während das trübe Tageslicht
mehr und mehr abnahm, und die Schatten des Zimmers langsam länger wurden
und aus den Möbeln und Wänden herauswuchsen. Und der Negen da draußen
fiel noch immer gleichmüßig und ununterbrochen, alles, was es an Lauten gab,
mit seinem rieselnden Sausen übertäubend.

Der Essigdampf und der Vanillegeruch von den Heliotropen auf den
Fensterbrettern vereinigte sich zu einem säuerlichen Weinduft und erfüllte die
Luft, die warm von ihrem Atem einen immer dichteren Thau über die grauen
Fensterscheiben zog, je mehr die Kühle des Abends zunahm.

Ricks war jetzt weit fort in Erinnerungen und Träumen, wahrend doch
die ganze Zeit ein Teil seines Bewußtseins bei der Schlafenden Wache hielt
und ihrem Schlummer folgte. Ganz allmählich, als die Dunkelheit zunahm, er¬
müdete die Phantasie, die stets aufflackernden, stets wieder ersterbenden Träume
zu schüren, gleichsam wie der Erdboden ermüdet, stets dieselbe Frucht zu erzengen;
die Träume wurden matter, unfruchtbarer, ohne üppig wuchernde Einzelheiten, sie
wurden starrer und büßten ihre lang aufgeschossenen, seltsam geformten Ranken
ein. Und der Sinn ließ es alles fahren, das Ferne, und kehrte wieder heim.

Wie still es da war! Waren sie nicht beide da, er und sie wie auf einer
Insel des Schweigens, die sich über dem einförmigen Schallmeer des Regens
erhob? Und ihre Seelen waren still, so still und sicher, während die Zukunft
in einer Wiege des Friedens zu schlafen schien.

Möchte sie doch nie erwachen, möchte doch alles so bleiben, wie es jetzt
war, nicht das geringste Glück außer dem, das ini Frieden lag, aber anch kein
Kummer, keine peinigende Unruhe! Daß es sich jetzt schließen könnte, dieses
gegenwärtige Dasein, so wie eine Knospe sich um sich selber schließt, und daß
nimmer ein Frühling kommen möge!


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[0338] Ricks Lyhue, den Schläfen habe es angefangen und habe sich dann weiter und weiter der¬ breitet, bis es gerade hinter den Augen angelangt sei; wenn es nur nichts Ge¬ fährliches werde, sie sei so gar nicht daran gewöhnt, krank zu sein, und sei sehr bange und unglücklich darüber. Ricks tröstete sie, so gut er konnte. Er sagte ihr, sie solle nur ruhig liegen bleiben, ihre Augen schließen und ganz still sein; er suchte einen dicken Shawl, den er um ihre Füße wickelte, holte Essig ans dein Büffet und machte einen nassen Umschlag, den er ihr auf die Stirn legte. Dann setzte er sich still ans Fenster und sah hinaus in den strömenden Regen. Von Zeit zu Zeit schlich er auf den Zehen zu ihr hinan und wechselte den Umschlag, ohne zu sprechen, indem er ihr nur zunickte, wenn sie dankbar zu ihm aufsah. Zuweilen wollte sie sprechen, er aber wehrte alle Worte mit einem Kopfschütteln ab. Schließlich fiel sie in Schlaf. Eine Stunde verging, und noch eine, und sie schlief noch immer. Eine Viertelstunde ging langsam in die andre über, während das trübe Tageslicht mehr und mehr abnahm, und die Schatten des Zimmers langsam länger wurden und aus den Möbeln und Wänden herauswuchsen. Und der Negen da draußen fiel noch immer gleichmüßig und ununterbrochen, alles, was es an Lauten gab, mit seinem rieselnden Sausen übertäubend. Der Essigdampf und der Vanillegeruch von den Heliotropen auf den Fensterbrettern vereinigte sich zu einem säuerlichen Weinduft und erfüllte die Luft, die warm von ihrem Atem einen immer dichteren Thau über die grauen Fensterscheiben zog, je mehr die Kühle des Abends zunahm. Ricks war jetzt weit fort in Erinnerungen und Träumen, wahrend doch die ganze Zeit ein Teil seines Bewußtseins bei der Schlafenden Wache hielt und ihrem Schlummer folgte. Ganz allmählich, als die Dunkelheit zunahm, er¬ müdete die Phantasie, die stets aufflackernden, stets wieder ersterbenden Träume zu schüren, gleichsam wie der Erdboden ermüdet, stets dieselbe Frucht zu erzengen; die Träume wurden matter, unfruchtbarer, ohne üppig wuchernde Einzelheiten, sie wurden starrer und büßten ihre lang aufgeschossenen, seltsam geformten Ranken ein. Und der Sinn ließ es alles fahren, das Ferne, und kehrte wieder heim. Wie still es da war! Waren sie nicht beide da, er und sie wie auf einer Insel des Schweigens, die sich über dem einförmigen Schallmeer des Regens erhob? Und ihre Seelen waren still, so still und sicher, während die Zukunft in einer Wiege des Friedens zu schlafen schien. Möchte sie doch nie erwachen, möchte doch alles so bleiben, wie es jetzt war, nicht das geringste Glück außer dem, das ini Frieden lag, aber anch kein Kummer, keine peinigende Unruhe! Daß es sich jetzt schließen könnte, dieses gegenwärtige Dasein, so wie eine Knospe sich um sich selber schließt, und daß nimmer ein Frühling kommen möge!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/338>, abgerufen am 28.09.2024.