Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ariegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und Wohlstand aufwogen, die er
auch für uns bedeuten würde. Wir könnten Frankreich niederschmettern, daß
ihm die Lust zur "Revanche" auf ein Vierteljahrhundert und länger verginge, und
wir könnten ihm durch einen pekuniären Aderlaß größten Stils, sagen wir durch
eine Kriegssteuer von zehn oder fünfzehn Milliarden, für ebenso lange die Kraft
zu nehmen versuchen, die es bedürfte, wenn jene Lust sich wieder einstellte.
Aber seine Reproduktionskraft ist groß, fast wunderbar. Wir könnten ihm auch
kein Land mehr abschneiden, weil darauf Franzosen wohnen, und wir davon
im deutschen Reiche nicht mehr brauchen können, als wir schon haben. Wir
können es nicht in drei oder vier Stücke zerschlagen, weil Europa das nicht
gestatten würde, und weil, falls es dies auch erlaubte, die Anziehungskraft von
Paris, des Mittelpunktes, die von dort nach der Peripherie gehende Aus¬
strahlung die getrennten Körperteile über kurz oder lang wieder zusammen¬
fügen würde. Aber Rußland! Nun, ihm könnte man den Weg nach Kon-
stantinopel verlegen, man könnte ihm, wie eine kürzlich erschienene Broschüre
von W. Eisenbart "Der nächste Krieg mit Nußland und seine politischen
Folgen" (Halle, Frickes Sortiment) vorschlägt, die baltischen Provinzen ab¬
nehmen und sie dem deutschen Reiche angliedern, mit dem sie einst in Verbin¬
dung gestanden haben. Aber auf wie lange wäre jener Weg zu verbauen, wenn man
nicht wenigstens den westlichen Teil der Balkanhalbinsel von der Türkei ab¬
löste und mit Österreich-Ungarn vereinigte, und wäre das so leicht zu bewerk¬
stelligen? Und die baltischen Länder? Niemand kann die Mißhandlung und
Vergewaltigung der dortigen deutschen Bevölkerung durch den unduldsamen
Tyrannengeist des russischen Pcinslawismus tiefer empfinden und schmerzlicher
beklagen als wir, niemand ihr lebhafter Befreiung von diesem Alp wünschen,
aber der Verfasser der Broschüre hat sich wohl nicht klar gemacht, was für
Ungeheuerlichkeiten er in aller Ruhe sagt, wenn er meint, diese werde nur
möglich und von Dauer sein, wenn zugleich Polen wieder selbständig gemacht
würde, und wenn er infolge dessen neben der Eroberung Esthlands, Livlands
und Kurlands für das deutsche Reich die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches fordert, sofern wir Rußland besiegen.




Die Ariegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.

unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und Wohlstand aufwogen, die er
auch für uns bedeuten würde. Wir könnten Frankreich niederschmettern, daß
ihm die Lust zur „Revanche" auf ein Vierteljahrhundert und länger verginge, und
wir könnten ihm durch einen pekuniären Aderlaß größten Stils, sagen wir durch
eine Kriegssteuer von zehn oder fünfzehn Milliarden, für ebenso lange die Kraft
zu nehmen versuchen, die es bedürfte, wenn jene Lust sich wieder einstellte.
Aber seine Reproduktionskraft ist groß, fast wunderbar. Wir könnten ihm auch
kein Land mehr abschneiden, weil darauf Franzosen wohnen, und wir davon
im deutschen Reiche nicht mehr brauchen können, als wir schon haben. Wir
können es nicht in drei oder vier Stücke zerschlagen, weil Europa das nicht
gestatten würde, und weil, falls es dies auch erlaubte, die Anziehungskraft von
Paris, des Mittelpunktes, die von dort nach der Peripherie gehende Aus¬
strahlung die getrennten Körperteile über kurz oder lang wieder zusammen¬
fügen würde. Aber Rußland! Nun, ihm könnte man den Weg nach Kon-
stantinopel verlegen, man könnte ihm, wie eine kürzlich erschienene Broschüre
von W. Eisenbart „Der nächste Krieg mit Nußland und seine politischen
Folgen" (Halle, Frickes Sortiment) vorschlägt, die baltischen Provinzen ab¬
nehmen und sie dem deutschen Reiche angliedern, mit dem sie einst in Verbin¬
dung gestanden haben. Aber auf wie lange wäre jener Weg zu verbauen, wenn man
nicht wenigstens den westlichen Teil der Balkanhalbinsel von der Türkei ab¬
löste und mit Österreich-Ungarn vereinigte, und wäre das so leicht zu bewerk¬
stelligen? Und die baltischen Länder? Niemand kann die Mißhandlung und
Vergewaltigung der dortigen deutschen Bevölkerung durch den unduldsamen
Tyrannengeist des russischen Pcinslawismus tiefer empfinden und schmerzlicher
beklagen als wir, niemand ihr lebhafter Befreiung von diesem Alp wünschen,
aber der Verfasser der Broschüre hat sich wohl nicht klar gemacht, was für
Ungeheuerlichkeiten er in aller Ruhe sagt, wenn er meint, diese werde nur
möglich und von Dauer sein, wenn zugleich Polen wieder selbständig gemacht
würde, und wenn er infolge dessen neben der Eroberung Esthlands, Livlands
und Kurlands für das deutsche Reich die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches fordert, sofern wir Rußland besiegen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289360"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ariegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_790" prev="#ID_789"> unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und Wohlstand aufwogen, die er<lb/>
auch für uns bedeuten würde. Wir könnten Frankreich niederschmettern, daß<lb/>
ihm die Lust zur &#x201E;Revanche" auf ein Vierteljahrhundert und länger verginge, und<lb/>
wir könnten ihm durch einen pekuniären Aderlaß größten Stils, sagen wir durch<lb/>
eine Kriegssteuer von zehn oder fünfzehn Milliarden, für ebenso lange die Kraft<lb/>
zu nehmen versuchen, die es bedürfte, wenn jene Lust sich wieder einstellte.<lb/>
Aber seine Reproduktionskraft ist groß, fast wunderbar. Wir könnten ihm auch<lb/>
kein Land mehr abschneiden, weil darauf Franzosen wohnen, und wir davon<lb/>
im deutschen Reiche nicht mehr brauchen können, als wir schon haben. Wir<lb/>
können es nicht in drei oder vier Stücke zerschlagen, weil Europa das nicht<lb/>
gestatten würde, und weil, falls es dies auch erlaubte, die Anziehungskraft von<lb/>
Paris, des Mittelpunktes, die von dort nach der Peripherie gehende Aus¬<lb/>
strahlung die getrennten Körperteile über kurz oder lang wieder zusammen¬<lb/>
fügen würde. Aber Rußland! Nun, ihm könnte man den Weg nach Kon-<lb/>
stantinopel verlegen, man könnte ihm, wie eine kürzlich erschienene Broschüre<lb/>
von W. Eisenbart &#x201E;Der nächste Krieg mit Nußland und seine politischen<lb/>
Folgen" (Halle, Frickes Sortiment) vorschlägt, die baltischen Provinzen ab¬<lb/>
nehmen und sie dem deutschen Reiche angliedern, mit dem sie einst in Verbin¬<lb/>
dung gestanden haben. Aber auf wie lange wäre jener Weg zu verbauen, wenn man<lb/>
nicht wenigstens den westlichen Teil der Balkanhalbinsel von der Türkei ab¬<lb/>
löste und mit Österreich-Ungarn vereinigte, und wäre das so leicht zu bewerk¬<lb/>
stelligen? Und die baltischen Länder? Niemand kann die Mißhandlung und<lb/>
Vergewaltigung der dortigen deutschen Bevölkerung durch den unduldsamen<lb/>
Tyrannengeist des russischen Pcinslawismus tiefer empfinden und schmerzlicher<lb/>
beklagen als wir, niemand ihr lebhafter Befreiung von diesem Alp wünschen,<lb/>
aber der Verfasser der Broschüre hat sich wohl nicht klar gemacht, was für<lb/>
Ungeheuerlichkeiten er in aller Ruhe sagt, wenn er meint, diese werde nur<lb/>
möglich und von Dauer sein, wenn zugleich Polen wieder selbständig gemacht<lb/>
würde, und wenn er infolge dessen neben der Eroberung Esthlands, Livlands<lb/>
und Kurlands für das deutsche Reich die Wiederherstellung eines polnischen<lb/>
Reiches fordert, sofern wir Rußland besiegen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] Die Ariegsmacht des Friedensbundes und die seiner Gegner. unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und Wohlstand aufwogen, die er auch für uns bedeuten würde. Wir könnten Frankreich niederschmettern, daß ihm die Lust zur „Revanche" auf ein Vierteljahrhundert und länger verginge, und wir könnten ihm durch einen pekuniären Aderlaß größten Stils, sagen wir durch eine Kriegssteuer von zehn oder fünfzehn Milliarden, für ebenso lange die Kraft zu nehmen versuchen, die es bedürfte, wenn jene Lust sich wieder einstellte. Aber seine Reproduktionskraft ist groß, fast wunderbar. Wir könnten ihm auch kein Land mehr abschneiden, weil darauf Franzosen wohnen, und wir davon im deutschen Reiche nicht mehr brauchen können, als wir schon haben. Wir können es nicht in drei oder vier Stücke zerschlagen, weil Europa das nicht gestatten würde, und weil, falls es dies auch erlaubte, die Anziehungskraft von Paris, des Mittelpunktes, die von dort nach der Peripherie gehende Aus¬ strahlung die getrennten Körperteile über kurz oder lang wieder zusammen¬ fügen würde. Aber Rußland! Nun, ihm könnte man den Weg nach Kon- stantinopel verlegen, man könnte ihm, wie eine kürzlich erschienene Broschüre von W. Eisenbart „Der nächste Krieg mit Nußland und seine politischen Folgen" (Halle, Frickes Sortiment) vorschlägt, die baltischen Provinzen ab¬ nehmen und sie dem deutschen Reiche angliedern, mit dem sie einst in Verbin¬ dung gestanden haben. Aber auf wie lange wäre jener Weg zu verbauen, wenn man nicht wenigstens den westlichen Teil der Balkanhalbinsel von der Türkei ab¬ löste und mit Österreich-Ungarn vereinigte, und wäre das so leicht zu bewerk¬ stelligen? Und die baltischen Länder? Niemand kann die Mißhandlung und Vergewaltigung der dortigen deutschen Bevölkerung durch den unduldsamen Tyrannengeist des russischen Pcinslawismus tiefer empfinden und schmerzlicher beklagen als wir, niemand ihr lebhafter Befreiung von diesem Alp wünschen, aber der Verfasser der Broschüre hat sich wohl nicht klar gemacht, was für Ungeheuerlichkeiten er in aller Ruhe sagt, wenn er meint, diese werde nur möglich und von Dauer sein, wenn zugleich Polen wieder selbständig gemacht würde, und wenn er infolge dessen neben der Eroberung Esthlands, Livlands und Kurlands für das deutsche Reich die Wiederherstellung eines polnischen Reiches fordert, sofern wir Rußland besiegen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/237>, abgerufen am 22.07.2024.