Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen aus Alt-Jena.

sich beschloß; Vorlesungen waren aber, so viel ich erfahren konnte, seit langer
Zeit nicht mehr darin gehalten worden. In der großen Mehrzahl der Fälle
mußten die Professoren und Dozenten für ihre Hörsäle auf andern Wegen sorgen.
Diejenigen von ihnen, die so glücklich waren, ein eignes Haus zu besitzen, hatten
sich hier ein Auditorium eingerichtet, die übrigen mieteten sich in verschiednen
Häusern der Stadt, die sich darauf eingerichtet hatten, die nötigen Räume; die
Überwachung der Jnfkription auf die Vorlesungen, die Beleuchtung und Heizung
besorgten die "Famuli," aber eine andre Art, als sie damals wenigstens noch
in Leipzig florirte; es waren das Männer von gewöhnlicher Bildung, in der
Regel wohl ihrer zwei bis drei, die sich von diesem Geschäfte, je nachdem, besser
oder schlechter nährten. Die Kosten dieser Einrichtung deckten zunächst die Do¬
zenten, weiterhin die Zuhörer; die Universitätsverwaltung kümmerte sich, wenn
nicht etwa mit der Vorlesung ein "Institut" verbunden war, nicht darum. Daß
dieser Zustand in mehr als einer Beziehung sein Unbequemes an sich hatte,
wurde nicht verkannt; man hat daher, um hinter andern Hochschulen nicht zu
weit zurückzubleiben, aber erst mehr als ein Jahrzehnt später, die sogenannte
"Wucherei," ein geräumiges, am "Graben" gelegenes Privatgebäude, erworben
und darin eine erkleckliche Anzahl Hörsäle eingerichtet.

Der sinkende Besuch der Universität in dieser Zeit gab zu häufigen Klagen
Stoff; die Dürftigkeit mancher Anstalten und Hilfsmittel mochte daran schon
einige Schuld tragen; auch der außerhalb der Korporation stehende bekam davon
oft wunderliche Dinge zu hören. Die Zahl der Studirenden erreichte damals,
wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kaum mehr die Höhe von 400, und
dabei wurden die Mitglieder der landwirtschaftlichen Schule, die viele nicht als
rechte Studenten gelten lassen wollten, mit eingerechnet. Diese Schule erfreute
sich zur Zeit unter der Leitung von F. G. Schulze eines hohen Ansehens und
starken Zulaufs; ohne Zweifel verstand er es vortrefflich, den jungen Land¬
wirten von der praktischen und ethischen Seite zugleich beizukommen und ihren
Beruf zu idealisiren. Der alte Göttling pflegte im Hinblick auf die geringe
Gesamtfreqnenz und den zahlreichen Besuch dieser Anstalt sie in seiner kräftigen
Weise das "Feigenblatt" der Universität zu nennen. Die Studentenschaft Jenas
machte in diesen Jahren den Eindruck wunderbarer Zahmheit, wobei man den
Vergleich mit frühern Zeiten nicht einmal anzustellen brauchte. Damit soll
nicht etwa gesagt sein, daß sie über diesen Fortschritt der Gesittung die Frische
und den Schwung, die man an der Jugend niemals missen möchte, verloren
hatte; nur von eigentlichen Ausschreitungen und Rohheiten, wie sie im vorigen
Jahrhundert an der Tagesordnung und an der einen oder andern der deutschen
Hochschulen auch jetzt nicht ganz ausgestorben waren, bekam man hier so gut
wie gar nichts mehr zu hören. Das äußerste, was man erleben konnte, war,
daß ein Teil der "goldnen Jugend" sich nachmittags im Schlafrocke und ihren
langen Pfeifen am Markte versammelte und, an verschiednen Tischen aufgepflanzt,


Erinnerungen aus Alt-Jena.

sich beschloß; Vorlesungen waren aber, so viel ich erfahren konnte, seit langer
Zeit nicht mehr darin gehalten worden. In der großen Mehrzahl der Fälle
mußten die Professoren und Dozenten für ihre Hörsäle auf andern Wegen sorgen.
Diejenigen von ihnen, die so glücklich waren, ein eignes Haus zu besitzen, hatten
sich hier ein Auditorium eingerichtet, die übrigen mieteten sich in verschiednen
Häusern der Stadt, die sich darauf eingerichtet hatten, die nötigen Räume; die
Überwachung der Jnfkription auf die Vorlesungen, die Beleuchtung und Heizung
besorgten die „Famuli," aber eine andre Art, als sie damals wenigstens noch
in Leipzig florirte; es waren das Männer von gewöhnlicher Bildung, in der
Regel wohl ihrer zwei bis drei, die sich von diesem Geschäfte, je nachdem, besser
oder schlechter nährten. Die Kosten dieser Einrichtung deckten zunächst die Do¬
zenten, weiterhin die Zuhörer; die Universitätsverwaltung kümmerte sich, wenn
nicht etwa mit der Vorlesung ein „Institut" verbunden war, nicht darum. Daß
dieser Zustand in mehr als einer Beziehung sein Unbequemes an sich hatte,
wurde nicht verkannt; man hat daher, um hinter andern Hochschulen nicht zu
weit zurückzubleiben, aber erst mehr als ein Jahrzehnt später, die sogenannte
„Wucherei," ein geräumiges, am „Graben" gelegenes Privatgebäude, erworben
und darin eine erkleckliche Anzahl Hörsäle eingerichtet.

Der sinkende Besuch der Universität in dieser Zeit gab zu häufigen Klagen
Stoff; die Dürftigkeit mancher Anstalten und Hilfsmittel mochte daran schon
einige Schuld tragen; auch der außerhalb der Korporation stehende bekam davon
oft wunderliche Dinge zu hören. Die Zahl der Studirenden erreichte damals,
wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kaum mehr die Höhe von 400, und
dabei wurden die Mitglieder der landwirtschaftlichen Schule, die viele nicht als
rechte Studenten gelten lassen wollten, mit eingerechnet. Diese Schule erfreute
sich zur Zeit unter der Leitung von F. G. Schulze eines hohen Ansehens und
starken Zulaufs; ohne Zweifel verstand er es vortrefflich, den jungen Land¬
wirten von der praktischen und ethischen Seite zugleich beizukommen und ihren
Beruf zu idealisiren. Der alte Göttling pflegte im Hinblick auf die geringe
Gesamtfreqnenz und den zahlreichen Besuch dieser Anstalt sie in seiner kräftigen
Weise das „Feigenblatt" der Universität zu nennen. Die Studentenschaft Jenas
machte in diesen Jahren den Eindruck wunderbarer Zahmheit, wobei man den
Vergleich mit frühern Zeiten nicht einmal anzustellen brauchte. Damit soll
nicht etwa gesagt sein, daß sie über diesen Fortschritt der Gesittung die Frische
und den Schwung, die man an der Jugend niemals missen möchte, verloren
hatte; nur von eigentlichen Ausschreitungen und Rohheiten, wie sie im vorigen
Jahrhundert an der Tagesordnung und an der einen oder andern der deutschen
Hochschulen auch jetzt nicht ganz ausgestorben waren, bekam man hier so gut
wie gar nichts mehr zu hören. Das äußerste, was man erleben konnte, war,
daß ein Teil der „goldnen Jugend" sich nachmittags im Schlafrocke und ihren
langen Pfeifen am Markte versammelte und, an verschiednen Tischen aufgepflanzt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/289343"/>
          <fw type="header" place="top"> Erinnerungen aus Alt-Jena.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_751" prev="#ID_750"> sich beschloß; Vorlesungen waren aber, so viel ich erfahren konnte, seit langer<lb/>
Zeit nicht mehr darin gehalten worden. In der großen Mehrzahl der Fälle<lb/>
mußten die Professoren und Dozenten für ihre Hörsäle auf andern Wegen sorgen.<lb/>
Diejenigen von ihnen, die so glücklich waren, ein eignes Haus zu besitzen, hatten<lb/>
sich hier ein Auditorium eingerichtet, die übrigen mieteten sich in verschiednen<lb/>
Häusern der Stadt, die sich darauf eingerichtet hatten, die nötigen Räume; die<lb/>
Überwachung der Jnfkription auf die Vorlesungen, die Beleuchtung und Heizung<lb/>
besorgten die &#x201E;Famuli," aber eine andre Art, als sie damals wenigstens noch<lb/>
in Leipzig florirte; es waren das Männer von gewöhnlicher Bildung, in der<lb/>
Regel wohl ihrer zwei bis drei, die sich von diesem Geschäfte, je nachdem, besser<lb/>
oder schlechter nährten. Die Kosten dieser Einrichtung deckten zunächst die Do¬<lb/>
zenten, weiterhin die Zuhörer; die Universitätsverwaltung kümmerte sich, wenn<lb/>
nicht etwa mit der Vorlesung ein &#x201E;Institut" verbunden war, nicht darum. Daß<lb/>
dieser Zustand in mehr als einer Beziehung sein Unbequemes an sich hatte,<lb/>
wurde nicht verkannt; man hat daher, um hinter andern Hochschulen nicht zu<lb/>
weit zurückzubleiben, aber erst mehr als ein Jahrzehnt später, die sogenannte<lb/>
&#x201E;Wucherei," ein geräumiges, am &#x201E;Graben" gelegenes Privatgebäude, erworben<lb/>
und darin eine erkleckliche Anzahl Hörsäle eingerichtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_752" next="#ID_753"> Der sinkende Besuch der Universität in dieser Zeit gab zu häufigen Klagen<lb/>
Stoff; die Dürftigkeit mancher Anstalten und Hilfsmittel mochte daran schon<lb/>
einige Schuld tragen; auch der außerhalb der Korporation stehende bekam davon<lb/>
oft wunderliche Dinge zu hören. Die Zahl der Studirenden erreichte damals,<lb/>
wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kaum mehr die Höhe von 400, und<lb/>
dabei wurden die Mitglieder der landwirtschaftlichen Schule, die viele nicht als<lb/>
rechte Studenten gelten lassen wollten, mit eingerechnet. Diese Schule erfreute<lb/>
sich zur Zeit unter der Leitung von F. G. Schulze eines hohen Ansehens und<lb/>
starken Zulaufs; ohne Zweifel verstand er es vortrefflich, den jungen Land¬<lb/>
wirten von der praktischen und ethischen Seite zugleich beizukommen und ihren<lb/>
Beruf zu idealisiren. Der alte Göttling pflegte im Hinblick auf die geringe<lb/>
Gesamtfreqnenz und den zahlreichen Besuch dieser Anstalt sie in seiner kräftigen<lb/>
Weise das &#x201E;Feigenblatt" der Universität zu nennen. Die Studentenschaft Jenas<lb/>
machte in diesen Jahren den Eindruck wunderbarer Zahmheit, wobei man den<lb/>
Vergleich mit frühern Zeiten nicht einmal anzustellen brauchte. Damit soll<lb/>
nicht etwa gesagt sein, daß sie über diesen Fortschritt der Gesittung die Frische<lb/>
und den Schwung, die man an der Jugend niemals missen möchte, verloren<lb/>
hatte; nur von eigentlichen Ausschreitungen und Rohheiten, wie sie im vorigen<lb/>
Jahrhundert an der Tagesordnung und an der einen oder andern der deutschen<lb/>
Hochschulen auch jetzt nicht ganz ausgestorben waren, bekam man hier so gut<lb/>
wie gar nichts mehr zu hören. Das äußerste, was man erleben konnte, war,<lb/>
daß ein Teil der &#x201E;goldnen Jugend" sich nachmittags im Schlafrocke und ihren<lb/>
langen Pfeifen am Markte versammelte und, an verschiednen Tischen aufgepflanzt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0220] Erinnerungen aus Alt-Jena. sich beschloß; Vorlesungen waren aber, so viel ich erfahren konnte, seit langer Zeit nicht mehr darin gehalten worden. In der großen Mehrzahl der Fälle mußten die Professoren und Dozenten für ihre Hörsäle auf andern Wegen sorgen. Diejenigen von ihnen, die so glücklich waren, ein eignes Haus zu besitzen, hatten sich hier ein Auditorium eingerichtet, die übrigen mieteten sich in verschiednen Häusern der Stadt, die sich darauf eingerichtet hatten, die nötigen Räume; die Überwachung der Jnfkription auf die Vorlesungen, die Beleuchtung und Heizung besorgten die „Famuli," aber eine andre Art, als sie damals wenigstens noch in Leipzig florirte; es waren das Männer von gewöhnlicher Bildung, in der Regel wohl ihrer zwei bis drei, die sich von diesem Geschäfte, je nachdem, besser oder schlechter nährten. Die Kosten dieser Einrichtung deckten zunächst die Do¬ zenten, weiterhin die Zuhörer; die Universitätsverwaltung kümmerte sich, wenn nicht etwa mit der Vorlesung ein „Institut" verbunden war, nicht darum. Daß dieser Zustand in mehr als einer Beziehung sein Unbequemes an sich hatte, wurde nicht verkannt; man hat daher, um hinter andern Hochschulen nicht zu weit zurückzubleiben, aber erst mehr als ein Jahrzehnt später, die sogenannte „Wucherei," ein geräumiges, am „Graben" gelegenes Privatgebäude, erworben und darin eine erkleckliche Anzahl Hörsäle eingerichtet. Der sinkende Besuch der Universität in dieser Zeit gab zu häufigen Klagen Stoff; die Dürftigkeit mancher Anstalten und Hilfsmittel mochte daran schon einige Schuld tragen; auch der außerhalb der Korporation stehende bekam davon oft wunderliche Dinge zu hören. Die Zahl der Studirenden erreichte damals, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, kaum mehr die Höhe von 400, und dabei wurden die Mitglieder der landwirtschaftlichen Schule, die viele nicht als rechte Studenten gelten lassen wollten, mit eingerechnet. Diese Schule erfreute sich zur Zeit unter der Leitung von F. G. Schulze eines hohen Ansehens und starken Zulaufs; ohne Zweifel verstand er es vortrefflich, den jungen Land¬ wirten von der praktischen und ethischen Seite zugleich beizukommen und ihren Beruf zu idealisiren. Der alte Göttling pflegte im Hinblick auf die geringe Gesamtfreqnenz und den zahlreichen Besuch dieser Anstalt sie in seiner kräftigen Weise das „Feigenblatt" der Universität zu nennen. Die Studentenschaft Jenas machte in diesen Jahren den Eindruck wunderbarer Zahmheit, wobei man den Vergleich mit frühern Zeiten nicht einmal anzustellen brauchte. Damit soll nicht etwa gesagt sein, daß sie über diesen Fortschritt der Gesittung die Frische und den Schwung, die man an der Jugend niemals missen möchte, verloren hatte; nur von eigentlichen Ausschreitungen und Rohheiten, wie sie im vorigen Jahrhundert an der Tagesordnung und an der einen oder andern der deutschen Hochschulen auch jetzt nicht ganz ausgestorben waren, bekam man hier so gut wie gar nichts mehr zu hören. Das äußerste, was man erleben konnte, war, daß ein Teil der „goldnen Jugend" sich nachmittags im Schlafrocke und ihren langen Pfeifen am Markte versammelte und, an verschiednen Tischen aufgepflanzt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/220
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/220>, abgerufen am 22.07.2024.