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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

bildung dieses "Versicherungswesens" durch Bildung wohlorganisirter Kassen als
der "Schwerpunkt" der ganzen Organisation bezeichnet.

Bei folgerichtiger Anwendung der dargelegten Grundsätze würden auch
die neuerdings so verbreiteten Lohn- oder Streikkommissionen, welche wohl
aus sozialisier?- und vereinsgesetzlichen Rücksichten die bisherige Thätigkeit der
Fachvereine auf dem Gebiete der Lohn- und Streitfrage ersetzen sollen, den ver¬
sicherungsgesetzlichen Bestimmungen und somit der Genehmigungspflicht zu unter¬
werfen sein; denn diese verfolgen im Grunde auch nichts andres als Versicherungs¬
zwecke, nämlich die Sicherstellung der Berufsgenossen gegen die Notlage während
des durchzuführenden Streiks, und zwar durch Auszahlung von (nach Pausch-
qucmtnm oder Kilometerzahl festgesetzten) "Reisegeldern" an die Unverheirateten
und von (meist nach Wochensatz bestimmten) "Streikgeldern" an die Verheirateten
aus dem dazu gesammelten Unterstützungs- oder Streikfonds. Dabei ist es an
sich gleichgiltig, ob es sich bei solchen bloß örtlichen Kommissionen meist nur
um vorübergehende Bildungen von unbestimmter Dauer handelt, weil die Vor¬
bedingung der Dauer für die bloß erlaubten und privilegirten Gesellschaften,
wie eine Vergleichung der M 25 und 1 ff., II. 6 des A. L.-R. ergiebt, gar
nicht erfordert wird.

Ganz unanfechtbar müssen die gezogenen Folgerungen erscheinen, wenn das
Streikwesen wie aus dem Allgemeinen Tischlerkongreß in Gotha im Dezember 1886
durch Einsetzung ständiger "Lokal-", "Provinziell-" und "Zentralkommissionen"
und durch Einführung einheitlicher Normen und Tarife für ganze Gewerbe
und ganz Deutschland einheitlich organisirt wird. In dieser Beziehung hat sich
das königliche Oberverwaltungsgericht bereits unterm 13. Juli 1878 dahin aus¬
gesprochen, daß Streikkassen, welche ihren arbeitslosen Mitgliedern nicht frei-
wille Unterstützungen, sondern kraft statutarischer Zahlungsverpflichtung die
Gewährung bestimmter periodisch wiederkehrender Geldleistungen bei Eintritt
gewisser Bedingungen zusichern, als Versicherungsanstalten im Sinne des Gesetzes
vom 17. Mai 1853, Z 1, beziehentlich s 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches
anzusehen seien und deshalb der staatlichen Genehmigung bedürfen, ohne Rück¬
sicht darauf, ob die betreffenden Leistungen als "Geschenke" bezeichnet werden
oder nicht.

Im allgemeinen wird sich der Grundsatz aufstellen lassen, daß die Frage,
ob eine genehmigungspflichtige Kasseneinrichtnng im Einzelfalle vorliege oder
nicht, keineswegs bloß nach dem Inhalt der Verbands- oder sonstigen Satzungen.
sondern stets nach den gesamten thatsächlichen Voraussetzungen zu entscheiden
ist, wie ganz ähnlich auch der Rechtscharakter eines Vereins nicht durch den
Statuteninhalt allein, sondern durch sein ganzes thatsächliches Verhalten be¬
stimmt wird, und daß es zur Bejahung der Frage schon genügt, wenn die
wechselseitige Sicherstellung gegen zukünftige ungewisse Notlagen durch Beitrags¬
leistungen zu einem Garantiefonds bezweckt wird. Insbesondre wird es nicht


Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

bildung dieses „Versicherungswesens" durch Bildung wohlorganisirter Kassen als
der „Schwerpunkt" der ganzen Organisation bezeichnet.

Bei folgerichtiger Anwendung der dargelegten Grundsätze würden auch
die neuerdings so verbreiteten Lohn- oder Streikkommissionen, welche wohl
aus sozialisier?- und vereinsgesetzlichen Rücksichten die bisherige Thätigkeit der
Fachvereine auf dem Gebiete der Lohn- und Streitfrage ersetzen sollen, den ver¬
sicherungsgesetzlichen Bestimmungen und somit der Genehmigungspflicht zu unter¬
werfen sein; denn diese verfolgen im Grunde auch nichts andres als Versicherungs¬
zwecke, nämlich die Sicherstellung der Berufsgenossen gegen die Notlage während
des durchzuführenden Streiks, und zwar durch Auszahlung von (nach Pausch-
qucmtnm oder Kilometerzahl festgesetzten) „Reisegeldern" an die Unverheirateten
und von (meist nach Wochensatz bestimmten) „Streikgeldern" an die Verheirateten
aus dem dazu gesammelten Unterstützungs- oder Streikfonds. Dabei ist es an
sich gleichgiltig, ob es sich bei solchen bloß örtlichen Kommissionen meist nur
um vorübergehende Bildungen von unbestimmter Dauer handelt, weil die Vor¬
bedingung der Dauer für die bloß erlaubten und privilegirten Gesellschaften,
wie eine Vergleichung der M 25 und 1 ff., II. 6 des A. L.-R. ergiebt, gar
nicht erfordert wird.

Ganz unanfechtbar müssen die gezogenen Folgerungen erscheinen, wenn das
Streikwesen wie aus dem Allgemeinen Tischlerkongreß in Gotha im Dezember 1886
durch Einsetzung ständiger „Lokal-", „Provinziell-" und „Zentralkommissionen"
und durch Einführung einheitlicher Normen und Tarife für ganze Gewerbe
und ganz Deutschland einheitlich organisirt wird. In dieser Beziehung hat sich
das königliche Oberverwaltungsgericht bereits unterm 13. Juli 1878 dahin aus¬
gesprochen, daß Streikkassen, welche ihren arbeitslosen Mitgliedern nicht frei-
wille Unterstützungen, sondern kraft statutarischer Zahlungsverpflichtung die
Gewährung bestimmter periodisch wiederkehrender Geldleistungen bei Eintritt
gewisser Bedingungen zusichern, als Versicherungsanstalten im Sinne des Gesetzes
vom 17. Mai 1853, Z 1, beziehentlich s 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches
anzusehen seien und deshalb der staatlichen Genehmigung bedürfen, ohne Rück¬
sicht darauf, ob die betreffenden Leistungen als „Geschenke" bezeichnet werden
oder nicht.

Im allgemeinen wird sich der Grundsatz aufstellen lassen, daß die Frage,
ob eine genehmigungspflichtige Kasseneinrichtnng im Einzelfalle vorliege oder
nicht, keineswegs bloß nach dem Inhalt der Verbands- oder sonstigen Satzungen.
sondern stets nach den gesamten thatsächlichen Voraussetzungen zu entscheiden
ist, wie ganz ähnlich auch der Rechtscharakter eines Vereins nicht durch den
Statuteninhalt allein, sondern durch sein ganzes thatsächliches Verhalten be¬
stimmt wird, und daß es zur Bejahung der Frage schon genügt, wenn die
wechselseitige Sicherstellung gegen zukünftige ungewisse Notlagen durch Beitrags¬
leistungen zu einem Garantiefonds bezweckt wird. Insbesondre wird es nicht


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[0213] Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften? bildung dieses „Versicherungswesens" durch Bildung wohlorganisirter Kassen als der „Schwerpunkt" der ganzen Organisation bezeichnet. Bei folgerichtiger Anwendung der dargelegten Grundsätze würden auch die neuerdings so verbreiteten Lohn- oder Streikkommissionen, welche wohl aus sozialisier?- und vereinsgesetzlichen Rücksichten die bisherige Thätigkeit der Fachvereine auf dem Gebiete der Lohn- und Streitfrage ersetzen sollen, den ver¬ sicherungsgesetzlichen Bestimmungen und somit der Genehmigungspflicht zu unter¬ werfen sein; denn diese verfolgen im Grunde auch nichts andres als Versicherungs¬ zwecke, nämlich die Sicherstellung der Berufsgenossen gegen die Notlage während des durchzuführenden Streiks, und zwar durch Auszahlung von (nach Pausch- qucmtnm oder Kilometerzahl festgesetzten) „Reisegeldern" an die Unverheirateten und von (meist nach Wochensatz bestimmten) „Streikgeldern" an die Verheirateten aus dem dazu gesammelten Unterstützungs- oder Streikfonds. Dabei ist es an sich gleichgiltig, ob es sich bei solchen bloß örtlichen Kommissionen meist nur um vorübergehende Bildungen von unbestimmter Dauer handelt, weil die Vor¬ bedingung der Dauer für die bloß erlaubten und privilegirten Gesellschaften, wie eine Vergleichung der M 25 und 1 ff., II. 6 des A. L.-R. ergiebt, gar nicht erfordert wird. Ganz unanfechtbar müssen die gezogenen Folgerungen erscheinen, wenn das Streikwesen wie aus dem Allgemeinen Tischlerkongreß in Gotha im Dezember 1886 durch Einsetzung ständiger „Lokal-", „Provinziell-" und „Zentralkommissionen" und durch Einführung einheitlicher Normen und Tarife für ganze Gewerbe und ganz Deutschland einheitlich organisirt wird. In dieser Beziehung hat sich das königliche Oberverwaltungsgericht bereits unterm 13. Juli 1878 dahin aus¬ gesprochen, daß Streikkassen, welche ihren arbeitslosen Mitgliedern nicht frei- wille Unterstützungen, sondern kraft statutarischer Zahlungsverpflichtung die Gewährung bestimmter periodisch wiederkehrender Geldleistungen bei Eintritt gewisser Bedingungen zusichern, als Versicherungsanstalten im Sinne des Gesetzes vom 17. Mai 1853, Z 1, beziehentlich s 360 9 des Reichsstrafgesetzbuches anzusehen seien und deshalb der staatlichen Genehmigung bedürfen, ohne Rück¬ sicht darauf, ob die betreffenden Leistungen als „Geschenke" bezeichnet werden oder nicht. Im allgemeinen wird sich der Grundsatz aufstellen lassen, daß die Frage, ob eine genehmigungspflichtige Kasseneinrichtnng im Einzelfalle vorliege oder nicht, keineswegs bloß nach dem Inhalt der Verbands- oder sonstigen Satzungen. sondern stets nach den gesamten thatsächlichen Voraussetzungen zu entscheiden ist, wie ganz ähnlich auch der Rechtscharakter eines Vereins nicht durch den Statuteninhalt allein, sondern durch sein ganzes thatsächliches Verhalten be¬ stimmt wird, und daß es zur Bejahung der Frage schon genügt, wenn die wechselseitige Sicherstellung gegen zukünftige ungewisse Notlagen durch Beitrags¬ leistungen zu einem Garantiefonds bezweckt wird. Insbesondre wird es nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/213>, abgerufen am 22.07.2024.