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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

erstem stets als freiwillige Leistungen, bei den letztern aber als vertragsmäßige
Gegenleistungen darstellen, und daß sie den Unterstützten im erstern Falle aus
fremden, im letztern aus eignen Mitteln gewährt werden.

Ein auf Gegenseitigkeit begründeter Unterstützungsverein würde also den
Charakter eines Wohlthätigkeitsvereins erst dann annehmen, wenn er seine
Unterstützungsfonds im wesentlichen von dritter Seite, d. h. von NichtMitgliedern
aufbrächte; damit würde er aber sofort aufhören, ein auf Gegenseitigkeit be¬
ruhender Verein zu sein.

Daß es sich bei derartigen Statutenänderungen lediglich um eine beab¬
sichtigte Verschleierung der thatsächlichen Rechtsverhältnisse, d. h. um eine rechts-
ungiltige Simulation handelt, läßt sich sogar aus dem sonstigen Inhalt der
Statuten selbst entnehmen, denn darnach werden regelmäßig Mitglieder, welche
die "freiwilligen" Beiträge nicht zahlen, einfach ausgeschlossen und die "Geschenke"
oder "freiwilligen" Unterstützungen nur an solche gezahlt, die (mindestens während
einer bestimmten Karenzzeit) "ihren Verpflichtungen gegen den Verband nach¬
gekommen" sind, sodciß also die Unterstützung nach wie vor an die Beitrags¬
zahlung geknüpft, mithin durch diese erst erworben wird. Im übrigen sind die
betreffenden Statutenänderungen auch deshalb ohne rechtliche Wirkung, weil sie
gegen zwingende Rechtsgrundsätze verstoßen, nach denen die Bestimmung oder
Erfüllung von Verträgen nicht in die bloße Willkür des Verpflichteten gestellt
und niemand der Rechtsweg abgeschnitten werden darf. (A. L.-R. Einl. Z 79
und I. 5, § 71.)

Von mancher Seite ist noch die Behauptung aufgestellt worden, daß von
einem Versicherungsanspruche nur dann die Rede sein könne, wenn ein "statu¬
tarisch liquider," das soll heißen ein seinem Inhalte und Umfange nach bestimmter
und klagbarer Rechtsanspruch vorliege. Das ist aber nicht richtig. Denn zur
Begründung eines vertragsmäßigen Anspruches genügt schon die bloße Bestimm¬
barkeit des Inhalts und Betrages der Leistung, und in dieser Beziehung bieten
die statutarischen Bestimmungen in Verbindung mit den ortsüblichen Gebräuchen
regelmäßig ausreichende Unterlagen. Ebenso wenig muß jeder Rechtsanspruch
einklagbar sein, wenn ihm anch diese Eigenschaft für gewöhnlich zukommt; es
kann vielmehr die Klagbarkeit durch Vertrag oder Gesetz ausgeschlossen sein.
Das erstere ist zu Gunsten der Einführung von Schiedsgerichten zwischen den
Vertragsschließenden gesetzlich gestattet; im letztern Falle liegt ein "unvollkom¬
mener" Rechtsanspruch vor (s. A. L.-R. Einl. Z 86), dessen Erfüllung sich zwar
nicht erzwingen, wohl aber freiwillig mit rechtlicher Wirkung vollziehen läßt,
d. h. es handelt sich dann um eine sogenannte Naturalobligation, ein vertrags¬
ähnliches Rechtverhältnis, und ein solches muß hier zum mindesten stets an¬
genommen werden, da die Verbandsbeiträge regelmäßig in der wechselseitigen
Absicht, einen zur Verwirklichung der Versicherungszwecke bestimmten Garantie¬
fonds zu bilden, gegeben und genommen werden.


Sind die heutigen Arbeiterunterstützungsverbände Versicherungsgesellschaften?

erstem stets als freiwillige Leistungen, bei den letztern aber als vertragsmäßige
Gegenleistungen darstellen, und daß sie den Unterstützten im erstern Falle aus
fremden, im letztern aus eignen Mitteln gewährt werden.

Ein auf Gegenseitigkeit begründeter Unterstützungsverein würde also den
Charakter eines Wohlthätigkeitsvereins erst dann annehmen, wenn er seine
Unterstützungsfonds im wesentlichen von dritter Seite, d. h. von NichtMitgliedern
aufbrächte; damit würde er aber sofort aufhören, ein auf Gegenseitigkeit be¬
ruhender Verein zu sein.

Daß es sich bei derartigen Statutenänderungen lediglich um eine beab¬
sichtigte Verschleierung der thatsächlichen Rechtsverhältnisse, d. h. um eine rechts-
ungiltige Simulation handelt, läßt sich sogar aus dem sonstigen Inhalt der
Statuten selbst entnehmen, denn darnach werden regelmäßig Mitglieder, welche
die „freiwilligen" Beiträge nicht zahlen, einfach ausgeschlossen und die „Geschenke"
oder „freiwilligen" Unterstützungen nur an solche gezahlt, die (mindestens während
einer bestimmten Karenzzeit) „ihren Verpflichtungen gegen den Verband nach¬
gekommen" sind, sodciß also die Unterstützung nach wie vor an die Beitrags¬
zahlung geknüpft, mithin durch diese erst erworben wird. Im übrigen sind die
betreffenden Statutenänderungen auch deshalb ohne rechtliche Wirkung, weil sie
gegen zwingende Rechtsgrundsätze verstoßen, nach denen die Bestimmung oder
Erfüllung von Verträgen nicht in die bloße Willkür des Verpflichteten gestellt
und niemand der Rechtsweg abgeschnitten werden darf. (A. L.-R. Einl. Z 79
und I. 5, § 71.)

Von mancher Seite ist noch die Behauptung aufgestellt worden, daß von
einem Versicherungsanspruche nur dann die Rede sein könne, wenn ein „statu¬
tarisch liquider," das soll heißen ein seinem Inhalte und Umfange nach bestimmter
und klagbarer Rechtsanspruch vorliege. Das ist aber nicht richtig. Denn zur
Begründung eines vertragsmäßigen Anspruches genügt schon die bloße Bestimm¬
barkeit des Inhalts und Betrages der Leistung, und in dieser Beziehung bieten
die statutarischen Bestimmungen in Verbindung mit den ortsüblichen Gebräuchen
regelmäßig ausreichende Unterlagen. Ebenso wenig muß jeder Rechtsanspruch
einklagbar sein, wenn ihm anch diese Eigenschaft für gewöhnlich zukommt; es
kann vielmehr die Klagbarkeit durch Vertrag oder Gesetz ausgeschlossen sein.
Das erstere ist zu Gunsten der Einführung von Schiedsgerichten zwischen den
Vertragsschließenden gesetzlich gestattet; im letztern Falle liegt ein „unvollkom¬
mener" Rechtsanspruch vor (s. A. L.-R. Einl. Z 86), dessen Erfüllung sich zwar
nicht erzwingen, wohl aber freiwillig mit rechtlicher Wirkung vollziehen läßt,
d. h. es handelt sich dann um eine sogenannte Naturalobligation, ein vertrags¬
ähnliches Rechtverhältnis, und ein solches muß hier zum mindesten stets an¬
genommen werden, da die Verbandsbeiträge regelmäßig in der wechselseitigen
Absicht, einen zur Verwirklichung der Versicherungszwecke bestimmten Garantie¬
fonds zu bilden, gegeben und genommen werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/211>, abgerufen am 22.07.2024.