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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erzieher,

er anfänglich Liebesbote war, den Freund der Mutter mit Briefchen aufsuchte
und nie ohne ein solches von Goethes Hand zurückkehren wollte, so war Fritz
von Stein nach dem Bruche des Liebesverhältnisses wieder ein willkommener
und natürlicher Anknüpfungspunkt für einen äußerlich versöhnten Verkehr der beiden
Alten. An diesem Knaben hing Goethes Seele mit wahrhaft väterlicher Innigkeit;
für Goethes beschleunigte Rückkehr aus Italien war die Sorge um die Erziehung
Fritzens einer der wichtigsten Beweggründe. Goethe hatte der Mutter vor
Jahren das Versprechen, für Fritz zu sorgen, gegeben, und er nahm sein Wort
sehr ernst. Später, als Fritz in das reifere Alter kam, sorgte er auch redlich
dafür, ihm die Wege zu einem ungehinderten Fortkommen durch Fürsprache
beim Herzoge zu ebnen.

Aber auch vom dichterischen Standpunkte mußte sich Goethe für die Natur
und Entwicklung der Kindesseele interessiren. Nahm er doch der ganzen Welt
der Erscheinung gegenüber den Standpunkt seiner "Metamorphose der Pflanzen"
ein. Er war überall auf der Suche nach den bleibenden Verhältnissen, nach
typischen Formen, nach der naiven Offenbarung der psycho-physischen Menschen¬
natur, und konnte daher auch nicht am Kinde künstlerisch-gleichgiltig vorüber¬
gehen. Er hat das Kind auch vielfach in seinen Dichtungen gezeichnet; man
denke, um nur die wichtigsten Stellen zu nennen, an die Kinderszenen im
"Werther," an den Sohn Götzens, der kein Ritter werden wird, an den Sohn
Wilhelm Meisters, Felix, der durch seine neugierigen Fragen den Vater selbst
erzieht, durch seine Unarten (Felix muß immer eigensinnig aus der Flasche statt
aus dem Glase trinken) ärgert, an das Knabenmädchen Mignon, an die in dem
Mädchenpeusionat leidende Ottilie, an die Kindergeschichten in "Dichtung und
Wahrheit." Auch in diesen Kindergeschichten hat Goethe, wie überall in seiner
Poesie, persönliche innere Erfahrung und äußere Beobachtung vielfach verwoben.
Der Mann, der so sehr nach Bildung rang, dachte viel über den Einfluß nach,
den die Jugenderziehung auf seine Entwicklung gewonnen hatte. Für ihn
waren diese Fragen von höchster Wichtigkeit. Noch im hohen Alter setzte er
sich mit den vorrousseauisch überstrengen Erziehungsgrundsätzen seines Vaters in
der Erinnerung kritisch auseinander. Und dennoch gestand Goethe selbst, daß er
den pädagogischen Trieb vom Vater geerbt habe: "Mir war von meinem Vater
eine gewisse lehrhafte Redseligkeit cmgcerbt," erzählt er in "Dichtung und
Wahrheit." Und dieser Drang steter Lehrhaftigkeit begleitete ihn in allen
Lebenslagen, auf jeder Altersstufe, in jeder Stellung, sodciß er sogar an sich
halten mußte, um nicht ein "pedantisch-rodomontisches Ansehen" zu bekommen,
wie er der Schauspielerin Unzelnwnn gelegentlich in einem pädagogischen Briefe
über ihren Sohn schrieb. Sich davon zu befreien, boten ihm seine Werke will¬
kommene Gelegenheit.

Er war denn auch ein Meister der Erziehungskunst. "Der Mensch ist für
Goethe nicht der Thon, welchen der Erzieher nach Belieben modeln kann, sondern


Goethe als Erzieher,

er anfänglich Liebesbote war, den Freund der Mutter mit Briefchen aufsuchte
und nie ohne ein solches von Goethes Hand zurückkehren wollte, so war Fritz
von Stein nach dem Bruche des Liebesverhältnisses wieder ein willkommener
und natürlicher Anknüpfungspunkt für einen äußerlich versöhnten Verkehr der beiden
Alten. An diesem Knaben hing Goethes Seele mit wahrhaft väterlicher Innigkeit;
für Goethes beschleunigte Rückkehr aus Italien war die Sorge um die Erziehung
Fritzens einer der wichtigsten Beweggründe. Goethe hatte der Mutter vor
Jahren das Versprechen, für Fritz zu sorgen, gegeben, und er nahm sein Wort
sehr ernst. Später, als Fritz in das reifere Alter kam, sorgte er auch redlich
dafür, ihm die Wege zu einem ungehinderten Fortkommen durch Fürsprache
beim Herzoge zu ebnen.

Aber auch vom dichterischen Standpunkte mußte sich Goethe für die Natur
und Entwicklung der Kindesseele interessiren. Nahm er doch der ganzen Welt
der Erscheinung gegenüber den Standpunkt seiner „Metamorphose der Pflanzen"
ein. Er war überall auf der Suche nach den bleibenden Verhältnissen, nach
typischen Formen, nach der naiven Offenbarung der psycho-physischen Menschen¬
natur, und konnte daher auch nicht am Kinde künstlerisch-gleichgiltig vorüber¬
gehen. Er hat das Kind auch vielfach in seinen Dichtungen gezeichnet; man
denke, um nur die wichtigsten Stellen zu nennen, an die Kinderszenen im
„Werther," an den Sohn Götzens, der kein Ritter werden wird, an den Sohn
Wilhelm Meisters, Felix, der durch seine neugierigen Fragen den Vater selbst
erzieht, durch seine Unarten (Felix muß immer eigensinnig aus der Flasche statt
aus dem Glase trinken) ärgert, an das Knabenmädchen Mignon, an die in dem
Mädchenpeusionat leidende Ottilie, an die Kindergeschichten in „Dichtung und
Wahrheit." Auch in diesen Kindergeschichten hat Goethe, wie überall in seiner
Poesie, persönliche innere Erfahrung und äußere Beobachtung vielfach verwoben.
Der Mann, der so sehr nach Bildung rang, dachte viel über den Einfluß nach,
den die Jugenderziehung auf seine Entwicklung gewonnen hatte. Für ihn
waren diese Fragen von höchster Wichtigkeit. Noch im hohen Alter setzte er
sich mit den vorrousseauisch überstrengen Erziehungsgrundsätzen seines Vaters in
der Erinnerung kritisch auseinander. Und dennoch gestand Goethe selbst, daß er
den pädagogischen Trieb vom Vater geerbt habe: „Mir war von meinem Vater
eine gewisse lehrhafte Redseligkeit cmgcerbt," erzählt er in „Dichtung und
Wahrheit." Und dieser Drang steter Lehrhaftigkeit begleitete ihn in allen
Lebenslagen, auf jeder Altersstufe, in jeder Stellung, sodciß er sogar an sich
halten mußte, um nicht ein „pedantisch-rodomontisches Ansehen" zu bekommen,
wie er der Schauspielerin Unzelnwnn gelegentlich in einem pädagogischen Briefe
über ihren Sohn schrieb. Sich davon zu befreien, boten ihm seine Werke will¬
kommene Gelegenheit.

Er war denn auch ein Meister der Erziehungskunst. „Der Mensch ist für
Goethe nicht der Thon, welchen der Erzieher nach Belieben modeln kann, sondern


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[0173] Goethe als Erzieher, er anfänglich Liebesbote war, den Freund der Mutter mit Briefchen aufsuchte und nie ohne ein solches von Goethes Hand zurückkehren wollte, so war Fritz von Stein nach dem Bruche des Liebesverhältnisses wieder ein willkommener und natürlicher Anknüpfungspunkt für einen äußerlich versöhnten Verkehr der beiden Alten. An diesem Knaben hing Goethes Seele mit wahrhaft väterlicher Innigkeit; für Goethes beschleunigte Rückkehr aus Italien war die Sorge um die Erziehung Fritzens einer der wichtigsten Beweggründe. Goethe hatte der Mutter vor Jahren das Versprechen, für Fritz zu sorgen, gegeben, und er nahm sein Wort sehr ernst. Später, als Fritz in das reifere Alter kam, sorgte er auch redlich dafür, ihm die Wege zu einem ungehinderten Fortkommen durch Fürsprache beim Herzoge zu ebnen. Aber auch vom dichterischen Standpunkte mußte sich Goethe für die Natur und Entwicklung der Kindesseele interessiren. Nahm er doch der ganzen Welt der Erscheinung gegenüber den Standpunkt seiner „Metamorphose der Pflanzen" ein. Er war überall auf der Suche nach den bleibenden Verhältnissen, nach typischen Formen, nach der naiven Offenbarung der psycho-physischen Menschen¬ natur, und konnte daher auch nicht am Kinde künstlerisch-gleichgiltig vorüber¬ gehen. Er hat das Kind auch vielfach in seinen Dichtungen gezeichnet; man denke, um nur die wichtigsten Stellen zu nennen, an die Kinderszenen im „Werther," an den Sohn Götzens, der kein Ritter werden wird, an den Sohn Wilhelm Meisters, Felix, der durch seine neugierigen Fragen den Vater selbst erzieht, durch seine Unarten (Felix muß immer eigensinnig aus der Flasche statt aus dem Glase trinken) ärgert, an das Knabenmädchen Mignon, an die in dem Mädchenpeusionat leidende Ottilie, an die Kindergeschichten in „Dichtung und Wahrheit." Auch in diesen Kindergeschichten hat Goethe, wie überall in seiner Poesie, persönliche innere Erfahrung und äußere Beobachtung vielfach verwoben. Der Mann, der so sehr nach Bildung rang, dachte viel über den Einfluß nach, den die Jugenderziehung auf seine Entwicklung gewonnen hatte. Für ihn waren diese Fragen von höchster Wichtigkeit. Noch im hohen Alter setzte er sich mit den vorrousseauisch überstrengen Erziehungsgrundsätzen seines Vaters in der Erinnerung kritisch auseinander. Und dennoch gestand Goethe selbst, daß er den pädagogischen Trieb vom Vater geerbt habe: „Mir war von meinem Vater eine gewisse lehrhafte Redseligkeit cmgcerbt," erzählt er in „Dichtung und Wahrheit." Und dieser Drang steter Lehrhaftigkeit begleitete ihn in allen Lebenslagen, auf jeder Altersstufe, in jeder Stellung, sodciß er sogar an sich halten mußte, um nicht ein „pedantisch-rodomontisches Ansehen" zu bekommen, wie er der Schauspielerin Unzelnwnn gelegentlich in einem pädagogischen Briefe über ihren Sohn schrieb. Sich davon zu befreien, boten ihm seine Werke will¬ kommene Gelegenheit. Er war denn auch ein Meister der Erziehungskunst. „Der Mensch ist für Goethe nicht der Thon, welchen der Erzieher nach Belieben modeln kann, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/173>, abgerufen am 26.06.2024.