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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erzieher.

Milderung des pedantisch strengen Tones im Verkehr zwischen Eltern und Kin¬
dern, der Einführung des Anschauungsunterrichts und Vermeidung des abstrakten
Gedächtniskrames, alle diese neuen Gedanken und die zahlreichen feinen Beob¬
achtungen an der Kindesseele wirkten wie eine Offenbarung auf die Zeitgenossen.
In Deutschland entstanden neue Erziehungsanstalten nach Rousseaus Grund¬
sätzen, und ein Schwärmer wie Lavater, ein derber Schulmeister wie Basedow
machten Propaganda für die neuen "Philanthropine." Basedow wanderte von
Stadt zu Stadt, um Geldbeiträge für Gründung eines solchen zu sammeln,
und auch der junge Goethe zu Weimar half ihm dabei. Von welchem Ein¬
flüsse Rousseau auf Goethes Gesinnung und Dichtung wurde, ist aus den
"Leiden des jungen Werthers" bekannt. Langguth führt aber ferner den Nach¬
weis, daß auch die Erziehungsszene im ersten Götz-Entwurf (Karl, Maria, Eli¬
sabeth) auf die Kenntnis Rousseaus zurückzuführen sei; und ebenso der bedeut¬
same Scherz Götzens mit seinen Sohne, der wohl richtig auswendig gelernt hat,
daß Jaxthausen eine Burg an der Faxt sei, diese selbst aber nicht auf allen Pfaden,
Wegen und Furten wie der junge Götz wandernd mit eignen offnen Augen
kennen gelernt hat.

Allein bei Goethes Interesse für pädagogische Fragen spielte auch seine
Persönlichkeit als Künstler und Mensch mit. Goethe liebte die Kinder und die
Jugend überhaupt. Der Umgang mit ihnen machte ihn wieder froh und jung,
wie er selbst sagt. "War er nicht ganz ein Kind -- führt Langguth aus --
in der Freude und Lust an der sinnlichen Anschauung, und zwar Zeit seines
Lebens? Noch im Jahre der Reise nach Italien schreibt er aus München:
"Herder hat wohl Recht zu sagen, daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und
jetzt ist es mir so wohl, daß ich ohngestrast meinem kindischen Wesen folgen
kann." Der Knabe Wolfgang findet an den Seifenblasen ein buntes Spiel¬
werk, es blendet ihn die glänzende Farbenerscheinung, wenn er durch ein ge¬
schliffenes Glas die Welt ansieht; bei Goethe dem Greis, dem guten Großvater,
wie ihn Marianne von Willemer nennt, erregen Äpfelchen, ein Geschenk Ma¬
riannens für seinen Enkel, den Wunsch, Kind zu sein. Er braucht immer jemand
Fremdes, mit dem er wachsen, dem er seine zunehmenden Kenntnisse mitteilen
kann." In einem Briefe an Frau von Stein äußert Goethe einmal, indem
er von ihrem Sohne Fritz, der mit ihm gezogen war, berichtet: "Mit Fritz an
einem Tische habe ich eine Kanzlei aufgeschlagen, er ist recht gut, lieb und rein.
Christus hat recht, uns auf die Kinder zu weisen, von ihnen kann man leben
lernen und selig werden." Wenn er an Lotte und Kestner, später aus Italien
an Herder schrieb, vergaß er nie, die Kinder ausdrücklich zu grüßen, oder er
schrieb ihnen ganz eigens einen Brief, sandte ihnen kleine Geschenke, Aufmunte¬
rungen und Belohnungen, ganz besonders seinem geliebten Fritz von Stein, den
er früh schon zum Vertrauten seiner Arbeiten und Geschäfte gemacht hatte. Der
Knabe der geliebten Frau erfreute sich Zeit seines Lebens der Gunst Goethes. Wie


Goethe als Erzieher.

Milderung des pedantisch strengen Tones im Verkehr zwischen Eltern und Kin¬
dern, der Einführung des Anschauungsunterrichts und Vermeidung des abstrakten
Gedächtniskrames, alle diese neuen Gedanken und die zahlreichen feinen Beob¬
achtungen an der Kindesseele wirkten wie eine Offenbarung auf die Zeitgenossen.
In Deutschland entstanden neue Erziehungsanstalten nach Rousseaus Grund¬
sätzen, und ein Schwärmer wie Lavater, ein derber Schulmeister wie Basedow
machten Propaganda für die neuen „Philanthropine." Basedow wanderte von
Stadt zu Stadt, um Geldbeiträge für Gründung eines solchen zu sammeln,
und auch der junge Goethe zu Weimar half ihm dabei. Von welchem Ein¬
flüsse Rousseau auf Goethes Gesinnung und Dichtung wurde, ist aus den
„Leiden des jungen Werthers" bekannt. Langguth führt aber ferner den Nach¬
weis, daß auch die Erziehungsszene im ersten Götz-Entwurf (Karl, Maria, Eli¬
sabeth) auf die Kenntnis Rousseaus zurückzuführen sei; und ebenso der bedeut¬
same Scherz Götzens mit seinen Sohne, der wohl richtig auswendig gelernt hat,
daß Jaxthausen eine Burg an der Faxt sei, diese selbst aber nicht auf allen Pfaden,
Wegen und Furten wie der junge Götz wandernd mit eignen offnen Augen
kennen gelernt hat.

Allein bei Goethes Interesse für pädagogische Fragen spielte auch seine
Persönlichkeit als Künstler und Mensch mit. Goethe liebte die Kinder und die
Jugend überhaupt. Der Umgang mit ihnen machte ihn wieder froh und jung,
wie er selbst sagt. „War er nicht ganz ein Kind — führt Langguth aus —
in der Freude und Lust an der sinnlichen Anschauung, und zwar Zeit seines
Lebens? Noch im Jahre der Reise nach Italien schreibt er aus München:
»Herder hat wohl Recht zu sagen, daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und
jetzt ist es mir so wohl, daß ich ohngestrast meinem kindischen Wesen folgen
kann.« Der Knabe Wolfgang findet an den Seifenblasen ein buntes Spiel¬
werk, es blendet ihn die glänzende Farbenerscheinung, wenn er durch ein ge¬
schliffenes Glas die Welt ansieht; bei Goethe dem Greis, dem guten Großvater,
wie ihn Marianne von Willemer nennt, erregen Äpfelchen, ein Geschenk Ma¬
riannens für seinen Enkel, den Wunsch, Kind zu sein. Er braucht immer jemand
Fremdes, mit dem er wachsen, dem er seine zunehmenden Kenntnisse mitteilen
kann." In einem Briefe an Frau von Stein äußert Goethe einmal, indem
er von ihrem Sohne Fritz, der mit ihm gezogen war, berichtet: „Mit Fritz an
einem Tische habe ich eine Kanzlei aufgeschlagen, er ist recht gut, lieb und rein.
Christus hat recht, uns auf die Kinder zu weisen, von ihnen kann man leben
lernen und selig werden." Wenn er an Lotte und Kestner, später aus Italien
an Herder schrieb, vergaß er nie, die Kinder ausdrücklich zu grüßen, oder er
schrieb ihnen ganz eigens einen Brief, sandte ihnen kleine Geschenke, Aufmunte¬
rungen und Belohnungen, ganz besonders seinem geliebten Fritz von Stein, den
er früh schon zum Vertrauten seiner Arbeiten und Geschäfte gemacht hatte. Der
Knabe der geliebten Frau erfreute sich Zeit seines Lebens der Gunst Goethes. Wie


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[0172] Goethe als Erzieher. Milderung des pedantisch strengen Tones im Verkehr zwischen Eltern und Kin¬ dern, der Einführung des Anschauungsunterrichts und Vermeidung des abstrakten Gedächtniskrames, alle diese neuen Gedanken und die zahlreichen feinen Beob¬ achtungen an der Kindesseele wirkten wie eine Offenbarung auf die Zeitgenossen. In Deutschland entstanden neue Erziehungsanstalten nach Rousseaus Grund¬ sätzen, und ein Schwärmer wie Lavater, ein derber Schulmeister wie Basedow machten Propaganda für die neuen „Philanthropine." Basedow wanderte von Stadt zu Stadt, um Geldbeiträge für Gründung eines solchen zu sammeln, und auch der junge Goethe zu Weimar half ihm dabei. Von welchem Ein¬ flüsse Rousseau auf Goethes Gesinnung und Dichtung wurde, ist aus den „Leiden des jungen Werthers" bekannt. Langguth führt aber ferner den Nach¬ weis, daß auch die Erziehungsszene im ersten Götz-Entwurf (Karl, Maria, Eli¬ sabeth) auf die Kenntnis Rousseaus zurückzuführen sei; und ebenso der bedeut¬ same Scherz Götzens mit seinen Sohne, der wohl richtig auswendig gelernt hat, daß Jaxthausen eine Burg an der Faxt sei, diese selbst aber nicht auf allen Pfaden, Wegen und Furten wie der junge Götz wandernd mit eignen offnen Augen kennen gelernt hat. Allein bei Goethes Interesse für pädagogische Fragen spielte auch seine Persönlichkeit als Künstler und Mensch mit. Goethe liebte die Kinder und die Jugend überhaupt. Der Umgang mit ihnen machte ihn wieder froh und jung, wie er selbst sagt. „War er nicht ganz ein Kind — führt Langguth aus — in der Freude und Lust an der sinnlichen Anschauung, und zwar Zeit seines Lebens? Noch im Jahre der Reise nach Italien schreibt er aus München: »Herder hat wohl Recht zu sagen, daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und jetzt ist es mir so wohl, daß ich ohngestrast meinem kindischen Wesen folgen kann.« Der Knabe Wolfgang findet an den Seifenblasen ein buntes Spiel¬ werk, es blendet ihn die glänzende Farbenerscheinung, wenn er durch ein ge¬ schliffenes Glas die Welt ansieht; bei Goethe dem Greis, dem guten Großvater, wie ihn Marianne von Willemer nennt, erregen Äpfelchen, ein Geschenk Ma¬ riannens für seinen Enkel, den Wunsch, Kind zu sein. Er braucht immer jemand Fremdes, mit dem er wachsen, dem er seine zunehmenden Kenntnisse mitteilen kann." In einem Briefe an Frau von Stein äußert Goethe einmal, indem er von ihrem Sohne Fritz, der mit ihm gezogen war, berichtet: „Mit Fritz an einem Tische habe ich eine Kanzlei aufgeschlagen, er ist recht gut, lieb und rein. Christus hat recht, uns auf die Kinder zu weisen, von ihnen kann man leben lernen und selig werden." Wenn er an Lotte und Kestner, später aus Italien an Herder schrieb, vergaß er nie, die Kinder ausdrücklich zu grüßen, oder er schrieb ihnen ganz eigens einen Brief, sandte ihnen kleine Geschenke, Aufmunte¬ rungen und Belohnungen, ganz besonders seinem geliebten Fritz von Stein, den er früh schon zum Vertrauten seiner Arbeiten und Geschäfte gemacht hatte. Der Knabe der geliebten Frau erfreute sich Zeit seines Lebens der Gunst Goethes. Wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/172>, abgerufen am 28.09.2024.