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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen.

danken, d. h. die Höhe der vaterländischen Stimmung, aus der er stammte, so¬
bald nachher wieder ganz verloren hatte, kann man im neuesten Goethe-Jahrbuch
S. 90 finden, s. besonders den Brief an Voigt vom 26. August 1816; die "Ver¬
blendung," von der er da spricht, war doch wirklich auf seiner eignen Seite,
dieselbe, aus der man ihn im December 1813 in Kiefers Bericht herausgerissen
sah. Wie gut wieder, daß nicht alle so dachten und empfanden, nachdem der
erste Morgentraum verrauscht war und die harte Tagesarbeit begann.

Die Geschichte eine rückwärts gekehrte Prophetie, das ist eigentlich die
Seele unsrer seitdem verjüngten Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ge¬
worden. So ausgesprochen in dem Vorwort zu dem ersten großen Unternehmen
der Art von Perthes, Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von
Heeren und Ukert 1. Band S. IV: "Damit man sehe, wie im Laufe der Zeit
jeder Staat das geworden ist, was er ist, damit die Gegenwart richtig ver¬
standen und der Blick in die Zukunft, so viel möglich, weniger unsicher werde."
Und in der Einleitung zur Geschichte der Teutschen von dem trefflichen schwä¬
bischen Pfarrer Pfister, die das Unternehmen eröffnete, im 1. Band S. IX:
"Sehr ernste Fragen hat unser Jahrhundert zur Sprache gebracht. Zu ihrer
Lösung soll die Geschichte als Einleitung dienen, und sie wird es, dafür bürgt
der Eifer und die ausgebreitete Thätigkeit, wozu sich eben jetzt so viele ver¬
einigen." Das ist im Jahre 1829 geschrieben, kurz vor den Stürmen von 1830,
denen nachher die von 1848 folgten u. s. w., d. h. die ernsten öffentlichen all¬
gemeinen Fragen, von denen Pfister 1829 sprach, häuften sich und steigerten
sich und rückten uns, jedem Einzelnen, immer näher auf den Leib, daß einer
nach dem andern in die Drehung der gewaltigen Bewegung hereingezogen wurde:
recht eigentlich unsre Lebensfrage, bis ins alltäglichste Erwerbs- und Geschäfts¬
leben herunter, wie bis in das höchste Geistesleben hinauf, eigentlich die eine
Frage: können wir uns als Volk, als lebendiges Ganzes verjüngen aus dem
einst alternden, absterbenden Zustande heraus? und nun auch aus den eingetre¬
tenen wirren Währungen heraus zu einer festen Neugestaltung kommen? Welche
Arbeit für die Geschichte nach allen Seiten, daß sie als Prophetie aus den
Wegen und Irrwegen der Vergangenheit heraus den rechten Weg für die Zu¬
kunft weise!

So war und ist nun das Amt des Prophezeiens, das doch nicht leer
bleiben kann, an die Wissenschaft übergegangen, ist aus einem begeisterten Träumen
oder Schwärmen zu einem ernsten Arbeiten geworden, die Wissenschaft aber damit
geadelt, indem sie mit ihrer sauern, nüchternen Arbeit zugleich doch das alte
Amt des Sehers und Priesters übernimmt und damit nicht mehr nur, wie in
der vorigen Zeit der bloßen Gelehrsamkeit, über das Geschehene wie über ein
Abgeschlossenes aus ferner kühler Höhe Buch führt für das bloße Wissen der
Schule, sondern bei aller reinen Höhe doch dem Leben so nahe rückt, daß sie
nicht nur dessen Pulsschlag teilt, sondern auch in sein Werden und Geschehen


Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen.

danken, d. h. die Höhe der vaterländischen Stimmung, aus der er stammte, so¬
bald nachher wieder ganz verloren hatte, kann man im neuesten Goethe-Jahrbuch
S. 90 finden, s. besonders den Brief an Voigt vom 26. August 1816; die „Ver¬
blendung," von der er da spricht, war doch wirklich auf seiner eignen Seite,
dieselbe, aus der man ihn im December 1813 in Kiefers Bericht herausgerissen
sah. Wie gut wieder, daß nicht alle so dachten und empfanden, nachdem der
erste Morgentraum verrauscht war und die harte Tagesarbeit begann.

Die Geschichte eine rückwärts gekehrte Prophetie, das ist eigentlich die
Seele unsrer seitdem verjüngten Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ge¬
worden. So ausgesprochen in dem Vorwort zu dem ersten großen Unternehmen
der Art von Perthes, Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von
Heeren und Ukert 1. Band S. IV: „Damit man sehe, wie im Laufe der Zeit
jeder Staat das geworden ist, was er ist, damit die Gegenwart richtig ver¬
standen und der Blick in die Zukunft, so viel möglich, weniger unsicher werde."
Und in der Einleitung zur Geschichte der Teutschen von dem trefflichen schwä¬
bischen Pfarrer Pfister, die das Unternehmen eröffnete, im 1. Band S. IX:
„Sehr ernste Fragen hat unser Jahrhundert zur Sprache gebracht. Zu ihrer
Lösung soll die Geschichte als Einleitung dienen, und sie wird es, dafür bürgt
der Eifer und die ausgebreitete Thätigkeit, wozu sich eben jetzt so viele ver¬
einigen." Das ist im Jahre 1829 geschrieben, kurz vor den Stürmen von 1830,
denen nachher die von 1848 folgten u. s. w., d. h. die ernsten öffentlichen all¬
gemeinen Fragen, von denen Pfister 1829 sprach, häuften sich und steigerten
sich und rückten uns, jedem Einzelnen, immer näher auf den Leib, daß einer
nach dem andern in die Drehung der gewaltigen Bewegung hereingezogen wurde:
recht eigentlich unsre Lebensfrage, bis ins alltäglichste Erwerbs- und Geschäfts¬
leben herunter, wie bis in das höchste Geistesleben hinauf, eigentlich die eine
Frage: können wir uns als Volk, als lebendiges Ganzes verjüngen aus dem
einst alternden, absterbenden Zustande heraus? und nun auch aus den eingetre¬
tenen wirren Währungen heraus zu einer festen Neugestaltung kommen? Welche
Arbeit für die Geschichte nach allen Seiten, daß sie als Prophetie aus den
Wegen und Irrwegen der Vergangenheit heraus den rechten Weg für die Zu¬
kunft weise!

So war und ist nun das Amt des Prophezeiens, das doch nicht leer
bleiben kann, an die Wissenschaft übergegangen, ist aus einem begeisterten Träumen
oder Schwärmen zu einem ernsten Arbeiten geworden, die Wissenschaft aber damit
geadelt, indem sie mit ihrer sauern, nüchternen Arbeit zugleich doch das alte
Amt des Sehers und Priesters übernimmt und damit nicht mehr nur, wie in
der vorigen Zeit der bloßen Gelehrsamkeit, über das Geschehene wie über ein
Abgeschlossenes aus ferner kühler Höhe Buch führt für das bloße Wissen der
Schule, sondern bei aller reinen Höhe doch dem Leben so nahe rückt, daß sie
nicht nur dessen Pulsschlag teilt, sondern auch in sein Werden und Geschehen


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[0143] Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosophen. danken, d. h. die Höhe der vaterländischen Stimmung, aus der er stammte, so¬ bald nachher wieder ganz verloren hatte, kann man im neuesten Goethe-Jahrbuch S. 90 finden, s. besonders den Brief an Voigt vom 26. August 1816; die „Ver¬ blendung," von der er da spricht, war doch wirklich auf seiner eignen Seite, dieselbe, aus der man ihn im December 1813 in Kiefers Bericht herausgerissen sah. Wie gut wieder, daß nicht alle so dachten und empfanden, nachdem der erste Morgentraum verrauscht war und die harte Tagesarbeit begann. Die Geschichte eine rückwärts gekehrte Prophetie, das ist eigentlich die Seele unsrer seitdem verjüngten Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ge¬ worden. So ausgesprochen in dem Vorwort zu dem ersten großen Unternehmen der Art von Perthes, Geschichte der europäischen Staaten, herausgegeben von Heeren und Ukert 1. Band S. IV: „Damit man sehe, wie im Laufe der Zeit jeder Staat das geworden ist, was er ist, damit die Gegenwart richtig ver¬ standen und der Blick in die Zukunft, so viel möglich, weniger unsicher werde." Und in der Einleitung zur Geschichte der Teutschen von dem trefflichen schwä¬ bischen Pfarrer Pfister, die das Unternehmen eröffnete, im 1. Band S. IX: „Sehr ernste Fragen hat unser Jahrhundert zur Sprache gebracht. Zu ihrer Lösung soll die Geschichte als Einleitung dienen, und sie wird es, dafür bürgt der Eifer und die ausgebreitete Thätigkeit, wozu sich eben jetzt so viele ver¬ einigen." Das ist im Jahre 1829 geschrieben, kurz vor den Stürmen von 1830, denen nachher die von 1848 folgten u. s. w., d. h. die ernsten öffentlichen all¬ gemeinen Fragen, von denen Pfister 1829 sprach, häuften sich und steigerten sich und rückten uns, jedem Einzelnen, immer näher auf den Leib, daß einer nach dem andern in die Drehung der gewaltigen Bewegung hereingezogen wurde: recht eigentlich unsre Lebensfrage, bis ins alltäglichste Erwerbs- und Geschäfts¬ leben herunter, wie bis in das höchste Geistesleben hinauf, eigentlich die eine Frage: können wir uns als Volk, als lebendiges Ganzes verjüngen aus dem einst alternden, absterbenden Zustande heraus? und nun auch aus den eingetre¬ tenen wirren Währungen heraus zu einer festen Neugestaltung kommen? Welche Arbeit für die Geschichte nach allen Seiten, daß sie als Prophetie aus den Wegen und Irrwegen der Vergangenheit heraus den rechten Weg für die Zu¬ kunft weise! So war und ist nun das Amt des Prophezeiens, das doch nicht leer bleiben kann, an die Wissenschaft übergegangen, ist aus einem begeisterten Träumen oder Schwärmen zu einem ernsten Arbeiten geworden, die Wissenschaft aber damit geadelt, indem sie mit ihrer sauern, nüchternen Arbeit zugleich doch das alte Amt des Sehers und Priesters übernimmt und damit nicht mehr nur, wie in der vorigen Zeit der bloßen Gelehrsamkeit, über das Geschehene wie über ein Abgeschlossenes aus ferner kühler Höhe Buch führt für das bloße Wissen der Schule, sondern bei aller reinen Höhe doch dem Leben so nahe rückt, daß sie nicht nur dessen Pulsschlag teilt, sondern auch in sein Werden und Geschehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/143>, abgerufen am 24.08.2024.