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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur.

mystischem, nach innen gewandtem Lächeln, so unergründlich fein in seiner ge¬
heimnisvollen Anmut.

Aber hatte er dann elf Tage lang seiner Gottheit treulich gedient, so konnte
es wohl vorkommen, daß andre Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und
es konnte ihn ein rasendes Verlangen ergreifen nach den groben Lüsten der
groben Genüsse. Dann gab er sich ihnen hin, fieberhaft ergriffen von dem mensch¬
lichen Bedürfnis nach Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie es
brennen kann, sich nach Erniedrigung, nach Kot und Schmutz sehnt, genau mit
demselben Maße von Kraft, welches jenes andre, ebenso menschliche Bedürfnis
besitzt, das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten, sich größer und reiner zu erhalten,
als man in Wirklichkeit ist.

In solchen Augenblicken gab es kaum etwas, das ihm roh und gewaltsam
genug erschienen wäre, und es währte lange, bis er sein Gleichgewicht wieder
errang, nachdem dieser Zustand vorübergegangen war, denn im Grunde war ihm
dieser Zustand nicht natürlich, dazu war er viel zu gesund, und er kam eigent¬
lich nur als ein Ausschlagen in der seiner Hingebung zu den höhern Mächten
der Kunst entgegengesetzten Richtung, gleichsam als Racheakt, als fühle seine
Natur sich gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, zu dessen Ver¬
folgung ihn die Umstände geführt hatten.

Der Kampf dieser beiden Richtungen hatte jedoch nicht derartig die Ober¬
hand in Erik Restrup gewonnen, daß er sich nach außen hin gezeigt hätte oder
daß es ihm ein Bedürfnis gewesen wäre, seine Umgebung dadurch mit sich in
Einklang zu bringen. Nein, er war noch immer derselbe unzusammeugesetzte,
lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig unbeholfen infolge seiner Scheu vor
Gefühlsausbrüchen, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zu nehmen und
zu erfassen. Das Gefühl war aber trotzdem in seinem Innern, es machte sich
vernehmlich in stillen Stunden, gleich den Glocken, die in der versunkenen Stadt
auf dem Meeresgrunde erklingen; und er und Ricks hatten einander nie so gur
verstanden wie jetzt, das fühlten sie, und sie schlössen schweigend einen neuen
Freundschaftsbund. Als die Ferienzeit kam und Ricks einmal Ernst machte mit
seinem Vorsatze, die Tante Rosalie zu besuchen, die mit dem Konsul Claudy in
Fjordby verheiratet war, begleitete ihn Erik. (Fortsetzung folgt.)




Litteratur.
Kur Moral der litterarischen Kritik. Eine moralphilosophische Streitschrift von Wil¬
helm Wund t. Leipzig, W. Engelmann, 1887.

Wir haben schon gelegentlich in diesen Blättern ausgesprochen, daß wir die
Unterwerfung des Sittengesetzes unter das naturwissenschaftliche Prinzip der Ent-


Litteratur.

mystischem, nach innen gewandtem Lächeln, so unergründlich fein in seiner ge¬
heimnisvollen Anmut.

Aber hatte er dann elf Tage lang seiner Gottheit treulich gedient, so konnte
es wohl vorkommen, daß andre Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und
es konnte ihn ein rasendes Verlangen ergreifen nach den groben Lüsten der
groben Genüsse. Dann gab er sich ihnen hin, fieberhaft ergriffen von dem mensch¬
lichen Bedürfnis nach Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie es
brennen kann, sich nach Erniedrigung, nach Kot und Schmutz sehnt, genau mit
demselben Maße von Kraft, welches jenes andre, ebenso menschliche Bedürfnis
besitzt, das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten, sich größer und reiner zu erhalten,
als man in Wirklichkeit ist.

In solchen Augenblicken gab es kaum etwas, das ihm roh und gewaltsam
genug erschienen wäre, und es währte lange, bis er sein Gleichgewicht wieder
errang, nachdem dieser Zustand vorübergegangen war, denn im Grunde war ihm
dieser Zustand nicht natürlich, dazu war er viel zu gesund, und er kam eigent¬
lich nur als ein Ausschlagen in der seiner Hingebung zu den höhern Mächten
der Kunst entgegengesetzten Richtung, gleichsam als Racheakt, als fühle seine
Natur sich gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, zu dessen Ver¬
folgung ihn die Umstände geführt hatten.

Der Kampf dieser beiden Richtungen hatte jedoch nicht derartig die Ober¬
hand in Erik Restrup gewonnen, daß er sich nach außen hin gezeigt hätte oder
daß es ihm ein Bedürfnis gewesen wäre, seine Umgebung dadurch mit sich in
Einklang zu bringen. Nein, er war noch immer derselbe unzusammeugesetzte,
lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig unbeholfen infolge seiner Scheu vor
Gefühlsausbrüchen, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zu nehmen und
zu erfassen. Das Gefühl war aber trotzdem in seinem Innern, es machte sich
vernehmlich in stillen Stunden, gleich den Glocken, die in der versunkenen Stadt
auf dem Meeresgrunde erklingen; und er und Ricks hatten einander nie so gur
verstanden wie jetzt, das fühlten sie, und sie schlössen schweigend einen neuen
Freundschaftsbund. Als die Ferienzeit kam und Ricks einmal Ernst machte mit
seinem Vorsatze, die Tante Rosalie zu besuchen, die mit dem Konsul Claudy in
Fjordby verheiratet war, begleitete ihn Erik. (Fortsetzung folgt.)




Litteratur.
Kur Moral der litterarischen Kritik. Eine moralphilosophische Streitschrift von Wil¬
helm Wund t. Leipzig, W. Engelmann, 1887.

Wir haben schon gelegentlich in diesen Blättern ausgesprochen, daß wir die
Unterwerfung des Sittengesetzes unter das naturwissenschaftliche Prinzip der Ent-


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[0103] Litteratur. mystischem, nach innen gewandtem Lächeln, so unergründlich fein in seiner ge¬ heimnisvollen Anmut. Aber hatte er dann elf Tage lang seiner Gottheit treulich gedient, so konnte es wohl vorkommen, daß andre Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und es konnte ihn ein rasendes Verlangen ergreifen nach den groben Lüsten der groben Genüsse. Dann gab er sich ihnen hin, fieberhaft ergriffen von dem mensch¬ lichen Bedürfnis nach Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie es brennen kann, sich nach Erniedrigung, nach Kot und Schmutz sehnt, genau mit demselben Maße von Kraft, welches jenes andre, ebenso menschliche Bedürfnis besitzt, das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten, sich größer und reiner zu erhalten, als man in Wirklichkeit ist. In solchen Augenblicken gab es kaum etwas, das ihm roh und gewaltsam genug erschienen wäre, und es währte lange, bis er sein Gleichgewicht wieder errang, nachdem dieser Zustand vorübergegangen war, denn im Grunde war ihm dieser Zustand nicht natürlich, dazu war er viel zu gesund, und er kam eigent¬ lich nur als ein Ausschlagen in der seiner Hingebung zu den höhern Mächten der Kunst entgegengesetzten Richtung, gleichsam als Racheakt, als fühle seine Natur sich gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, zu dessen Ver¬ folgung ihn die Umstände geführt hatten. Der Kampf dieser beiden Richtungen hatte jedoch nicht derartig die Ober¬ hand in Erik Restrup gewonnen, daß er sich nach außen hin gezeigt hätte oder daß es ihm ein Bedürfnis gewesen wäre, seine Umgebung dadurch mit sich in Einklang zu bringen. Nein, er war noch immer derselbe unzusammeugesetzte, lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig unbeholfen infolge seiner Scheu vor Gefühlsausbrüchen, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zu nehmen und zu erfassen. Das Gefühl war aber trotzdem in seinem Innern, es machte sich vernehmlich in stillen Stunden, gleich den Glocken, die in der versunkenen Stadt auf dem Meeresgrunde erklingen; und er und Ricks hatten einander nie so gur verstanden wie jetzt, das fühlten sie, und sie schlössen schweigend einen neuen Freundschaftsbund. Als die Ferienzeit kam und Ricks einmal Ernst machte mit seinem Vorsatze, die Tante Rosalie zu besuchen, die mit dem Konsul Claudy in Fjordby verheiratet war, begleitete ihn Erik. (Fortsetzung folgt.) Litteratur. Kur Moral der litterarischen Kritik. Eine moralphilosophische Streitschrift von Wil¬ helm Wund t. Leipzig, W. Engelmann, 1887. Wir haben schon gelegentlich in diesen Blättern ausgesprochen, daß wir die Unterwerfung des Sittengesetzes unter das naturwissenschaftliche Prinzip der Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/103>, abgerufen am 03.07.2024.