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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

dann wird der Himmel jener freie, unendliche Raum statt eines drohenden
Späherauges, erst dann wird die Erde unser, erst dann gehören wir der
Erde an, wenn jene dunkle Welt der Seligkeit und der Verdammnis da draußen
wie eine Seifenblase zersprungen ist. Die Erde wird unser wahres Vaterland,
das Heim unsers Herzens, wo wir uns nicht wie Fremdlinge nur eine kurze
Spanne Zeit aufhalten, sondern für die ganze Dauer unsrer Zeit. Und welchen
Vollgehalt wird das nicht unserm Leben verleihen, wenn dieses Leben alles
umschließen wird, wenn außerhalb desselben nichts mehr liegt! Der unendliche
Liebesstrom, der jetzt zu dem Gott aufsteigt, an den man glaubt, wird sich,
wenn der Himmel leer ist, der Erde zuneigen, wird mit liebenden Armen alle
die schönen, menschlichen Eigenschaften und Gaben umfassen, mit denen wir die
Gottheit ausgestattet und geschmückt haben, um sie unsrer Liebe wert zu machen.
Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, wer kann sie alle nennen? Begreifen Sie nicht,
welchen Adel das über die Menschheit ausbreiten muß, wenn sie ihr Leben frei
leben und ihren Tod frei sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle oder Hoff¬
nung auf den Himmel, nur sich allein fürchtend, nur auf sich selber hoffend?
Wie wird nicht das Gewissen geschärft werden, welche Festigkeit wird es nicht
geben, wenn thatenlose Reue und Demut nichts mehr zu sühnen vermögen,
wenn es keine andre Vergebung mehr giebt, als indem man durch Gutes das
Böse wieder gut macht, das man verbrochen hat!

Sie scheinen einen wunderbaren Glauben an die Menschheit zu haben.
Der Atheismus würde darnach ja weit größere Forderungen an die Menschen
stellen, als es das Christentum thut!

Ja natürlich!

Natürlich? Woher wollen Sie denn alle die starken Persönlichkeiten
nehmen, deren sie bedürfen, um ihre atheistische Menschheit zusammensetzen zu
können?

Der Atheismus soll sie nach und nach selber erziehen; weder dieses Ge¬
schlecht noch das nächste noch die dann folgenden werden den Atheismus er¬
tragen können, das weiß ich wohl; aber in jedem Geschlechte wird es einzelne
geben, die sich ehrlich durchkämpfen werden zu einem Leben und zu einem Tode,
und diese werden im Laufe der Zeiten eine Reihe geistiger Ahnen bilden, auf
welche die kommenden Geschlechter mit Stolz zurückblicken und durch deren Be¬
trachtung sie erstarken werden. Im Anfange werden die Bedingungen am
härtesten sein, werden die meisten im Kampfe erliegen, und die, welche siegen,
den Sieg nur mit zerfetzten Fahnen erringen, weil ihr Innerstes noch von
Überlieferungen erfüllt sein wird und weil es in einem Menschen noch so viel
andres giebt als Gehirn, so vieles, was erst überzeugt werden muß: das Blut
und die Nerven, die Hoffnungen, das Sehnen, ja sogar die Träume! Aber
darum wird es doch einmal kommen, und aus den Wenigen werden Viele
werden!


Ricks Lyhne.

dann wird der Himmel jener freie, unendliche Raum statt eines drohenden
Späherauges, erst dann wird die Erde unser, erst dann gehören wir der
Erde an, wenn jene dunkle Welt der Seligkeit und der Verdammnis da draußen
wie eine Seifenblase zersprungen ist. Die Erde wird unser wahres Vaterland,
das Heim unsers Herzens, wo wir uns nicht wie Fremdlinge nur eine kurze
Spanne Zeit aufhalten, sondern für die ganze Dauer unsrer Zeit. Und welchen
Vollgehalt wird das nicht unserm Leben verleihen, wenn dieses Leben alles
umschließen wird, wenn außerhalb desselben nichts mehr liegt! Der unendliche
Liebesstrom, der jetzt zu dem Gott aufsteigt, an den man glaubt, wird sich,
wenn der Himmel leer ist, der Erde zuneigen, wird mit liebenden Armen alle
die schönen, menschlichen Eigenschaften und Gaben umfassen, mit denen wir die
Gottheit ausgestattet und geschmückt haben, um sie unsrer Liebe wert zu machen.
Güte, Gerechtigkeit, Weisheit, wer kann sie alle nennen? Begreifen Sie nicht,
welchen Adel das über die Menschheit ausbreiten muß, wenn sie ihr Leben frei
leben und ihren Tod frei sterben kann, ohne Furcht vor der Hölle oder Hoff¬
nung auf den Himmel, nur sich allein fürchtend, nur auf sich selber hoffend?
Wie wird nicht das Gewissen geschärft werden, welche Festigkeit wird es nicht
geben, wenn thatenlose Reue und Demut nichts mehr zu sühnen vermögen,
wenn es keine andre Vergebung mehr giebt, als indem man durch Gutes das
Böse wieder gut macht, das man verbrochen hat!

Sie scheinen einen wunderbaren Glauben an die Menschheit zu haben.
Der Atheismus würde darnach ja weit größere Forderungen an die Menschen
stellen, als es das Christentum thut!

Ja natürlich!

Natürlich? Woher wollen Sie denn alle die starken Persönlichkeiten
nehmen, deren sie bedürfen, um ihre atheistische Menschheit zusammensetzen zu
können?

Der Atheismus soll sie nach und nach selber erziehen; weder dieses Ge¬
schlecht noch das nächste noch die dann folgenden werden den Atheismus er¬
tragen können, das weiß ich wohl; aber in jedem Geschlechte wird es einzelne
geben, die sich ehrlich durchkämpfen werden zu einem Leben und zu einem Tode,
und diese werden im Laufe der Zeiten eine Reihe geistiger Ahnen bilden, auf
welche die kommenden Geschlechter mit Stolz zurückblicken und durch deren Be¬
trachtung sie erstarken werden. Im Anfange werden die Bedingungen am
härtesten sein, werden die meisten im Kampfe erliegen, und die, welche siegen,
den Sieg nur mit zerfetzten Fahnen erringen, weil ihr Innerstes noch von
Überlieferungen erfüllt sein wird und weil es in einem Menschen noch so viel
andres giebt als Gehirn, so vieles, was erst überzeugt werden muß: das Blut
und die Nerven, die Hoffnungen, das Sehnen, ja sogar die Träume! Aber
darum wird es doch einmal kommen, und aus den Wenigen werden Viele
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_289122/100>, abgerufen am 26.06.2024.