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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

los vorgetragen, nachgesprochen und auswendig gelernt: Deutschland enthält
ein Kaisertum, fünf Königreiche u. s. w. Ich erinnere mich aus meiner Jugend¬
zeit noch sehr genau, wie vieles Kopfzerbrechen mir als Knaben das allerdings
nicht leicht zu lösende Problem machte, wie es möglich sei, daß das zu Deutsch¬
land gehörende Kaisertum allein über 12 000 Quadratmeilen umfaßte, während
ganz Deutschland, das doch noch fünf Königreiche, ein Kurfürstentum, so und
so viele Großherzogtümer, Herzogtümer u. s. w. enthielt, nur eine Größe von
11600 Quadratmeilen hatte. Dagegen erinnere ich mich nicht, daß irgend einer
unsrer Lehrer auch nur einmal versucht hätte, diese Verhältnisse etwas auf¬
zuklären. Ich habe auch nie gehört, daß meine Altersgenossen, Universitäts-
freunde u. a. in dieser Beziehung etwas klarere Anschauungen gehabt hätten.
Vielleicht haben unsre Lehrer bei diesem heikeln Punkte nach dem bekannten
Worte des Mephistopheles gehandelt:


Das Beste, was du wissen kannst,
Darfst du den Buben doch nicht sagen.

Aber ich glaube den gelehrten, klassisch gebildeten Philologen, die damals viel
mehr noch als heute für den höhern Unterricht ausschlaggebend waren, kein
Unrecht anzutun, wenn ich annehme, daß die meisten unter ihnen über die ver¬
zwickten politischen Verhältnisse des deutschen Bundes nicht viel klarer waren
als die heranwachsende Jugend. Was wir in den fünfziger und sechziger Jahren
nicht gelernt haben, wird man den Leuten, die in den zwanziger, dreißiger und
vierziger Jahren ausgebildet wurden, erst recht nicht eingepaukt haben. Und
über das, was auf Schulen und Universitäten nicht gelehrt wird, durch eignes
Studium, durch selbständiges Nachdenken sich Klarheit zu verschaffen, das ist
von jeher die Sache nur weniger gewesen. Die grundverkehrte Auffassung,
die Österreicher im allgemeinen schlechtweg und unbesehen für Deutsche zu halten,
führte natürlich auch vielfach zu einer ganz falschen Darstellung der Geschichte.
Daß z. B. Johann Huß kein Deutscher, sondern ein fanatischer Tscheche war,
daß bei der ganzen Hussitenbewegung der wütende Deutschenhaß jenes uns
nicht gerade sehr sympathischen Slavenstammes mindestens eine eben so große
Rolle spielte wie die Religion, habe ich erst im reifern Alter lernen müssen.
In der Jugend wurde uns dieser Deutschenfeind nur dargestellt als der Vor¬
läufer Luthers und der Reformation, als Vorkämpfer des Evangeliums, als
Märtyrer der reinen Lehre, und die wüsten tschechischen Räuber-, Brandstifter¬
und Mörderbanden waren begeisterte Glaubenskämpfer. Derartige falsche
Darstellungen und Auffassungen der Geschichte sind übrigens nicht neu und
stammen nicht etwa erst aus diesem Jahrhundert, und die Leute, die sie vor¬
gebracht haben und zum Teil noch vorbringen, können sich dafür auf berühmte
Muster berufen. Schiller z. B., sowohl in seinen dramatischen Dichtungen über
Wallenstein, wie in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges, nimmt alle
Österreicher, die nicht gerade Welsche, d. h. Italiener oder Spanier waren, ohne


Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands.

los vorgetragen, nachgesprochen und auswendig gelernt: Deutschland enthält
ein Kaisertum, fünf Königreiche u. s. w. Ich erinnere mich aus meiner Jugend¬
zeit noch sehr genau, wie vieles Kopfzerbrechen mir als Knaben das allerdings
nicht leicht zu lösende Problem machte, wie es möglich sei, daß das zu Deutsch¬
land gehörende Kaisertum allein über 12 000 Quadratmeilen umfaßte, während
ganz Deutschland, das doch noch fünf Königreiche, ein Kurfürstentum, so und
so viele Großherzogtümer, Herzogtümer u. s. w. enthielt, nur eine Größe von
11600 Quadratmeilen hatte. Dagegen erinnere ich mich nicht, daß irgend einer
unsrer Lehrer auch nur einmal versucht hätte, diese Verhältnisse etwas auf¬
zuklären. Ich habe auch nie gehört, daß meine Altersgenossen, Universitäts-
freunde u. a. in dieser Beziehung etwas klarere Anschauungen gehabt hätten.
Vielleicht haben unsre Lehrer bei diesem heikeln Punkte nach dem bekannten
Worte des Mephistopheles gehandelt:


Das Beste, was du wissen kannst,
Darfst du den Buben doch nicht sagen.

Aber ich glaube den gelehrten, klassisch gebildeten Philologen, die damals viel
mehr noch als heute für den höhern Unterricht ausschlaggebend waren, kein
Unrecht anzutun, wenn ich annehme, daß die meisten unter ihnen über die ver¬
zwickten politischen Verhältnisse des deutschen Bundes nicht viel klarer waren
als die heranwachsende Jugend. Was wir in den fünfziger und sechziger Jahren
nicht gelernt haben, wird man den Leuten, die in den zwanziger, dreißiger und
vierziger Jahren ausgebildet wurden, erst recht nicht eingepaukt haben. Und
über das, was auf Schulen und Universitäten nicht gelehrt wird, durch eignes
Studium, durch selbständiges Nachdenken sich Klarheit zu verschaffen, das ist
von jeher die Sache nur weniger gewesen. Die grundverkehrte Auffassung,
die Österreicher im allgemeinen schlechtweg und unbesehen für Deutsche zu halten,
führte natürlich auch vielfach zu einer ganz falschen Darstellung der Geschichte.
Daß z. B. Johann Huß kein Deutscher, sondern ein fanatischer Tscheche war,
daß bei der ganzen Hussitenbewegung der wütende Deutschenhaß jenes uns
nicht gerade sehr sympathischen Slavenstammes mindestens eine eben so große
Rolle spielte wie die Religion, habe ich erst im reifern Alter lernen müssen.
In der Jugend wurde uns dieser Deutschenfeind nur dargestellt als der Vor¬
läufer Luthers und der Reformation, als Vorkämpfer des Evangeliums, als
Märtyrer der reinen Lehre, und die wüsten tschechischen Räuber-, Brandstifter¬
und Mörderbanden waren begeisterte Glaubenskämpfer. Derartige falsche
Darstellungen und Auffassungen der Geschichte sind übrigens nicht neu und
stammen nicht etwa erst aus diesem Jahrhundert, und die Leute, die sie vor¬
gebracht haben und zum Teil noch vorbringen, können sich dafür auf berühmte
Muster berufen. Schiller z. B., sowohl in seinen dramatischen Dichtungen über
Wallenstein, wie in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges, nimmt alle
Österreicher, die nicht gerade Welsche, d. h. Italiener oder Spanier waren, ohne


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[0077] Die Gebietsentwicklung der Ginzelstaaten Deutschlands. los vorgetragen, nachgesprochen und auswendig gelernt: Deutschland enthält ein Kaisertum, fünf Königreiche u. s. w. Ich erinnere mich aus meiner Jugend¬ zeit noch sehr genau, wie vieles Kopfzerbrechen mir als Knaben das allerdings nicht leicht zu lösende Problem machte, wie es möglich sei, daß das zu Deutsch¬ land gehörende Kaisertum allein über 12 000 Quadratmeilen umfaßte, während ganz Deutschland, das doch noch fünf Königreiche, ein Kurfürstentum, so und so viele Großherzogtümer, Herzogtümer u. s. w. enthielt, nur eine Größe von 11600 Quadratmeilen hatte. Dagegen erinnere ich mich nicht, daß irgend einer unsrer Lehrer auch nur einmal versucht hätte, diese Verhältnisse etwas auf¬ zuklären. Ich habe auch nie gehört, daß meine Altersgenossen, Universitäts- freunde u. a. in dieser Beziehung etwas klarere Anschauungen gehabt hätten. Vielleicht haben unsre Lehrer bei diesem heikeln Punkte nach dem bekannten Worte des Mephistopheles gehandelt: Das Beste, was du wissen kannst, Darfst du den Buben doch nicht sagen. Aber ich glaube den gelehrten, klassisch gebildeten Philologen, die damals viel mehr noch als heute für den höhern Unterricht ausschlaggebend waren, kein Unrecht anzutun, wenn ich annehme, daß die meisten unter ihnen über die ver¬ zwickten politischen Verhältnisse des deutschen Bundes nicht viel klarer waren als die heranwachsende Jugend. Was wir in den fünfziger und sechziger Jahren nicht gelernt haben, wird man den Leuten, die in den zwanziger, dreißiger und vierziger Jahren ausgebildet wurden, erst recht nicht eingepaukt haben. Und über das, was auf Schulen und Universitäten nicht gelehrt wird, durch eignes Studium, durch selbständiges Nachdenken sich Klarheit zu verschaffen, das ist von jeher die Sache nur weniger gewesen. Die grundverkehrte Auffassung, die Österreicher im allgemeinen schlechtweg und unbesehen für Deutsche zu halten, führte natürlich auch vielfach zu einer ganz falschen Darstellung der Geschichte. Daß z. B. Johann Huß kein Deutscher, sondern ein fanatischer Tscheche war, daß bei der ganzen Hussitenbewegung der wütende Deutschenhaß jenes uns nicht gerade sehr sympathischen Slavenstammes mindestens eine eben so große Rolle spielte wie die Religion, habe ich erst im reifern Alter lernen müssen. In der Jugend wurde uns dieser Deutschenfeind nur dargestellt als der Vor¬ läufer Luthers und der Reformation, als Vorkämpfer des Evangeliums, als Märtyrer der reinen Lehre, und die wüsten tschechischen Räuber-, Brandstifter¬ und Mörderbanden waren begeisterte Glaubenskämpfer. Derartige falsche Darstellungen und Auffassungen der Geschichte sind übrigens nicht neu und stammen nicht etwa erst aus diesem Jahrhundert, und die Leute, die sie vor¬ gebracht haben und zum Teil noch vorbringen, können sich dafür auf berühmte Muster berufen. Schiller z. B., sowohl in seinen dramatischen Dichtungen über Wallenstein, wie in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges, nimmt alle Österreicher, die nicht gerade Welsche, d. h. Italiener oder Spanier waren, ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/77>, abgerufen am 22.07.2024.