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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die Staatsphilosophie Friedrichs des Großen.

daß noch heute, nachdem 150 Jahre seit der Niederschrift dieser Zeilen ver¬
flossen sind, kein Jota daran zu ändern sein dürfte. Nur daß eben, Dank
dem großen Nachfolger des großen Friedrich, dem ersten deutschen Kaiser im
neuen Reiche, die beiden Voraussetzungen für die Furchtbarkeit der französischen
Macht, der Besitz Straßburgs und die politische Zersplitterung Deutschlands,
nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch in den Wünschen der Fran¬
zosen vorhanden sind. Was aber die Franzosen stets zu thun bereit wären,
wenn sie nur könnten, und was wir zu thun und zu meiden haben, um ihren
Absichten einen Riegel vorzuschieben, das kann nicht klarer und schöner gesagt
werden, als es von Friedrich gesagt worden ist. Die Stelle findet sich in den Leu-
8in1eraticm8 8ur xresent an eorxs xolitique cis l'IZuroxe (Oeuvres II, 20 f.).
Der Verfasser erinnert an König Philipp von Makedonien, der sich mit Gewalt
in den Besitz von Phokis setzte und die Thermopylen wegnahm, wodurch er
den Schlüssel Griechenlands in seine Hände bekam und in der Lage war, zu
jeder Zeit, die ihm gelegen erscheinen mochte, mit Waffengewalt ins Innere von
Griechenland vorzudringen. Dann heißt es weiter: "Die Geschichte Frankreichs
liefert uns ein Beispiel, das ganz und gar an den eben angeführten Vorgang
aus der alten Geschichte erinnert. Jedermann versteht, daß ich von der Er¬
werbung Straßburgs und des Elsasses spreche. Diese uns jetzt verloren ge¬
gangenen Gebiete waren einst die Thermopylen oder das Bollwerk Deutsch¬
lands, und Lothringen, das vor kurzem vom Reiche abgerissen wurde, entspricht
durch seine Lage dem alten Phokis. Die Art, wie die Franzosen sich dieser
deutschen Länder bemächtigt haben, ist so übereinstimmend mit dem Vorgehen
des Makedoniers Philipp, daß auf eine vollkommene Übereinstimmung auch in
den Absichten geschlossen werden muß. Philipp blieb nicht bei den Thermo¬
pylen stehen, er ging weiter. Was die Griechen betrifft, so bildeten sie sich
über die Fortschritte des Makedoniers ein sehr oberflächliches Urteil. Sie
meinten thörichterwcise, wenn der Tod sie von diesem gefährlichen Feinde be¬
freite, so wäre damit jede Gefahr beseitigt. Ganz ebenso kannegießert man
jetzt in Europa: wenn der oder der Minister stürbe, so könne man wieder
ruhig sein. Als ob nicht bei jedem seiner Nachfolger sich dieselben Absichten,
dieselben Entwürfe einstellen würden. Man tröstet sich so mit kleinen Hoff¬
nungen, wie es schwache Seelen und kleine Geister im Brauche haben. Man
erlaube mir aber hier anzuführen, was Demosthenes in seiner ersten Philippika
seinen Athenern vorhielt: "Philipp ist tot, wird der eine sagen. Nein, wird
der andre erwidern, aber er ist krank... El, sei er tot oder sei er noch am
Leben, was macht das aus? Wenn ihr Athener diesen Philipp nicht mehr
habt, so werdet ihr euch bald einen andern gemacht haben, falls ihr nicht euer
ganzes Verhalten ändert. Denn Philipp ist das geworden, was er ist, nicht
sowohl durch eigne Kraft, als durch eure Fahrlässigkeit."

Vielleicht hat Paul Janet Recht, wenn er dem großen Friedrich unter


Die Staatsphilosophie Friedrichs des Großen.

daß noch heute, nachdem 150 Jahre seit der Niederschrift dieser Zeilen ver¬
flossen sind, kein Jota daran zu ändern sein dürfte. Nur daß eben, Dank
dem großen Nachfolger des großen Friedrich, dem ersten deutschen Kaiser im
neuen Reiche, die beiden Voraussetzungen für die Furchtbarkeit der französischen
Macht, der Besitz Straßburgs und die politische Zersplitterung Deutschlands,
nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch in den Wünschen der Fran¬
zosen vorhanden sind. Was aber die Franzosen stets zu thun bereit wären,
wenn sie nur könnten, und was wir zu thun und zu meiden haben, um ihren
Absichten einen Riegel vorzuschieben, das kann nicht klarer und schöner gesagt
werden, als es von Friedrich gesagt worden ist. Die Stelle findet sich in den Leu-
8in1eraticm8 8ur xresent an eorxs xolitique cis l'IZuroxe (Oeuvres II, 20 f.).
Der Verfasser erinnert an König Philipp von Makedonien, der sich mit Gewalt
in den Besitz von Phokis setzte und die Thermopylen wegnahm, wodurch er
den Schlüssel Griechenlands in seine Hände bekam und in der Lage war, zu
jeder Zeit, die ihm gelegen erscheinen mochte, mit Waffengewalt ins Innere von
Griechenland vorzudringen. Dann heißt es weiter: „Die Geschichte Frankreichs
liefert uns ein Beispiel, das ganz und gar an den eben angeführten Vorgang
aus der alten Geschichte erinnert. Jedermann versteht, daß ich von der Er¬
werbung Straßburgs und des Elsasses spreche. Diese uns jetzt verloren ge¬
gangenen Gebiete waren einst die Thermopylen oder das Bollwerk Deutsch¬
lands, und Lothringen, das vor kurzem vom Reiche abgerissen wurde, entspricht
durch seine Lage dem alten Phokis. Die Art, wie die Franzosen sich dieser
deutschen Länder bemächtigt haben, ist so übereinstimmend mit dem Vorgehen
des Makedoniers Philipp, daß auf eine vollkommene Übereinstimmung auch in
den Absichten geschlossen werden muß. Philipp blieb nicht bei den Thermo¬
pylen stehen, er ging weiter. Was die Griechen betrifft, so bildeten sie sich
über die Fortschritte des Makedoniers ein sehr oberflächliches Urteil. Sie
meinten thörichterwcise, wenn der Tod sie von diesem gefährlichen Feinde be¬
freite, so wäre damit jede Gefahr beseitigt. Ganz ebenso kannegießert man
jetzt in Europa: wenn der oder der Minister stürbe, so könne man wieder
ruhig sein. Als ob nicht bei jedem seiner Nachfolger sich dieselben Absichten,
dieselben Entwürfe einstellen würden. Man tröstet sich so mit kleinen Hoff¬
nungen, wie es schwache Seelen und kleine Geister im Brauche haben. Man
erlaube mir aber hier anzuführen, was Demosthenes in seiner ersten Philippika
seinen Athenern vorhielt: „Philipp ist tot, wird der eine sagen. Nein, wird
der andre erwidern, aber er ist krank... El, sei er tot oder sei er noch am
Leben, was macht das aus? Wenn ihr Athener diesen Philipp nicht mehr
habt, so werdet ihr euch bald einen andern gemacht haben, falls ihr nicht euer
ganzes Verhalten ändert. Denn Philipp ist das geworden, was er ist, nicht
sowohl durch eigne Kraft, als durch eure Fahrlässigkeit."

Vielleicht hat Paul Janet Recht, wenn er dem großen Friedrich unter


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[0068] Die Staatsphilosophie Friedrichs des Großen. daß noch heute, nachdem 150 Jahre seit der Niederschrift dieser Zeilen ver¬ flossen sind, kein Jota daran zu ändern sein dürfte. Nur daß eben, Dank dem großen Nachfolger des großen Friedrich, dem ersten deutschen Kaiser im neuen Reiche, die beiden Voraussetzungen für die Furchtbarkeit der französischen Macht, der Besitz Straßburgs und die politische Zersplitterung Deutschlands, nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur noch in den Wünschen der Fran¬ zosen vorhanden sind. Was aber die Franzosen stets zu thun bereit wären, wenn sie nur könnten, und was wir zu thun und zu meiden haben, um ihren Absichten einen Riegel vorzuschieben, das kann nicht klarer und schöner gesagt werden, als es von Friedrich gesagt worden ist. Die Stelle findet sich in den Leu- 8in1eraticm8 8ur xresent an eorxs xolitique cis l'IZuroxe (Oeuvres II, 20 f.). Der Verfasser erinnert an König Philipp von Makedonien, der sich mit Gewalt in den Besitz von Phokis setzte und die Thermopylen wegnahm, wodurch er den Schlüssel Griechenlands in seine Hände bekam und in der Lage war, zu jeder Zeit, die ihm gelegen erscheinen mochte, mit Waffengewalt ins Innere von Griechenland vorzudringen. Dann heißt es weiter: „Die Geschichte Frankreichs liefert uns ein Beispiel, das ganz und gar an den eben angeführten Vorgang aus der alten Geschichte erinnert. Jedermann versteht, daß ich von der Er¬ werbung Straßburgs und des Elsasses spreche. Diese uns jetzt verloren ge¬ gangenen Gebiete waren einst die Thermopylen oder das Bollwerk Deutsch¬ lands, und Lothringen, das vor kurzem vom Reiche abgerissen wurde, entspricht durch seine Lage dem alten Phokis. Die Art, wie die Franzosen sich dieser deutschen Länder bemächtigt haben, ist so übereinstimmend mit dem Vorgehen des Makedoniers Philipp, daß auf eine vollkommene Übereinstimmung auch in den Absichten geschlossen werden muß. Philipp blieb nicht bei den Thermo¬ pylen stehen, er ging weiter. Was die Griechen betrifft, so bildeten sie sich über die Fortschritte des Makedoniers ein sehr oberflächliches Urteil. Sie meinten thörichterwcise, wenn der Tod sie von diesem gefährlichen Feinde be¬ freite, so wäre damit jede Gefahr beseitigt. Ganz ebenso kannegießert man jetzt in Europa: wenn der oder der Minister stürbe, so könne man wieder ruhig sein. Als ob nicht bei jedem seiner Nachfolger sich dieselben Absichten, dieselben Entwürfe einstellen würden. Man tröstet sich so mit kleinen Hoff¬ nungen, wie es schwache Seelen und kleine Geister im Brauche haben. Man erlaube mir aber hier anzuführen, was Demosthenes in seiner ersten Philippika seinen Athenern vorhielt: „Philipp ist tot, wird der eine sagen. Nein, wird der andre erwidern, aber er ist krank... El, sei er tot oder sei er noch am Leben, was macht das aus? Wenn ihr Athener diesen Philipp nicht mehr habt, so werdet ihr euch bald einen andern gemacht haben, falls ihr nicht euer ganzes Verhalten ändert. Denn Philipp ist das geworden, was er ist, nicht sowohl durch eigne Kraft, als durch eure Fahrlässigkeit." Vielleicht hat Paul Janet Recht, wenn er dem großen Friedrich unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/68>, abgerufen am 24.08.2024.