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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

hätten sie sich niemals so nach ihm gesehnt wie jetzt. Wo sollten sie ihn nur
suchen?

Als sie einander noch darnach fragten, ertönte ein leiser Klang, und es
schallte wie eine Antwort zu ihnen hinüber. Hörst du, sagte Fritz, das ist die
Kirchenglocke. Jetzt läuten sie das Weihnachtsfest ein.

Dann muß der Vater dort sein, rief Lise eifrig ans. Sie läuten nicht,
ehe er da ist.

Der Schall kommt von oben, erwiderte Fritz, also muß dort Luft sein.
Komm, Lise!

Und wirklich! Von oben her kam Luft. Das Wetter war klar und still
geworden, und ans den Dachfenstern heraus konnte man die weite Haide blendend
weiß im Schein der Weihnachtssonne liegen sehen. Der Schnee breitete sich
wellenförmig darüber ans, aber in der Nähe des Hauses turnte er sich zu
mächtigen Schanzen auf, die bis an den Rand des Daches reichten.

Und gleich hohen Bergen lag der Schnee bis an den Hügel heran, der
Wind hatte ihn zu tausenderlei phantastischen Formen zusammengetrieben, und
die Kirche auf dem Gipfel des Hügels lag zur Hälfte begraben, während die
Schnecmasseii rings umher blitzten und glitzerten und vom Turme her das
Geläute der Glocke erschallte.

Der alte Pfarrer läutete das Weihnachtsfest ein, und diesmal hörte es
die ganze Gemeinde, und von allen Ecken und Enden kamen die Leute herbei¬
geströmt. Hurrah! rief Fritz vom Dache aus über deu Schnee hinweg, die
Mütze schwenkend und auf die Kirche zeigend. Hurrah I antworteten sie alle,
und damit war das Einverständnis zwischen dem Pfarrhause und der Gemeinde
wieder hergestellt, und das schaffte Eifer und verlieh Kraft hüben und drüben.
Die Gemeinde kam von unten und arbeitete sich einen Weg durch die trennende
Mauer, und aus dem Pfarrhause kämpfte man sich unverdrossen nach unten
durch, und so begegnete man sich auf halbem Wege und reichte einander durch
die gefallene Scheidewand die Hände. Und dann gings den Berg hinauf mit
Fritz an der Spitze, aber ehe sie es noch bemerkt hatten, war Otto Blein mitten
unter ihnen und schritt an Fritzens Seite einher, der eifrigste von allen, wie
es von jeher zu sein pflegte. Und das that not, denn es war viel aus dem
Wege zu räumen. Schritt für Schritt kämpften sie sich über den Kirchhofs¬
steig durch und hinweg über die Gräber. Der Weihnachtstag ging zur Neige,
und es begann bereits zu dunkeln, als sie den Eingang erreichten.

Da öffnete sich die Thür, und die Gemeinde strömte hinein, Männer
und Weiber, Junge und Alte, Kopf an Kopf, bis die Kirche so voll war, daß
niemand mehr Platz finden konnte, ganz wie vor Jahren, als der Pfarrer
jung und glücklich war. Aber oben in der Kirche stand er selber vor dem
Altar, als hätte er schon lange dort gestanden und auf sie gewartet, und
schweigend zeigte er auf die Stühle, und in seiner ganzen Erscheinung lag etwas,


Weihnachtsfest in einem Pfarrhause.

hätten sie sich niemals so nach ihm gesehnt wie jetzt. Wo sollten sie ihn nur
suchen?

Als sie einander noch darnach fragten, ertönte ein leiser Klang, und es
schallte wie eine Antwort zu ihnen hinüber. Hörst du, sagte Fritz, das ist die
Kirchenglocke. Jetzt läuten sie das Weihnachtsfest ein.

Dann muß der Vater dort sein, rief Lise eifrig ans. Sie läuten nicht,
ehe er da ist.

Der Schall kommt von oben, erwiderte Fritz, also muß dort Luft sein.
Komm, Lise!

Und wirklich! Von oben her kam Luft. Das Wetter war klar und still
geworden, und ans den Dachfenstern heraus konnte man die weite Haide blendend
weiß im Schein der Weihnachtssonne liegen sehen. Der Schnee breitete sich
wellenförmig darüber ans, aber in der Nähe des Hauses turnte er sich zu
mächtigen Schanzen auf, die bis an den Rand des Daches reichten.

Und gleich hohen Bergen lag der Schnee bis an den Hügel heran, der
Wind hatte ihn zu tausenderlei phantastischen Formen zusammengetrieben, und
die Kirche auf dem Gipfel des Hügels lag zur Hälfte begraben, während die
Schnecmasseii rings umher blitzten und glitzerten und vom Turme her das
Geläute der Glocke erschallte.

Der alte Pfarrer läutete das Weihnachtsfest ein, und diesmal hörte es
die ganze Gemeinde, und von allen Ecken und Enden kamen die Leute herbei¬
geströmt. Hurrah! rief Fritz vom Dache aus über deu Schnee hinweg, die
Mütze schwenkend und auf die Kirche zeigend. Hurrah I antworteten sie alle,
und damit war das Einverständnis zwischen dem Pfarrhause und der Gemeinde
wieder hergestellt, und das schaffte Eifer und verlieh Kraft hüben und drüben.
Die Gemeinde kam von unten und arbeitete sich einen Weg durch die trennende
Mauer, und aus dem Pfarrhause kämpfte man sich unverdrossen nach unten
durch, und so begegnete man sich auf halbem Wege und reichte einander durch
die gefallene Scheidewand die Hände. Und dann gings den Berg hinauf mit
Fritz an der Spitze, aber ehe sie es noch bemerkt hatten, war Otto Blein mitten
unter ihnen und schritt an Fritzens Seite einher, der eifrigste von allen, wie
es von jeher zu sein pflegte. Und das that not, denn es war viel aus dem
Wege zu räumen. Schritt für Schritt kämpften sie sich über den Kirchhofs¬
steig durch und hinweg über die Gräber. Der Weihnachtstag ging zur Neige,
und es begann bereits zu dunkeln, als sie den Eingang erreichten.

Da öffnete sich die Thür, und die Gemeinde strömte hinein, Männer
und Weiber, Junge und Alte, Kopf an Kopf, bis die Kirche so voll war, daß
niemand mehr Platz finden konnte, ganz wie vor Jahren, als der Pfarrer
jung und glücklich war. Aber oben in der Kirche stand er selber vor dem
Altar, als hätte er schon lange dort gestanden und auf sie gewartet, und
schweigend zeigte er auf die Stühle, und in seiner ganzen Erscheinung lag etwas,


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[0637] Weihnachtsfest in einem Pfarrhause. hätten sie sich niemals so nach ihm gesehnt wie jetzt. Wo sollten sie ihn nur suchen? Als sie einander noch darnach fragten, ertönte ein leiser Klang, und es schallte wie eine Antwort zu ihnen hinüber. Hörst du, sagte Fritz, das ist die Kirchenglocke. Jetzt läuten sie das Weihnachtsfest ein. Dann muß der Vater dort sein, rief Lise eifrig ans. Sie läuten nicht, ehe er da ist. Der Schall kommt von oben, erwiderte Fritz, also muß dort Luft sein. Komm, Lise! Und wirklich! Von oben her kam Luft. Das Wetter war klar und still geworden, und ans den Dachfenstern heraus konnte man die weite Haide blendend weiß im Schein der Weihnachtssonne liegen sehen. Der Schnee breitete sich wellenförmig darüber ans, aber in der Nähe des Hauses turnte er sich zu mächtigen Schanzen auf, die bis an den Rand des Daches reichten. Und gleich hohen Bergen lag der Schnee bis an den Hügel heran, der Wind hatte ihn zu tausenderlei phantastischen Formen zusammengetrieben, und die Kirche auf dem Gipfel des Hügels lag zur Hälfte begraben, während die Schnecmasseii rings umher blitzten und glitzerten und vom Turme her das Geläute der Glocke erschallte. Der alte Pfarrer läutete das Weihnachtsfest ein, und diesmal hörte es die ganze Gemeinde, und von allen Ecken und Enden kamen die Leute herbei¬ geströmt. Hurrah! rief Fritz vom Dache aus über deu Schnee hinweg, die Mütze schwenkend und auf die Kirche zeigend. Hurrah I antworteten sie alle, und damit war das Einverständnis zwischen dem Pfarrhause und der Gemeinde wieder hergestellt, und das schaffte Eifer und verlieh Kraft hüben und drüben. Die Gemeinde kam von unten und arbeitete sich einen Weg durch die trennende Mauer, und aus dem Pfarrhause kämpfte man sich unverdrossen nach unten durch, und so begegnete man sich auf halbem Wege und reichte einander durch die gefallene Scheidewand die Hände. Und dann gings den Berg hinauf mit Fritz an der Spitze, aber ehe sie es noch bemerkt hatten, war Otto Blein mitten unter ihnen und schritt an Fritzens Seite einher, der eifrigste von allen, wie es von jeher zu sein pflegte. Und das that not, denn es war viel aus dem Wege zu räumen. Schritt für Schritt kämpften sie sich über den Kirchhofs¬ steig durch und hinweg über die Gräber. Der Weihnachtstag ging zur Neige, und es begann bereits zu dunkeln, als sie den Eingang erreichten. Da öffnete sich die Thür, und die Gemeinde strömte hinein, Männer und Weiber, Junge und Alte, Kopf an Kopf, bis die Kirche so voll war, daß niemand mehr Platz finden konnte, ganz wie vor Jahren, als der Pfarrer jung und glücklich war. Aber oben in der Kirche stand er selber vor dem Altar, als hätte er schon lange dort gestanden und auf sie gewartet, und schweigend zeigte er auf die Stühle, und in seiner ganzen Erscheinung lag etwas,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/637>, abgerufen am 25.07.2024.