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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl.

Originals zurückwirken. Wie die französische Republik mit ihrer Untergrabung
aller Autorität und Ehrfurcht alle Anstalt macht, zum abschreckenden Beispiel
für die Nachbarvölker zu werden, so droht auch die neueste politische und soziale
Geschichte der Vereinigten Staaten eher zur Warnung aufgestellt, als zur Nach¬
ahmung empfohlen werden zu müssen. Auch die Hoffnung auf eine neue, frische
Kultur, welche die europäischen Kolonisten auf dem jungfräulichen Boden der
neuen Welt zeitigen sollten, ist schon seit Jahren schwächer und schwächer ge¬
worden. Wie alle Kolonialreiche, trägt auch das nordamerikanische den Stempel
geistiger Unselbständigkeit an sich. Es fehlt seinen Bürgern an Ursprünglichkeit.
weil sie ihre Bildung dem Mutterlands fertig entlehnten und noch entlehnen,
statt sie in neuer und eigenartiger Weise selbst zu gründen und zu entfalten.
Es fehlt ihnen die Jugend, die lange Reihe reicher, weil heroisch durcharbeiteter
Jahrhunderte, aus der die europäischen Völker jene Tiefe und Besonderheit er¬
erbt und erworben haben, ohne die eine selbständige und hervorragende Volks¬
wesenheit nicht zu Stande kommt. Wie jemand, der auf keine naive und fröh¬
liche Kinderzeit zurückblicken kann, frühreif, frühernst und frühalt erscheint, so
zeigen auch die scharfen Züge der Amerikaner schon jene einseitige und über¬
mäßige Zuspitzung des Verstandes, die zwar zu großen technischen Wagnissen
kühn und geschickt macht, die aber geradezu ungünstig ist für die Hervorbringung
gleichmäßig großer Persönlichkeiten und eigenartiger, allgemein und dauernd
wertvoller, weltwichtiger Gestaltungen und Geistesschöpfungen.

Die Vereinigten Staaten sind die früh alternde Wiederholung Englands,
und zwar nicht des alten, ruhmreichen Cromwellischen Englands mit seinem
göttlichen Gerechtigkeits- und Gottseligkeitscifer, sondern jenes neuern und ab¬
sterbenden Großbritanniens, dessen Evangelium darauf hinausläuft, möglichst
billig einzukaufen und möglichst viel und möglichst teuer an die gesamte übrige
Welt zu verkaufen, gleichviel wie die übrige Welt dabei führt. Dieser berühmte
Grundsatz ist es denn auch gewesen, um den sich thatsächlich der ganze letzte
Präsidcntenwahlkampf von Ende Juni bis zum sechsten November gedreht hat.
Die demokratische Partei stellte sich annähernd auf deu Boden dieses englischen
Grundsatzes. Sie verwahrte sich freilich dagegen, als die Vertreterin des un¬
beschränkten Freihandels angesehn zu werden, und gab vor, mit der von ihr
vorgeschlagenen geringen Herabsetzung der Eingangszölle nur die Beseitigung
der zunehmenden Erhöhung der Bundeseinnahmen über die Ausgabe" im Auge
zu haben. Aber indem die gegnerische republikanische Partei diese in der Mills-
Bill verkörperte Maßregel als den ersten Schritt ans der schiefen Ebene, die
zum vollen Freihandel führen müsse, angriff und wahrscheinlich machte, nahm
der Kampf immer mehr inner- und außerhalb des Kongresses den Charakter eines
grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Schutzzoll und Freihandel an. Auch im
demokratischen, volkswirtschaftlich nicht ganz einigen Lager hatte man War-
nungsrufe vernommen, nicht alles auf eine so gefährliche Karte zu setzen.


Gronzlwten IV. 1888. 7"
Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl.

Originals zurückwirken. Wie die französische Republik mit ihrer Untergrabung
aller Autorität und Ehrfurcht alle Anstalt macht, zum abschreckenden Beispiel
für die Nachbarvölker zu werden, so droht auch die neueste politische und soziale
Geschichte der Vereinigten Staaten eher zur Warnung aufgestellt, als zur Nach¬
ahmung empfohlen werden zu müssen. Auch die Hoffnung auf eine neue, frische
Kultur, welche die europäischen Kolonisten auf dem jungfräulichen Boden der
neuen Welt zeitigen sollten, ist schon seit Jahren schwächer und schwächer ge¬
worden. Wie alle Kolonialreiche, trägt auch das nordamerikanische den Stempel
geistiger Unselbständigkeit an sich. Es fehlt seinen Bürgern an Ursprünglichkeit.
weil sie ihre Bildung dem Mutterlands fertig entlehnten und noch entlehnen,
statt sie in neuer und eigenartiger Weise selbst zu gründen und zu entfalten.
Es fehlt ihnen die Jugend, die lange Reihe reicher, weil heroisch durcharbeiteter
Jahrhunderte, aus der die europäischen Völker jene Tiefe und Besonderheit er¬
erbt und erworben haben, ohne die eine selbständige und hervorragende Volks¬
wesenheit nicht zu Stande kommt. Wie jemand, der auf keine naive und fröh¬
liche Kinderzeit zurückblicken kann, frühreif, frühernst und frühalt erscheint, so
zeigen auch die scharfen Züge der Amerikaner schon jene einseitige und über¬
mäßige Zuspitzung des Verstandes, die zwar zu großen technischen Wagnissen
kühn und geschickt macht, die aber geradezu ungünstig ist für die Hervorbringung
gleichmäßig großer Persönlichkeiten und eigenartiger, allgemein und dauernd
wertvoller, weltwichtiger Gestaltungen und Geistesschöpfungen.

Die Vereinigten Staaten sind die früh alternde Wiederholung Englands,
und zwar nicht des alten, ruhmreichen Cromwellischen Englands mit seinem
göttlichen Gerechtigkeits- und Gottseligkeitscifer, sondern jenes neuern und ab¬
sterbenden Großbritanniens, dessen Evangelium darauf hinausläuft, möglichst
billig einzukaufen und möglichst viel und möglichst teuer an die gesamte übrige
Welt zu verkaufen, gleichviel wie die übrige Welt dabei führt. Dieser berühmte
Grundsatz ist es denn auch gewesen, um den sich thatsächlich der ganze letzte
Präsidcntenwahlkampf von Ende Juni bis zum sechsten November gedreht hat.
Die demokratische Partei stellte sich annähernd auf deu Boden dieses englischen
Grundsatzes. Sie verwahrte sich freilich dagegen, als die Vertreterin des un¬
beschränkten Freihandels angesehn zu werden, und gab vor, mit der von ihr
vorgeschlagenen geringen Herabsetzung der Eingangszölle nur die Beseitigung
der zunehmenden Erhöhung der Bundeseinnahmen über die Ausgabe« im Auge
zu haben. Aber indem die gegnerische republikanische Partei diese in der Mills-
Bill verkörperte Maßregel als den ersten Schritt ans der schiefen Ebene, die
zum vollen Freihandel führen müsse, angriff und wahrscheinlich machte, nahm
der Kampf immer mehr inner- und außerhalb des Kongresses den Charakter eines
grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Schutzzoll und Freihandel an. Auch im
demokratischen, volkswirtschaftlich nicht ganz einigen Lager hatte man War-
nungsrufe vernommen, nicht alles auf eine so gefährliche Karte zu setzen.


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[0625] Die vereinigten Staaten im Lichte der letzten Präsidentenwahl. Originals zurückwirken. Wie die französische Republik mit ihrer Untergrabung aller Autorität und Ehrfurcht alle Anstalt macht, zum abschreckenden Beispiel für die Nachbarvölker zu werden, so droht auch die neueste politische und soziale Geschichte der Vereinigten Staaten eher zur Warnung aufgestellt, als zur Nach¬ ahmung empfohlen werden zu müssen. Auch die Hoffnung auf eine neue, frische Kultur, welche die europäischen Kolonisten auf dem jungfräulichen Boden der neuen Welt zeitigen sollten, ist schon seit Jahren schwächer und schwächer ge¬ worden. Wie alle Kolonialreiche, trägt auch das nordamerikanische den Stempel geistiger Unselbständigkeit an sich. Es fehlt seinen Bürgern an Ursprünglichkeit. weil sie ihre Bildung dem Mutterlands fertig entlehnten und noch entlehnen, statt sie in neuer und eigenartiger Weise selbst zu gründen und zu entfalten. Es fehlt ihnen die Jugend, die lange Reihe reicher, weil heroisch durcharbeiteter Jahrhunderte, aus der die europäischen Völker jene Tiefe und Besonderheit er¬ erbt und erworben haben, ohne die eine selbständige und hervorragende Volks¬ wesenheit nicht zu Stande kommt. Wie jemand, der auf keine naive und fröh¬ liche Kinderzeit zurückblicken kann, frühreif, frühernst und frühalt erscheint, so zeigen auch die scharfen Züge der Amerikaner schon jene einseitige und über¬ mäßige Zuspitzung des Verstandes, die zwar zu großen technischen Wagnissen kühn und geschickt macht, die aber geradezu ungünstig ist für die Hervorbringung gleichmäßig großer Persönlichkeiten und eigenartiger, allgemein und dauernd wertvoller, weltwichtiger Gestaltungen und Geistesschöpfungen. Die Vereinigten Staaten sind die früh alternde Wiederholung Englands, und zwar nicht des alten, ruhmreichen Cromwellischen Englands mit seinem göttlichen Gerechtigkeits- und Gottseligkeitscifer, sondern jenes neuern und ab¬ sterbenden Großbritanniens, dessen Evangelium darauf hinausläuft, möglichst billig einzukaufen und möglichst viel und möglichst teuer an die gesamte übrige Welt zu verkaufen, gleichviel wie die übrige Welt dabei führt. Dieser berühmte Grundsatz ist es denn auch gewesen, um den sich thatsächlich der ganze letzte Präsidcntenwahlkampf von Ende Juni bis zum sechsten November gedreht hat. Die demokratische Partei stellte sich annähernd auf deu Boden dieses englischen Grundsatzes. Sie verwahrte sich freilich dagegen, als die Vertreterin des un¬ beschränkten Freihandels angesehn zu werden, und gab vor, mit der von ihr vorgeschlagenen geringen Herabsetzung der Eingangszölle nur die Beseitigung der zunehmenden Erhöhung der Bundeseinnahmen über die Ausgabe« im Auge zu haben. Aber indem die gegnerische republikanische Partei diese in der Mills- Bill verkörperte Maßregel als den ersten Schritt ans der schiefen Ebene, die zum vollen Freihandel führen müsse, angriff und wahrscheinlich machte, nahm der Kampf immer mehr inner- und außerhalb des Kongresses den Charakter eines grundsätzlichen Gegensatzes zwischen Schutzzoll und Freihandel an. Auch im demokratischen, volkswirtschaftlich nicht ganz einigen Lager hatte man War- nungsrufe vernommen, nicht alles auf eine so gefährliche Karte zu setzen. Gronzlwten IV. 1888. 7«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/625>, abgerufen am 22.07.2024.