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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

rungen erinnerte, sondern Ereignisse, in denen das tiefe Volksgemüt zur wahren
Geltung kommt und die Eindrücke sich am schärfsten individualistisch abstufen.
Daneben ist es das Familienleben und die Kinderwelt, in deren Darstellungen
unsre Kunst bezeugt, daß in unsrer Zeit der Sinn für Heim und Familie
lebendig ausgeprägt ist. Sodann tritt bedeutsam das religiöse Sittenbild her¬
vor; wie es in München zu erwarten war, ganz besonders in katholischer Aus¬
prägung. Die vielen Nonnen und Mönche, die uns da in allerlei Thätigkeit
und Unthcitigkeit gezeigt wurden, erinnern an die in manchen Kreisen überhand¬
nehmende Hinneigung zu diesen Vertretern eines weltflüchtigen Friedens. End¬
lich tritt charakteristisch hervor der Respekt und das Interesse unserer Zeit für
die Industrie und in weiterer Linie für die arbeitenden Klassen überhaupt.
Wir sehen die Arbeiter aus dem Gotthardtuunel kommen, eine Panzerkorvette
auf der Werft des Vulkan bauen, Schmiede am Eisenhammer ihr Tagewerk
verrichten, wir erleben eine Kartoffelernte, eine Roggenernte, beobachten Flachs¬
spinnerinnen, einen Schwertfeger und ähnliches mehr -- lauter Dinge, die eine
frühere Zeit niemals als würdige Gegenstände der Kunst betrachtet hätte. So
zieht der volle Ernst des Lebens in die heitern Hallen der Kunst, damit er
von dieser mit dem Schleier der Poesie umwoben werde. Es spricht sich
darin ein bedeutsamer Wandel in den sozialen Anschauungen aus. Die Kunst
nimmt teil an der Aufgabe unsrer Tage, Gegensätze auszugleichen, für jeden Stand
und jede Thätigkeit die rechte Würdigung, für jedes menschliche Weh und
jede seelische Bestimmtheit ein offenes Auge und teilnehmendes Verständnis zu
gewinnen.

Wir sind zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtungen zurückgekommen: es
ist die Wirklichkeit, von der unsre Kunst fast ganz in Anspruch genommen wird.
Ja sie erscheint wie festgebannt vor ihr, so daß die Phantasie beinahe die
Flügel zu schwingen verlernt hat. Mag das letztere zum Teil die Folge
jenes Zuges der Zeit sein, gewiß liegt ebenso sehr in diesem Mangel schöpfe¬
rischer Phantasie eine Mitursache davon, daß unsre Kunst sich so selten an die
Gestalten der Geschichte und an Verkörperungen von Ideen wagt. Man hat
auch in den andern Geistesthätigkeiten unsrer Zeit denselben Mangel beklagt.
Man glaubt einen Teil der Schuld der Art unsrer Schulerziehung beimessen zu
müssen. Ein andrer und größerer Teil liegt wohl in der Entwicklung unsrer
Lebensverhältnisse, welche Einsamkeit, Stille, Konzentration erschweren und mit
einer bunten Fülle von Eindrücken jeden unter uns ganz und gar in Anspruch
nehmen. Erst wenn man diesen von ihr selbst nicht verschuldeten Umstünden
Rechnung trägt, begreift man völlig die Richtung unsrer Kunst und urteilt
billig über die auffallende und trotz allem beklagenswerte Einseitigkeit derselben.

Doch wenn nicht alles täuscht, hat Phantasie die Flügel leise wieder geregt,
nicht nur im fernen Spanien, wo sie den jungen Benliure zu jener genialen
Vision einer von Märtyrern und Seligen in den Ruinen des Kolosseums ge-


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

rungen erinnerte, sondern Ereignisse, in denen das tiefe Volksgemüt zur wahren
Geltung kommt und die Eindrücke sich am schärfsten individualistisch abstufen.
Daneben ist es das Familienleben und die Kinderwelt, in deren Darstellungen
unsre Kunst bezeugt, daß in unsrer Zeit der Sinn für Heim und Familie
lebendig ausgeprägt ist. Sodann tritt bedeutsam das religiöse Sittenbild her¬
vor; wie es in München zu erwarten war, ganz besonders in katholischer Aus¬
prägung. Die vielen Nonnen und Mönche, die uns da in allerlei Thätigkeit
und Unthcitigkeit gezeigt wurden, erinnern an die in manchen Kreisen überhand¬
nehmende Hinneigung zu diesen Vertretern eines weltflüchtigen Friedens. End¬
lich tritt charakteristisch hervor der Respekt und das Interesse unserer Zeit für
die Industrie und in weiterer Linie für die arbeitenden Klassen überhaupt.
Wir sehen die Arbeiter aus dem Gotthardtuunel kommen, eine Panzerkorvette
auf der Werft des Vulkan bauen, Schmiede am Eisenhammer ihr Tagewerk
verrichten, wir erleben eine Kartoffelernte, eine Roggenernte, beobachten Flachs¬
spinnerinnen, einen Schwertfeger und ähnliches mehr — lauter Dinge, die eine
frühere Zeit niemals als würdige Gegenstände der Kunst betrachtet hätte. So
zieht der volle Ernst des Lebens in die heitern Hallen der Kunst, damit er
von dieser mit dem Schleier der Poesie umwoben werde. Es spricht sich
darin ein bedeutsamer Wandel in den sozialen Anschauungen aus. Die Kunst
nimmt teil an der Aufgabe unsrer Tage, Gegensätze auszugleichen, für jeden Stand
und jede Thätigkeit die rechte Würdigung, für jedes menschliche Weh und
jede seelische Bestimmtheit ein offenes Auge und teilnehmendes Verständnis zu
gewinnen.

Wir sind zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtungen zurückgekommen: es
ist die Wirklichkeit, von der unsre Kunst fast ganz in Anspruch genommen wird.
Ja sie erscheint wie festgebannt vor ihr, so daß die Phantasie beinahe die
Flügel zu schwingen verlernt hat. Mag das letztere zum Teil die Folge
jenes Zuges der Zeit sein, gewiß liegt ebenso sehr in diesem Mangel schöpfe¬
rischer Phantasie eine Mitursache davon, daß unsre Kunst sich so selten an die
Gestalten der Geschichte und an Verkörperungen von Ideen wagt. Man hat
auch in den andern Geistesthätigkeiten unsrer Zeit denselben Mangel beklagt.
Man glaubt einen Teil der Schuld der Art unsrer Schulerziehung beimessen zu
müssen. Ein andrer und größerer Teil liegt wohl in der Entwicklung unsrer
Lebensverhältnisse, welche Einsamkeit, Stille, Konzentration erschweren und mit
einer bunten Fülle von Eindrücken jeden unter uns ganz und gar in Anspruch
nehmen. Erst wenn man diesen von ihr selbst nicht verschuldeten Umstünden
Rechnung trägt, begreift man völlig die Richtung unsrer Kunst und urteilt
billig über die auffallende und trotz allem beklagenswerte Einseitigkeit derselben.

Doch wenn nicht alles täuscht, hat Phantasie die Flügel leise wieder geregt,
nicht nur im fernen Spanien, wo sie den jungen Benliure zu jener genialen
Vision einer von Märtyrern und Seligen in den Ruinen des Kolosseums ge-


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[0610] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. rungen erinnerte, sondern Ereignisse, in denen das tiefe Volksgemüt zur wahren Geltung kommt und die Eindrücke sich am schärfsten individualistisch abstufen. Daneben ist es das Familienleben und die Kinderwelt, in deren Darstellungen unsre Kunst bezeugt, daß in unsrer Zeit der Sinn für Heim und Familie lebendig ausgeprägt ist. Sodann tritt bedeutsam das religiöse Sittenbild her¬ vor; wie es in München zu erwarten war, ganz besonders in katholischer Aus¬ prägung. Die vielen Nonnen und Mönche, die uns da in allerlei Thätigkeit und Unthcitigkeit gezeigt wurden, erinnern an die in manchen Kreisen überhand¬ nehmende Hinneigung zu diesen Vertretern eines weltflüchtigen Friedens. End¬ lich tritt charakteristisch hervor der Respekt und das Interesse unserer Zeit für die Industrie und in weiterer Linie für die arbeitenden Klassen überhaupt. Wir sehen die Arbeiter aus dem Gotthardtuunel kommen, eine Panzerkorvette auf der Werft des Vulkan bauen, Schmiede am Eisenhammer ihr Tagewerk verrichten, wir erleben eine Kartoffelernte, eine Roggenernte, beobachten Flachs¬ spinnerinnen, einen Schwertfeger und ähnliches mehr — lauter Dinge, die eine frühere Zeit niemals als würdige Gegenstände der Kunst betrachtet hätte. So zieht der volle Ernst des Lebens in die heitern Hallen der Kunst, damit er von dieser mit dem Schleier der Poesie umwoben werde. Es spricht sich darin ein bedeutsamer Wandel in den sozialen Anschauungen aus. Die Kunst nimmt teil an der Aufgabe unsrer Tage, Gegensätze auszugleichen, für jeden Stand und jede Thätigkeit die rechte Würdigung, für jedes menschliche Weh und jede seelische Bestimmtheit ein offenes Auge und teilnehmendes Verständnis zu gewinnen. Wir sind zum Ausgangspunkte unsrer Betrachtungen zurückgekommen: es ist die Wirklichkeit, von der unsre Kunst fast ganz in Anspruch genommen wird. Ja sie erscheint wie festgebannt vor ihr, so daß die Phantasie beinahe die Flügel zu schwingen verlernt hat. Mag das letztere zum Teil die Folge jenes Zuges der Zeit sein, gewiß liegt ebenso sehr in diesem Mangel schöpfe¬ rischer Phantasie eine Mitursache davon, daß unsre Kunst sich so selten an die Gestalten der Geschichte und an Verkörperungen von Ideen wagt. Man hat auch in den andern Geistesthätigkeiten unsrer Zeit denselben Mangel beklagt. Man glaubt einen Teil der Schuld der Art unsrer Schulerziehung beimessen zu müssen. Ein andrer und größerer Teil liegt wohl in der Entwicklung unsrer Lebensverhältnisse, welche Einsamkeit, Stille, Konzentration erschweren und mit einer bunten Fülle von Eindrücken jeden unter uns ganz und gar in Anspruch nehmen. Erst wenn man diesen von ihr selbst nicht verschuldeten Umstünden Rechnung trägt, begreift man völlig die Richtung unsrer Kunst und urteilt billig über die auffallende und trotz allem beklagenswerte Einseitigkeit derselben. Doch wenn nicht alles täuscht, hat Phantasie die Flügel leise wieder geregt, nicht nur im fernen Spanien, wo sie den jungen Benliure zu jener genialen Vision einer von Märtyrern und Seligen in den Ruinen des Kolosseums ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/610>, abgerufen am 24.08.2024.