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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Auch er fällt vielmehr der Scheu unsrer Maler vor geschichtlichen Stoffen
zur Last.

In diesem Verhalten der Kunst liegt nun ohne Frage eine Kritik des
Verhaltens unsrer Zeit zu den von ihr vernachlässigten Stoffen. Zunächst
spiegelt sich hier wieder, wie unsre Geschichtswissenschaft zu sehr ins Einzelne
verloren, zu sehr uur geschäftige Sammlerin von Gedächtnisstoff geworden ist,
wie sie zu wenig die großen Gesichtspunkte, das unter der Flucht der Erschei¬
nungen liegende Triebwerk der allgemein menschlichen Interessen, das menschlich
Ergreifende und Bedeutsame ins Licht stellt, kurz, wie sie das Künstlerische bei
ihrer staunenswerten gelehrten Arbeit vermissen läßt. Das Bild der Gegenwart
aber trübt und beunruhigt das übermächtige Parteigetriebe, das vor nichts
mehr zurücksehend, auch das Größte, auch das allen Gemeinsame hereinzerrt
in das Parteiinteresse und beleuchtet mit dem flackernden Licht der Partei¬
anschauungen, so, daß das Auge der Kunst keine festen Linien mehr findet, auf
denen es ruhen kann, und das Herz nicht mehr, getragen von der Gesamt¬
stimmung, zu ungehemmter Begeisterung sich aufschwingen darf. Die religiöse
Historie endlich leidet unter der kritischen Arbeit der geschichtlichen Forschung,
die im vollen Fluß befindlich die festen Umrisse der Einzelthatsachen verflüchtigt
und die Unbefangenheit gegenüber dem Stoffe stört, solange man ihn nur
geschichtlich betrachtet, während es noch nicht gelungen ist, gegenüber der vor
allem nach Realitäten fragenden Zeitrichtung die Geister für die Hingebung an
die von jeder geschichtlichen Forschung unabhängigen ewigen Wahrheiten und
geistigen Thatsachen, die in den biblischen Erzählungen verkörpert sind, zu
gewinnen.

Leidet nun unter dem allen die Kunst als Kind ihrer Zeit mit, so ist es
dennoch offen zu beklagen, daß sie nicht an ihrem Teil in höherem Maße sich
berufen fühlt, ungeachtet all dieser ungünstigen Umstände die Geschichte als ein
ihr mit vertrautes Quellgebiet aller menschlichen Ideale zu Pflegen und sich
dazu in ernster, geistiger Arbeit zu rüsten, so wie es in ihrer Weise Lessing
und Kaulbach thaten. Bei der ausschließlichen Beachtung des gegenwärtig
Wirklichen und individuell Ausgeprägten droht der Gesichtskreis sich zu ver¬
engen, das Ich mit seinem Selbsterlebten sich alleingeltend hervorzudrängen,
das Kleine, das Alltägliche sich als groß und wichtig breit zu machen. Die
Kunst, der ein geschärftes Auge und ein großes Herz geschenkt ist, ist in erster
Linie dazu berufen, statt selbst in diesen Fehler zu verfallen, ihre Zeit davor
^u schützen und aus den Engen des Subjektivismus immer wieder hinaus¬
zuheben in das Objektive der Weltgeschichte und der in ihr sich verkörpernden
Wahrheiten.

Jenseits der Geschichte liegt die Sage, liegt der Mythus, dereinst das
gelobte Land der Kunst. Nach allem Gesagten kann es nicht überraschen, daß
noch seltener und mit noch weniger Glück unsre heutige Kunst sich in jene


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst.

Auch er fällt vielmehr der Scheu unsrer Maler vor geschichtlichen Stoffen
zur Last.

In diesem Verhalten der Kunst liegt nun ohne Frage eine Kritik des
Verhaltens unsrer Zeit zu den von ihr vernachlässigten Stoffen. Zunächst
spiegelt sich hier wieder, wie unsre Geschichtswissenschaft zu sehr ins Einzelne
verloren, zu sehr uur geschäftige Sammlerin von Gedächtnisstoff geworden ist,
wie sie zu wenig die großen Gesichtspunkte, das unter der Flucht der Erschei¬
nungen liegende Triebwerk der allgemein menschlichen Interessen, das menschlich
Ergreifende und Bedeutsame ins Licht stellt, kurz, wie sie das Künstlerische bei
ihrer staunenswerten gelehrten Arbeit vermissen läßt. Das Bild der Gegenwart
aber trübt und beunruhigt das übermächtige Parteigetriebe, das vor nichts
mehr zurücksehend, auch das Größte, auch das allen Gemeinsame hereinzerrt
in das Parteiinteresse und beleuchtet mit dem flackernden Licht der Partei¬
anschauungen, so, daß das Auge der Kunst keine festen Linien mehr findet, auf
denen es ruhen kann, und das Herz nicht mehr, getragen von der Gesamt¬
stimmung, zu ungehemmter Begeisterung sich aufschwingen darf. Die religiöse
Historie endlich leidet unter der kritischen Arbeit der geschichtlichen Forschung,
die im vollen Fluß befindlich die festen Umrisse der Einzelthatsachen verflüchtigt
und die Unbefangenheit gegenüber dem Stoffe stört, solange man ihn nur
geschichtlich betrachtet, während es noch nicht gelungen ist, gegenüber der vor
allem nach Realitäten fragenden Zeitrichtung die Geister für die Hingebung an
die von jeder geschichtlichen Forschung unabhängigen ewigen Wahrheiten und
geistigen Thatsachen, die in den biblischen Erzählungen verkörpert sind, zu
gewinnen.

Leidet nun unter dem allen die Kunst als Kind ihrer Zeit mit, so ist es
dennoch offen zu beklagen, daß sie nicht an ihrem Teil in höherem Maße sich
berufen fühlt, ungeachtet all dieser ungünstigen Umstände die Geschichte als ein
ihr mit vertrautes Quellgebiet aller menschlichen Ideale zu Pflegen und sich
dazu in ernster, geistiger Arbeit zu rüsten, so wie es in ihrer Weise Lessing
und Kaulbach thaten. Bei der ausschließlichen Beachtung des gegenwärtig
Wirklichen und individuell Ausgeprägten droht der Gesichtskreis sich zu ver¬
engen, das Ich mit seinem Selbsterlebten sich alleingeltend hervorzudrängen,
das Kleine, das Alltägliche sich als groß und wichtig breit zu machen. Die
Kunst, der ein geschärftes Auge und ein großes Herz geschenkt ist, ist in erster
Linie dazu berufen, statt selbst in diesen Fehler zu verfallen, ihre Zeit davor
^u schützen und aus den Engen des Subjektivismus immer wieder hinaus¬
zuheben in das Objektive der Weltgeschichte und der in ihr sich verkörpernden
Wahrheiten.

Jenseits der Geschichte liegt die Sage, liegt der Mythus, dereinst das
gelobte Land der Kunst. Nach allem Gesagten kann es nicht überraschen, daß
noch seltener und mit noch weniger Glück unsre heutige Kunst sich in jene


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[0571] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Kunst. Auch er fällt vielmehr der Scheu unsrer Maler vor geschichtlichen Stoffen zur Last. In diesem Verhalten der Kunst liegt nun ohne Frage eine Kritik des Verhaltens unsrer Zeit zu den von ihr vernachlässigten Stoffen. Zunächst spiegelt sich hier wieder, wie unsre Geschichtswissenschaft zu sehr ins Einzelne verloren, zu sehr uur geschäftige Sammlerin von Gedächtnisstoff geworden ist, wie sie zu wenig die großen Gesichtspunkte, das unter der Flucht der Erschei¬ nungen liegende Triebwerk der allgemein menschlichen Interessen, das menschlich Ergreifende und Bedeutsame ins Licht stellt, kurz, wie sie das Künstlerische bei ihrer staunenswerten gelehrten Arbeit vermissen läßt. Das Bild der Gegenwart aber trübt und beunruhigt das übermächtige Parteigetriebe, das vor nichts mehr zurücksehend, auch das Größte, auch das allen Gemeinsame hereinzerrt in das Parteiinteresse und beleuchtet mit dem flackernden Licht der Partei¬ anschauungen, so, daß das Auge der Kunst keine festen Linien mehr findet, auf denen es ruhen kann, und das Herz nicht mehr, getragen von der Gesamt¬ stimmung, zu ungehemmter Begeisterung sich aufschwingen darf. Die religiöse Historie endlich leidet unter der kritischen Arbeit der geschichtlichen Forschung, die im vollen Fluß befindlich die festen Umrisse der Einzelthatsachen verflüchtigt und die Unbefangenheit gegenüber dem Stoffe stört, solange man ihn nur geschichtlich betrachtet, während es noch nicht gelungen ist, gegenüber der vor allem nach Realitäten fragenden Zeitrichtung die Geister für die Hingebung an die von jeder geschichtlichen Forschung unabhängigen ewigen Wahrheiten und geistigen Thatsachen, die in den biblischen Erzählungen verkörpert sind, zu gewinnen. Leidet nun unter dem allen die Kunst als Kind ihrer Zeit mit, so ist es dennoch offen zu beklagen, daß sie nicht an ihrem Teil in höherem Maße sich berufen fühlt, ungeachtet all dieser ungünstigen Umstände die Geschichte als ein ihr mit vertrautes Quellgebiet aller menschlichen Ideale zu Pflegen und sich dazu in ernster, geistiger Arbeit zu rüsten, so wie es in ihrer Weise Lessing und Kaulbach thaten. Bei der ausschließlichen Beachtung des gegenwärtig Wirklichen und individuell Ausgeprägten droht der Gesichtskreis sich zu ver¬ engen, das Ich mit seinem Selbsterlebten sich alleingeltend hervorzudrängen, das Kleine, das Alltägliche sich als groß und wichtig breit zu machen. Die Kunst, der ein geschärftes Auge und ein großes Herz geschenkt ist, ist in erster Linie dazu berufen, statt selbst in diesen Fehler zu verfallen, ihre Zeit davor ^u schützen und aus den Engen des Subjektivismus immer wieder hinaus¬ zuheben in das Objektive der Weltgeschichte und der in ihr sich verkörpernden Wahrheiten. Jenseits der Geschichte liegt die Sage, liegt der Mythus, dereinst das gelobte Land der Kunst. Nach allem Gesagten kann es nicht überraschen, daß noch seltener und mit noch weniger Glück unsre heutige Kunst sich in jene

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/571>, abgerufen am 26.06.2024.