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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Halle in der Litteratur.

mit der Annahme eines wohlgesinnten Gottes erschienen ihnen alle Widersprüche
des Weltlaufs ausgeglichen, alle Unruhe des Herzens beschwichtigt. "Was
bedarf ich, um glücklich zu sein? so fragt Lafontaine in seinem ersten Roman.
Einen gesunden Magen, ein Haus, ein Kleid, ein Weib, einen Freund und
Frieden mit mir selbst," und er wird nicht müde, diese hausbackene Moral in
allen seinen poetisch und religiös bettelarmer Romanen weitschweifig zu
wiederholen."

Leider gehen mit der Charakteristik dieses auf der Grenze des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts wirksamen Romanschriftstellers dem andern Titel
seines Buches "Kulturbilder aus dem Zeitalter der Aufklärung" entsprechend,
die geistvoll belebten nud lehrreichen Schilderungen Kaweraus zu Ende. Das
weitere litterarische und poetische Leben in der alten Saalestadt findet keine
Darstellung. In demselben Jahrzehnt, wo Lafontaine mit seinen gemütlichen
Romanen das Herz selbst solcher Leserinnen gewann, wie Königin Luise, lebten
einige der jugendlichen Romantiker in Halle und gaben sich Empfindungen,
poetischen Plänen und litterarischen Studien hin, zu denen der wackere Feld¬
prediger des Regiments Thadden nur den Kopf hätte schütteln können. In
den ersten neunziger Jahren studirte Ludwig Tieck in Halle, wohin ihn das be¬
scheidene Stück romantischer Natur gezogen hatte, das in den Waldinseln
der Saale und einigen Felspartien bei Giebichenstein auch spätere Stndenten-
geschlechter entzückt hat. Hier war es, wo er 1792 den düster phantastischen
Erstlingsroman "Abdallah" schrieb, wo er den verwandten Roman "William
Lovell" entwarf, hier wo er seine Cervantes- und Shakespcarestudien begann,
sein Vorlesertalent vor einem Kreise jugendlicher Genossen zuerst entfaltete und
jenen persönlichen Zauber ausübte, der sein Leben hindurch ihm so viele poetisch
gestimmte Naturen enger verband. In Halle erlebte Tieck jene Stimmungen
innerster Verzweiflung "ut Trostlosigkeit, die mit der Poesie frischer Jugendlust
in so grellem Widerspruch standen und von denen uns Köpckes Erinnerungen
an Tieck meist mit dessen eignen Worten berichten. In Halle kehrten in den
Anfängen wie im Ausgang der Romantik zahlreiche Dichter und Schriftsteller
ein, die anfänglich noch zu einem Teil von des Musikers Reichardt Landsitz
in Giebichenstein angezogen wurden, später auch andre Anziehungspunkte fanden.
Kurz vor der Katastrophe des preußischen Staates im Jahre 1806 wirkten
Schleiermacher (als Universitätsprediger) und der Norweger Henrik Steffens
(als Professor der Mineralogie) in Halle, ein ganzer Kreis romantischer und
romantisch angehauchter Poeten versammelten sich um sie, die beiden Brüder
von Eichendorff, auch Varnhagen von Ense, der damals seine halbpoetische
Periode hatte, waren in den Jahren 1805 und 1806 in Halle, die Saale¬
universität gehörte zu den deutschen Hochschulen, die den Romantikern besonders
lieb waren. Achin von Arnim gab einem seiner phantastischsten Schauspiele
den Titel: "Halle und Jerusalem, Studentenspiel und Pilgenibenteuer." Nach


Halle in der Litteratur.

mit der Annahme eines wohlgesinnten Gottes erschienen ihnen alle Widersprüche
des Weltlaufs ausgeglichen, alle Unruhe des Herzens beschwichtigt. »Was
bedarf ich, um glücklich zu sein? so fragt Lafontaine in seinem ersten Roman.
Einen gesunden Magen, ein Haus, ein Kleid, ein Weib, einen Freund und
Frieden mit mir selbst,« und er wird nicht müde, diese hausbackene Moral in
allen seinen poetisch und religiös bettelarmer Romanen weitschweifig zu
wiederholen."

Leider gehen mit der Charakteristik dieses auf der Grenze des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts wirksamen Romanschriftstellers dem andern Titel
seines Buches „Kulturbilder aus dem Zeitalter der Aufklärung" entsprechend,
die geistvoll belebten nud lehrreichen Schilderungen Kaweraus zu Ende. Das
weitere litterarische und poetische Leben in der alten Saalestadt findet keine
Darstellung. In demselben Jahrzehnt, wo Lafontaine mit seinen gemütlichen
Romanen das Herz selbst solcher Leserinnen gewann, wie Königin Luise, lebten
einige der jugendlichen Romantiker in Halle und gaben sich Empfindungen,
poetischen Plänen und litterarischen Studien hin, zu denen der wackere Feld¬
prediger des Regiments Thadden nur den Kopf hätte schütteln können. In
den ersten neunziger Jahren studirte Ludwig Tieck in Halle, wohin ihn das be¬
scheidene Stück romantischer Natur gezogen hatte, das in den Waldinseln
der Saale und einigen Felspartien bei Giebichenstein auch spätere Stndenten-
geschlechter entzückt hat. Hier war es, wo er 1792 den düster phantastischen
Erstlingsroman „Abdallah" schrieb, wo er den verwandten Roman „William
Lovell" entwarf, hier wo er seine Cervantes- und Shakespcarestudien begann,
sein Vorlesertalent vor einem Kreise jugendlicher Genossen zuerst entfaltete und
jenen persönlichen Zauber ausübte, der sein Leben hindurch ihm so viele poetisch
gestimmte Naturen enger verband. In Halle erlebte Tieck jene Stimmungen
innerster Verzweiflung »ut Trostlosigkeit, die mit der Poesie frischer Jugendlust
in so grellem Widerspruch standen und von denen uns Köpckes Erinnerungen
an Tieck meist mit dessen eignen Worten berichten. In Halle kehrten in den
Anfängen wie im Ausgang der Romantik zahlreiche Dichter und Schriftsteller
ein, die anfänglich noch zu einem Teil von des Musikers Reichardt Landsitz
in Giebichenstein angezogen wurden, später auch andre Anziehungspunkte fanden.
Kurz vor der Katastrophe des preußischen Staates im Jahre 1806 wirkten
Schleiermacher (als Universitätsprediger) und der Norweger Henrik Steffens
(als Professor der Mineralogie) in Halle, ein ganzer Kreis romantischer und
romantisch angehauchter Poeten versammelten sich um sie, die beiden Brüder
von Eichendorff, auch Varnhagen von Ense, der damals seine halbpoetische
Periode hatte, waren in den Jahren 1805 und 1806 in Halle, die Saale¬
universität gehörte zu den deutschen Hochschulen, die den Romantikern besonders
lieb waren. Achin von Arnim gab einem seiner phantastischsten Schauspiele
den Titel: „Halle und Jerusalem, Studentenspiel und Pilgenibenteuer." Nach


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[0564] Halle in der Litteratur. mit der Annahme eines wohlgesinnten Gottes erschienen ihnen alle Widersprüche des Weltlaufs ausgeglichen, alle Unruhe des Herzens beschwichtigt. »Was bedarf ich, um glücklich zu sein? so fragt Lafontaine in seinem ersten Roman. Einen gesunden Magen, ein Haus, ein Kleid, ein Weib, einen Freund und Frieden mit mir selbst,« und er wird nicht müde, diese hausbackene Moral in allen seinen poetisch und religiös bettelarmer Romanen weitschweifig zu wiederholen." Leider gehen mit der Charakteristik dieses auf der Grenze des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts wirksamen Romanschriftstellers dem andern Titel seines Buches „Kulturbilder aus dem Zeitalter der Aufklärung" entsprechend, die geistvoll belebten nud lehrreichen Schilderungen Kaweraus zu Ende. Das weitere litterarische und poetische Leben in der alten Saalestadt findet keine Darstellung. In demselben Jahrzehnt, wo Lafontaine mit seinen gemütlichen Romanen das Herz selbst solcher Leserinnen gewann, wie Königin Luise, lebten einige der jugendlichen Romantiker in Halle und gaben sich Empfindungen, poetischen Plänen und litterarischen Studien hin, zu denen der wackere Feld¬ prediger des Regiments Thadden nur den Kopf hätte schütteln können. In den ersten neunziger Jahren studirte Ludwig Tieck in Halle, wohin ihn das be¬ scheidene Stück romantischer Natur gezogen hatte, das in den Waldinseln der Saale und einigen Felspartien bei Giebichenstein auch spätere Stndenten- geschlechter entzückt hat. Hier war es, wo er 1792 den düster phantastischen Erstlingsroman „Abdallah" schrieb, wo er den verwandten Roman „William Lovell" entwarf, hier wo er seine Cervantes- und Shakespcarestudien begann, sein Vorlesertalent vor einem Kreise jugendlicher Genossen zuerst entfaltete und jenen persönlichen Zauber ausübte, der sein Leben hindurch ihm so viele poetisch gestimmte Naturen enger verband. In Halle erlebte Tieck jene Stimmungen innerster Verzweiflung »ut Trostlosigkeit, die mit der Poesie frischer Jugendlust in so grellem Widerspruch standen und von denen uns Köpckes Erinnerungen an Tieck meist mit dessen eignen Worten berichten. In Halle kehrten in den Anfängen wie im Ausgang der Romantik zahlreiche Dichter und Schriftsteller ein, die anfänglich noch zu einem Teil von des Musikers Reichardt Landsitz in Giebichenstein angezogen wurden, später auch andre Anziehungspunkte fanden. Kurz vor der Katastrophe des preußischen Staates im Jahre 1806 wirkten Schleiermacher (als Universitätsprediger) und der Norweger Henrik Steffens (als Professor der Mineralogie) in Halle, ein ganzer Kreis romantischer und romantisch angehauchter Poeten versammelten sich um sie, die beiden Brüder von Eichendorff, auch Varnhagen von Ense, der damals seine halbpoetische Periode hatte, waren in den Jahren 1805 und 1806 in Halle, die Saale¬ universität gehörte zu den deutschen Hochschulen, die den Romantikern besonders lieb waren. Achin von Arnim gab einem seiner phantastischsten Schauspiele den Titel: „Halle und Jerusalem, Studentenspiel und Pilgenibenteuer." Nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/564>, abgerufen am 22.07.2024.