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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

oder ungünstigem Examen ohne Aussicht auf gesicherte Lebensstellung aufs
Straßenpflaster geworfen, in untergeordneter Beschäftigung sein Leben fristete,
war die beste Vorschule für das va-hö-naus-Spiel von Revolutionären. Die
Bauernunruhen, die 1861 im südöstlichen Rußland stattfanden, die Studenten¬
tumulte in Moskau und Petersburg, die dasselbe Jahr brachte, das Manifest
eines "zentralen Nevolutionskomitvs", das im April 1862 zur Ermordung
des Zaren aufforderte, die große Feuersbrunst, die bald nachher in Petersburg
ausbrach, und bei deren Scheine revolutionäre Flugblätter verteilt wurden,
die, wie sich später ergab, aus der Druckerei des Gardegeneralstabs hervor¬
gegangen waren, sind als Anzeichen dieser Strömungen anzusehen. Die Polizei
schritt ein, nahm Verhaftungen vor, schloß die studentischen Lesegesellschaften
und den radikalen Schachklub in Petersburg und beseitigte die zu Werkzeugen
der radikalen Propaganda gewordenen Sonntagsschulen. Trotzdem ging die
Bewegung weiter. Eine Anzahl geheimer Gesellschaften, die vorzüglich in der
Hauptstadt bestanden, vereinigte sich unter dem Namen "Land und Freiheit"
zu einem Bunde, der in einem Aufrufe von sich sagte: "Unsre Gesellschaft be¬
steht aus Männern, die angesichts der Verblendung unsrer Regierung eine
Revolution, und zwar eine blutige, sür unvermeidlich halten. Ihr Zweck ist,
aus dem Kreise der russischen Intelligenz die Besten zum Dienste des Volkes
zu sammeln, ihr letztes Ziel die vollständige Befreiung der Bauern, die An¬
erkennung ihres Rechtes auf den gemeinsamen Besitz des Landes und die
Autonomie der Gemeinden und Kreise." Der Bund wirkte durch Verteilung
von Flugschriften und trat mit den polnischen Rebellen in Verbindung. Zu
derselben Zeit bildete sich in Kasan ein Verein, der gefälschte Ncgierungsmani-
feste verbreitete. Wieder schritt die Polizei ein, es fanden Hinrichtungen statt,
und ein Teil der jugendlichen Verschwörer floh ins Ausland, um dort die
Rolle des politischen Märtyrers auf freier Erde zu spielen. 1365 lebte der
Revolutionsgeist in Rußland noch einmal auf. Es bildete sich eine geheime
Genossenschaft, deren Zentralkomitv sich die Hölle nannte und sich der Marx-
schen Internationale anschloß. Man gründete Volksschulen und Konsumvereine
und schickte Apostel ins Land, die unter der Maske von einfachen Arbeitern das
Volk zur Revolution aufwühlten, man bereitete endlich das Attentat vor, das
der Bauer Karakosow am 4. April 1866 auf den Zaren machte. Schnell auf¬
geblüht mit der durch Herzen hervorgerufenen Sturm- und Drangzeit, die
1863 abschloß, wurde der als Unterströmung in jugendlichen Kreisen neben
dem Liberalismus des altern Geschlechts hergehende Nihilismus in den Jahren,
wo Katkow statt Herzen die öffentliche Meinung beherrschte, fast ganz still
und kraftlos. Den bescheidenen Liberalismus hatte die Regierung durch Re¬
formen befriedigt, welche Selbstverwaltung der Provinzen und Kreise, Öffent¬
lichkeit der Rechtsprechung und Geschwornengerichte in Strafsachen einführten
und die Justiz von der Verwaltung trennten. Als mit dem stärkern Hervor-


Eine Geschichte der Parteien in Rußland.

oder ungünstigem Examen ohne Aussicht auf gesicherte Lebensstellung aufs
Straßenpflaster geworfen, in untergeordneter Beschäftigung sein Leben fristete,
war die beste Vorschule für das va-hö-naus-Spiel von Revolutionären. Die
Bauernunruhen, die 1861 im südöstlichen Rußland stattfanden, die Studenten¬
tumulte in Moskau und Petersburg, die dasselbe Jahr brachte, das Manifest
eines „zentralen Nevolutionskomitvs", das im April 1862 zur Ermordung
des Zaren aufforderte, die große Feuersbrunst, die bald nachher in Petersburg
ausbrach, und bei deren Scheine revolutionäre Flugblätter verteilt wurden,
die, wie sich später ergab, aus der Druckerei des Gardegeneralstabs hervor¬
gegangen waren, sind als Anzeichen dieser Strömungen anzusehen. Die Polizei
schritt ein, nahm Verhaftungen vor, schloß die studentischen Lesegesellschaften
und den radikalen Schachklub in Petersburg und beseitigte die zu Werkzeugen
der radikalen Propaganda gewordenen Sonntagsschulen. Trotzdem ging die
Bewegung weiter. Eine Anzahl geheimer Gesellschaften, die vorzüglich in der
Hauptstadt bestanden, vereinigte sich unter dem Namen „Land und Freiheit"
zu einem Bunde, der in einem Aufrufe von sich sagte: „Unsre Gesellschaft be¬
steht aus Männern, die angesichts der Verblendung unsrer Regierung eine
Revolution, und zwar eine blutige, sür unvermeidlich halten. Ihr Zweck ist,
aus dem Kreise der russischen Intelligenz die Besten zum Dienste des Volkes
zu sammeln, ihr letztes Ziel die vollständige Befreiung der Bauern, die An¬
erkennung ihres Rechtes auf den gemeinsamen Besitz des Landes und die
Autonomie der Gemeinden und Kreise." Der Bund wirkte durch Verteilung
von Flugschriften und trat mit den polnischen Rebellen in Verbindung. Zu
derselben Zeit bildete sich in Kasan ein Verein, der gefälschte Ncgierungsmani-
feste verbreitete. Wieder schritt die Polizei ein, es fanden Hinrichtungen statt,
und ein Teil der jugendlichen Verschwörer floh ins Ausland, um dort die
Rolle des politischen Märtyrers auf freier Erde zu spielen. 1365 lebte der
Revolutionsgeist in Rußland noch einmal auf. Es bildete sich eine geheime
Genossenschaft, deren Zentralkomitv sich die Hölle nannte und sich der Marx-
schen Internationale anschloß. Man gründete Volksschulen und Konsumvereine
und schickte Apostel ins Land, die unter der Maske von einfachen Arbeitern das
Volk zur Revolution aufwühlten, man bereitete endlich das Attentat vor, das
der Bauer Karakosow am 4. April 1866 auf den Zaren machte. Schnell auf¬
geblüht mit der durch Herzen hervorgerufenen Sturm- und Drangzeit, die
1863 abschloß, wurde der als Unterströmung in jugendlichen Kreisen neben
dem Liberalismus des altern Geschlechts hergehende Nihilismus in den Jahren,
wo Katkow statt Herzen die öffentliche Meinung beherrschte, fast ganz still
und kraftlos. Den bescheidenen Liberalismus hatte die Regierung durch Re¬
formen befriedigt, welche Selbstverwaltung der Provinzen und Kreise, Öffent¬
lichkeit der Rechtsprechung und Geschwornengerichte in Strafsachen einführten
und die Justiz von der Verwaltung trennten. Als mit dem stärkern Hervor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/549>, abgerufen am 28.09.2024.