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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Parteien in Rußland,

und unter denen die medizinische Akademie und das technologische Institut in
Petersburg, sowie die landwirtschaftliche Akademie in Moskau hierin das ärgste
leisteten. Mit ungeheuerster Geschwindigkeit wurden in dem Rausche, der diese
Jünglinge ergriffen hatte, in juughegelscher Weise Standpunkte überwunden.
Wohl niemals hat die Wissenschaft so verheerende Wirkungen angerichtet wie
hier. Auf den Gebieten der Philosophie und Ethik, der Politik und der Sozial-
theorieu wurden mit Keulenschlägen die von der eilten Kultur aufgerichteten
Vorurteile niedergelegt, bis man zuletzt an den Grenzen des Denkmöglichen
anlangte und nur ein krampfhafter Drang zur Verneinung alles bisher geltenden
übrig blieb, der eben Nihilismus heißt. Irrtümlich ist aber die Meinung, das
letzte Ziel sei den Nihilisten ein allgemeines Chaos gewesen. Sie fühlten sich
vielmehr als Vorbereiter und Erben einer Zukunft, die nur noch durch leichte
Morgennebel verschleiert war. Bei der Vorbereitung galt als vorzugsweise
verdienstlich die Arbeit an den jüngern Mitgliedern des weiblichen Geschlechts,
das besonders schwer unter der Herrschaft der Vorurteile litt, und bei dem es,
wie der technische Ausdruck lautete, darauf ankam, die zur Sklavin des Mannes
entwürdigte zur Selbständigkeit und in die Sphäre der nur durch den eiguen
freien Willen gebundnen ehelichen Liebe zu erheben. Ein weiteres Arbeitsfeld
eröffnete die Aufgabe, der großen Masse des Volkes, dem arbeitenden Staude,
die Elementarkenntnisfe beizubringen, was durch Gründung von Sonntagsschulen
geschah, deren erste 1885 in Kiew entstand, und in denen vier Jahre später
schon zwanzigtausend Schüler zu den Füßen der lehrenden Jugend saßen. Die
große Befreiung durch gemeinsames Handeln, die als Schluß dieser und ähn¬
licher Thätigkeit ins Auge gefaßt war, konnte nach Tschernyschewsky, der auf
diesem Gebiete als maßgebende Autorität galt, nur auf wirtschaftlichem Gebiete
liegen, das Streben nach verfassungsmäßigen Freiheiten war nutzlos ohne
die wirtschaftliche Freiheit, ans der rein politischen Sphäre mußte das Decken
des Nihilismus in die rein sozialistische einlenken, der Grundsatz wirt¬
schaftlicher Genossenschaft mußte verallgemeinert werden. Der russische Ge¬
meindebesitz genügte nicht, die Konsum- und Produktionsvereine Schultze-Delitzschs
waren empfehlenswert, aber keine gründliche Lösung der Aufgabe. Diese
selbst zu finden war man außer Stande, und in dieser Ratlosigkeit, diesem
immer fühlbarer werdenden Mißverhältnis zwischen der Überzeugung, daß
weiter zu gehen sei, und der Ungewißheit, auf welchem Wege, wurde der Thaten¬
drang der Nihilisten Ursache, daß die anfänglich im Hintergrunde stehenden
Elemente der Genossenschaft, die an Revolution ohne positive Ziele dachten,
die Oberhand gewannen. Beschleunige wurde dieser Entartnngsprozeß dadurch,
daß sich infolge der Erleichterung des akademischen Studiums, die nach dem
Thronwechsel eintrat, die Zahl der russischen Studenten unnatürlich vermehrte
nud der Prozentsatz der mittellosen unter ihnen bedenklich in die Höhe ging.
Die Verbitterung eines gebildeten Proletariats, das, nach beendigtem Studium


Line Geschichte der Parteien in Rußland,

und unter denen die medizinische Akademie und das technologische Institut in
Petersburg, sowie die landwirtschaftliche Akademie in Moskau hierin das ärgste
leisteten. Mit ungeheuerster Geschwindigkeit wurden in dem Rausche, der diese
Jünglinge ergriffen hatte, in juughegelscher Weise Standpunkte überwunden.
Wohl niemals hat die Wissenschaft so verheerende Wirkungen angerichtet wie
hier. Auf den Gebieten der Philosophie und Ethik, der Politik und der Sozial-
theorieu wurden mit Keulenschlägen die von der eilten Kultur aufgerichteten
Vorurteile niedergelegt, bis man zuletzt an den Grenzen des Denkmöglichen
anlangte und nur ein krampfhafter Drang zur Verneinung alles bisher geltenden
übrig blieb, der eben Nihilismus heißt. Irrtümlich ist aber die Meinung, das
letzte Ziel sei den Nihilisten ein allgemeines Chaos gewesen. Sie fühlten sich
vielmehr als Vorbereiter und Erben einer Zukunft, die nur noch durch leichte
Morgennebel verschleiert war. Bei der Vorbereitung galt als vorzugsweise
verdienstlich die Arbeit an den jüngern Mitgliedern des weiblichen Geschlechts,
das besonders schwer unter der Herrschaft der Vorurteile litt, und bei dem es,
wie der technische Ausdruck lautete, darauf ankam, die zur Sklavin des Mannes
entwürdigte zur Selbständigkeit und in die Sphäre der nur durch den eiguen
freien Willen gebundnen ehelichen Liebe zu erheben. Ein weiteres Arbeitsfeld
eröffnete die Aufgabe, der großen Masse des Volkes, dem arbeitenden Staude,
die Elementarkenntnisfe beizubringen, was durch Gründung von Sonntagsschulen
geschah, deren erste 1885 in Kiew entstand, und in denen vier Jahre später
schon zwanzigtausend Schüler zu den Füßen der lehrenden Jugend saßen. Die
große Befreiung durch gemeinsames Handeln, die als Schluß dieser und ähn¬
licher Thätigkeit ins Auge gefaßt war, konnte nach Tschernyschewsky, der auf
diesem Gebiete als maßgebende Autorität galt, nur auf wirtschaftlichem Gebiete
liegen, das Streben nach verfassungsmäßigen Freiheiten war nutzlos ohne
die wirtschaftliche Freiheit, ans der rein politischen Sphäre mußte das Decken
des Nihilismus in die rein sozialistische einlenken, der Grundsatz wirt¬
schaftlicher Genossenschaft mußte verallgemeinert werden. Der russische Ge¬
meindebesitz genügte nicht, die Konsum- und Produktionsvereine Schultze-Delitzschs
waren empfehlenswert, aber keine gründliche Lösung der Aufgabe. Diese
selbst zu finden war man außer Stande, und in dieser Ratlosigkeit, diesem
immer fühlbarer werdenden Mißverhältnis zwischen der Überzeugung, daß
weiter zu gehen sei, und der Ungewißheit, auf welchem Wege, wurde der Thaten¬
drang der Nihilisten Ursache, daß die anfänglich im Hintergrunde stehenden
Elemente der Genossenschaft, die an Revolution ohne positive Ziele dachten,
die Oberhand gewannen. Beschleunige wurde dieser Entartnngsprozeß dadurch,
daß sich infolge der Erleichterung des akademischen Studiums, die nach dem
Thronwechsel eintrat, die Zahl der russischen Studenten unnatürlich vermehrte
nud der Prozentsatz der mittellosen unter ihnen bedenklich in die Höhe ging.
Die Verbitterung eines gebildeten Proletariats, das, nach beendigtem Studium


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[0548] Line Geschichte der Parteien in Rußland, und unter denen die medizinische Akademie und das technologische Institut in Petersburg, sowie die landwirtschaftliche Akademie in Moskau hierin das ärgste leisteten. Mit ungeheuerster Geschwindigkeit wurden in dem Rausche, der diese Jünglinge ergriffen hatte, in juughegelscher Weise Standpunkte überwunden. Wohl niemals hat die Wissenschaft so verheerende Wirkungen angerichtet wie hier. Auf den Gebieten der Philosophie und Ethik, der Politik und der Sozial- theorieu wurden mit Keulenschlägen die von der eilten Kultur aufgerichteten Vorurteile niedergelegt, bis man zuletzt an den Grenzen des Denkmöglichen anlangte und nur ein krampfhafter Drang zur Verneinung alles bisher geltenden übrig blieb, der eben Nihilismus heißt. Irrtümlich ist aber die Meinung, das letzte Ziel sei den Nihilisten ein allgemeines Chaos gewesen. Sie fühlten sich vielmehr als Vorbereiter und Erben einer Zukunft, die nur noch durch leichte Morgennebel verschleiert war. Bei der Vorbereitung galt als vorzugsweise verdienstlich die Arbeit an den jüngern Mitgliedern des weiblichen Geschlechts, das besonders schwer unter der Herrschaft der Vorurteile litt, und bei dem es, wie der technische Ausdruck lautete, darauf ankam, die zur Sklavin des Mannes entwürdigte zur Selbständigkeit und in die Sphäre der nur durch den eiguen freien Willen gebundnen ehelichen Liebe zu erheben. Ein weiteres Arbeitsfeld eröffnete die Aufgabe, der großen Masse des Volkes, dem arbeitenden Staude, die Elementarkenntnisfe beizubringen, was durch Gründung von Sonntagsschulen geschah, deren erste 1885 in Kiew entstand, und in denen vier Jahre später schon zwanzigtausend Schüler zu den Füßen der lehrenden Jugend saßen. Die große Befreiung durch gemeinsames Handeln, die als Schluß dieser und ähn¬ licher Thätigkeit ins Auge gefaßt war, konnte nach Tschernyschewsky, der auf diesem Gebiete als maßgebende Autorität galt, nur auf wirtschaftlichem Gebiete liegen, das Streben nach verfassungsmäßigen Freiheiten war nutzlos ohne die wirtschaftliche Freiheit, ans der rein politischen Sphäre mußte das Decken des Nihilismus in die rein sozialistische einlenken, der Grundsatz wirt¬ schaftlicher Genossenschaft mußte verallgemeinert werden. Der russische Ge¬ meindebesitz genügte nicht, die Konsum- und Produktionsvereine Schultze-Delitzschs waren empfehlenswert, aber keine gründliche Lösung der Aufgabe. Diese selbst zu finden war man außer Stande, und in dieser Ratlosigkeit, diesem immer fühlbarer werdenden Mißverhältnis zwischen der Überzeugung, daß weiter zu gehen sei, und der Ungewißheit, auf welchem Wege, wurde der Thaten¬ drang der Nihilisten Ursache, daß die anfänglich im Hintergrunde stehenden Elemente der Genossenschaft, die an Revolution ohne positive Ziele dachten, die Oberhand gewannen. Beschleunige wurde dieser Entartnngsprozeß dadurch, daß sich infolge der Erleichterung des akademischen Studiums, die nach dem Thronwechsel eintrat, die Zahl der russischen Studenten unnatürlich vermehrte nud der Prozentsatz der mittellosen unter ihnen bedenklich in die Höhe ging. Die Verbitterung eines gebildeten Proletariats, das, nach beendigtem Studium

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/548>, abgerufen am 26.06.2024.