Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
lvoermanns Geschichte der Malerei.

der neuen deutschen Kunst gestellt und als Bahnbrecher gefeiert haben. Ein
hochbegabter Mensch und ein selbstwollender Künstler war Carstens ohne Zweifel;
für einen wirklich großen Künstler aber könnten wir ihn nur halten, wenn Kunst
nicht Können, sondern Wollen bedeutete."

Es gehört heute immer noch ein gewisses Maß von Unerschrockenst dazu,
init dürren Worten zu erklären, daß die angebliche künstlerische Bedeutung von
Carstens weder in seinen Werken noch in der weitern Entwicklung der deutschen
Kunst eine Begründung findet, sondern daß vielmehr der geschichtlichen Dar¬
stellung der neuern deutschen Kunst von denjenigen Gewalt angethan worden
ist, die Carstens als den Führer einer neuen Epoche gepriesen haben. Eine
gleiche Unbefangenheit zeigt Woermann auch in der Beurteilung von Cornelius
und seiner Schule, die er in den Schlußworten des die deutsche Malerei des
18. Jahrhunderts behandelnden Abschnittes streift. Ein ebensosehr dnrch Na¬
türlichkeit der Auffassung wie durch koloristische Vorzüge ausgezeichnetes Kinder-
bildnis des Malers Chr. Leberecht Vogel (1769--1816) in der Dresdener
Galerie giebt ihm die Veranlassung zu einem Vergleich mit einem in der Nähe
hängenden männlichen Bildnisse von Peter Cornelius. In der "Auffassung
und Technik des letzteren," sagt er, ist sicher kein Fortschritt, sondern "nur
ein gewaltiger Rückschritt" zu erkennen. "Aber es war eben nicht anders, die
Kunst mußte, wie Goethe sagt, "sich erst rückwärts bilden und in den Schooß
der Natur zurückkehren," wenn sie neu geboren werden wollte; sie mußte erst
wieder lallen lernen, ehe sie mit neuen Flcunmenzuugen sprechen konnte; und
was Cornelius und die Seinen, die freilich eben deshalb nur eine Übergangsstufe
bezeichnen, der deutschen Kunst an ihrem technischen Können, ohne welches keine
echte Kunst denkbar ist, genommen haben, das haben sie ihr an dichterischem
Schwunge der Phantasie, an Reinheit und Großartigkeit des Ausdrucks, an
Tiefe der Empfindung und des Gedankens zu ersetzen gesucht. Daß diese letztern
Eigenschaften und die "technischen Qualitäten" einander ausschließen, wie die
einseitigen Idealisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wähnten und wie
die einseitigen Realisten der Gegenwart meinen, ist nicht zuzugeben. Die Ge¬
schichte der Malerei widerspricht einer solchen Auffassung. Freilich aber kann
die notwendige Vereinigung einer sich eng an die Natur anschließenden gesunden
und gediegenen Technik mit hoher geistiger Künstlerkraft nicht von außen kommen,
am wenigsten durch die Nachahmung unsrer geschickten Nachbarn; sie muß
aus dem innersten Kern des deutschen Volkswesens heraus neu entstehen; und
ob man dann der großen deutschen Kunst der Zukunft den vielersehnten, durch¬
geistigten "Realismus" oder einen Fleisch und Blut gewordenen "Idealismus"
beimessen wird, kann uns gleichgiltig sein. Gelehrtenstuben- und Künstler-
werkstatts-Schlagworte, welche stetem Wechsel unterworfen sind, thun es nicht."

So haben sich also dem Verfasser aus der Betrachtung der Geschichte der
Malerei aller Zeiten und Völker zwei Grundsätze ergeben, deren allgemeine


lvoermanns Geschichte der Malerei.

der neuen deutschen Kunst gestellt und als Bahnbrecher gefeiert haben. Ein
hochbegabter Mensch und ein selbstwollender Künstler war Carstens ohne Zweifel;
für einen wirklich großen Künstler aber könnten wir ihn nur halten, wenn Kunst
nicht Können, sondern Wollen bedeutete."

Es gehört heute immer noch ein gewisses Maß von Unerschrockenst dazu,
init dürren Worten zu erklären, daß die angebliche künstlerische Bedeutung von
Carstens weder in seinen Werken noch in der weitern Entwicklung der deutschen
Kunst eine Begründung findet, sondern daß vielmehr der geschichtlichen Dar¬
stellung der neuern deutschen Kunst von denjenigen Gewalt angethan worden
ist, die Carstens als den Führer einer neuen Epoche gepriesen haben. Eine
gleiche Unbefangenheit zeigt Woermann auch in der Beurteilung von Cornelius
und seiner Schule, die er in den Schlußworten des die deutsche Malerei des
18. Jahrhunderts behandelnden Abschnittes streift. Ein ebensosehr dnrch Na¬
türlichkeit der Auffassung wie durch koloristische Vorzüge ausgezeichnetes Kinder-
bildnis des Malers Chr. Leberecht Vogel (1769—1816) in der Dresdener
Galerie giebt ihm die Veranlassung zu einem Vergleich mit einem in der Nähe
hängenden männlichen Bildnisse von Peter Cornelius. In der „Auffassung
und Technik des letzteren," sagt er, ist sicher kein Fortschritt, sondern „nur
ein gewaltiger Rückschritt" zu erkennen. „Aber es war eben nicht anders, die
Kunst mußte, wie Goethe sagt, „sich erst rückwärts bilden und in den Schooß
der Natur zurückkehren," wenn sie neu geboren werden wollte; sie mußte erst
wieder lallen lernen, ehe sie mit neuen Flcunmenzuugen sprechen konnte; und
was Cornelius und die Seinen, die freilich eben deshalb nur eine Übergangsstufe
bezeichnen, der deutschen Kunst an ihrem technischen Können, ohne welches keine
echte Kunst denkbar ist, genommen haben, das haben sie ihr an dichterischem
Schwunge der Phantasie, an Reinheit und Großartigkeit des Ausdrucks, an
Tiefe der Empfindung und des Gedankens zu ersetzen gesucht. Daß diese letztern
Eigenschaften und die „technischen Qualitäten" einander ausschließen, wie die
einseitigen Idealisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wähnten und wie
die einseitigen Realisten der Gegenwart meinen, ist nicht zuzugeben. Die Ge¬
schichte der Malerei widerspricht einer solchen Auffassung. Freilich aber kann
die notwendige Vereinigung einer sich eng an die Natur anschließenden gesunden
und gediegenen Technik mit hoher geistiger Künstlerkraft nicht von außen kommen,
am wenigsten durch die Nachahmung unsrer geschickten Nachbarn; sie muß
aus dem innersten Kern des deutschen Volkswesens heraus neu entstehen; und
ob man dann der großen deutschen Kunst der Zukunft den vielersehnten, durch¬
geistigten „Realismus" oder einen Fleisch und Blut gewordenen „Idealismus"
beimessen wird, kann uns gleichgiltig sein. Gelehrtenstuben- und Künstler-
werkstatts-Schlagworte, welche stetem Wechsel unterworfen sind, thun es nicht."

So haben sich also dem Verfasser aus der Betrachtung der Geschichte der
Malerei aller Zeiten und Völker zwei Grundsätze ergeben, deren allgemeine


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203959"/>
          <fw type="header" place="top"> lvoermanns Geschichte der Malerei.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1351" prev="#ID_1350"> der neuen deutschen Kunst gestellt und als Bahnbrecher gefeiert haben. Ein<lb/>
hochbegabter Mensch und ein selbstwollender Künstler war Carstens ohne Zweifel;<lb/>
für einen wirklich großen Künstler aber könnten wir ihn nur halten, wenn Kunst<lb/>
nicht Können, sondern Wollen bedeutete."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1352"> Es gehört heute immer noch ein gewisses Maß von Unerschrockenst dazu,<lb/>
init dürren Worten zu erklären, daß die angebliche künstlerische Bedeutung von<lb/>
Carstens weder in seinen Werken noch in der weitern Entwicklung der deutschen<lb/>
Kunst eine Begründung findet, sondern daß vielmehr der geschichtlichen Dar¬<lb/>
stellung der neuern deutschen Kunst von denjenigen Gewalt angethan worden<lb/>
ist, die Carstens als den Führer einer neuen Epoche gepriesen haben. Eine<lb/>
gleiche Unbefangenheit zeigt Woermann auch in der Beurteilung von Cornelius<lb/>
und seiner Schule, die er in den Schlußworten des die deutsche Malerei des<lb/>
18. Jahrhunderts behandelnden Abschnittes streift.  Ein ebensosehr dnrch Na¬<lb/>
türlichkeit der Auffassung wie durch koloristische Vorzüge ausgezeichnetes Kinder-<lb/>
bildnis des Malers Chr. Leberecht Vogel (1769&#x2014;1816) in der Dresdener<lb/>
Galerie giebt ihm die Veranlassung zu einem Vergleich mit einem in der Nähe<lb/>
hängenden männlichen Bildnisse von Peter Cornelius. In der &#x201E;Auffassung<lb/>
und Technik des letzteren," sagt er, ist sicher kein Fortschritt, sondern &#x201E;nur<lb/>
ein gewaltiger Rückschritt" zu erkennen.  &#x201E;Aber es war eben nicht anders, die<lb/>
Kunst mußte, wie Goethe sagt, &#x201E;sich erst rückwärts bilden und in den Schooß<lb/>
der Natur zurückkehren," wenn sie neu geboren werden wollte; sie mußte erst<lb/>
wieder lallen lernen, ehe sie mit neuen Flcunmenzuugen sprechen konnte; und<lb/>
was Cornelius und die Seinen, die freilich eben deshalb nur eine Übergangsstufe<lb/>
bezeichnen, der deutschen Kunst an ihrem technischen Können, ohne welches keine<lb/>
echte Kunst denkbar ist, genommen haben, das haben sie ihr an dichterischem<lb/>
Schwunge der Phantasie, an Reinheit und Großartigkeit des Ausdrucks, an<lb/>
Tiefe der Empfindung und des Gedankens zu ersetzen gesucht. Daß diese letztern<lb/>
Eigenschaften und die &#x201E;technischen Qualitäten" einander ausschließen, wie die<lb/>
einseitigen Idealisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wähnten und wie<lb/>
die einseitigen Realisten der Gegenwart meinen, ist nicht zuzugeben. Die Ge¬<lb/>
schichte der Malerei widerspricht einer solchen Auffassung. Freilich aber kann<lb/>
die notwendige Vereinigung einer sich eng an die Natur anschließenden gesunden<lb/>
und gediegenen Technik mit hoher geistiger Künstlerkraft nicht von außen kommen,<lb/>
am wenigsten durch die Nachahmung unsrer geschickten Nachbarn; sie muß<lb/>
aus dem innersten Kern des deutschen Volkswesens heraus neu entstehen; und<lb/>
ob man dann der großen deutschen Kunst der Zukunft den vielersehnten, durch¬<lb/>
geistigten &#x201E;Realismus" oder einen Fleisch und Blut gewordenen &#x201E;Idealismus"<lb/>
beimessen wird, kann uns gleichgiltig sein.  Gelehrtenstuben- und Künstler-<lb/>
werkstatts-Schlagworte, welche stetem Wechsel unterworfen sind, thun es nicht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1353" next="#ID_1354"> So haben sich also dem Verfasser aus der Betrachtung der Geschichte der<lb/>
Malerei aller Zeiten und Völker zwei Grundsätze ergeben, deren allgemeine</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0524] lvoermanns Geschichte der Malerei. der neuen deutschen Kunst gestellt und als Bahnbrecher gefeiert haben. Ein hochbegabter Mensch und ein selbstwollender Künstler war Carstens ohne Zweifel; für einen wirklich großen Künstler aber könnten wir ihn nur halten, wenn Kunst nicht Können, sondern Wollen bedeutete." Es gehört heute immer noch ein gewisses Maß von Unerschrockenst dazu, init dürren Worten zu erklären, daß die angebliche künstlerische Bedeutung von Carstens weder in seinen Werken noch in der weitern Entwicklung der deutschen Kunst eine Begründung findet, sondern daß vielmehr der geschichtlichen Dar¬ stellung der neuern deutschen Kunst von denjenigen Gewalt angethan worden ist, die Carstens als den Führer einer neuen Epoche gepriesen haben. Eine gleiche Unbefangenheit zeigt Woermann auch in der Beurteilung von Cornelius und seiner Schule, die er in den Schlußworten des die deutsche Malerei des 18. Jahrhunderts behandelnden Abschnittes streift. Ein ebensosehr dnrch Na¬ türlichkeit der Auffassung wie durch koloristische Vorzüge ausgezeichnetes Kinder- bildnis des Malers Chr. Leberecht Vogel (1769—1816) in der Dresdener Galerie giebt ihm die Veranlassung zu einem Vergleich mit einem in der Nähe hängenden männlichen Bildnisse von Peter Cornelius. In der „Auffassung und Technik des letzteren," sagt er, ist sicher kein Fortschritt, sondern „nur ein gewaltiger Rückschritt" zu erkennen. „Aber es war eben nicht anders, die Kunst mußte, wie Goethe sagt, „sich erst rückwärts bilden und in den Schooß der Natur zurückkehren," wenn sie neu geboren werden wollte; sie mußte erst wieder lallen lernen, ehe sie mit neuen Flcunmenzuugen sprechen konnte; und was Cornelius und die Seinen, die freilich eben deshalb nur eine Übergangsstufe bezeichnen, der deutschen Kunst an ihrem technischen Können, ohne welches keine echte Kunst denkbar ist, genommen haben, das haben sie ihr an dichterischem Schwunge der Phantasie, an Reinheit und Großartigkeit des Ausdrucks, an Tiefe der Empfindung und des Gedankens zu ersetzen gesucht. Daß diese letztern Eigenschaften und die „technischen Qualitäten" einander ausschließen, wie die einseitigen Idealisten der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts wähnten und wie die einseitigen Realisten der Gegenwart meinen, ist nicht zuzugeben. Die Ge¬ schichte der Malerei widerspricht einer solchen Auffassung. Freilich aber kann die notwendige Vereinigung einer sich eng an die Natur anschließenden gesunden und gediegenen Technik mit hoher geistiger Künstlerkraft nicht von außen kommen, am wenigsten durch die Nachahmung unsrer geschickten Nachbarn; sie muß aus dem innersten Kern des deutschen Volkswesens heraus neu entstehen; und ob man dann der großen deutschen Kunst der Zukunft den vielersehnten, durch¬ geistigten „Realismus" oder einen Fleisch und Blut gewordenen „Idealismus" beimessen wird, kann uns gleichgiltig sein. Gelehrtenstuben- und Künstler- werkstatts-Schlagworte, welche stetem Wechsel unterworfen sind, thun es nicht." So haben sich also dem Verfasser aus der Betrachtung der Geschichte der Malerei aller Zeiten und Völker zwei Grundsätze ergeben, deren allgemeine

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/524
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/524>, abgerufen am 22.07.2024.