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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart.

Er besucht sie zur Nacht, wie Romeo die Julia, aber sie bleiben keusch
wie die Heiligen. Bei einer Prozession erkennt sie in Munier den Sohn des
Monseigneur; sie eilt in maßloser Aufregung nachts zu ihm und nimmt ihm
das Versprechen ab, sie zu heiraten. Monseigneur erfährt das Verhältnis
seines Sohnes und tritt energisch dazwischen; und selbst vor dem Altar in der
Kirche, wo Angslique den Bischof erwartet und seine Gnade erfleht, ertönt das
Wort: ^gnmis! Munier will mit ihr fliehen, aber ein religiöser Wahnsinn
erfaßt sie, mourir visr^ö, volatg-mes <l<z d1g.nczb.6ur, g,u xrsiniör dö-issr c!s
l'epoux. Dieser fromme Traum erfüllt sich. Angvlique wird totkrank; Mon¬
seigneur erscheint selbst vor ihrem Lager; ein Wunder geschieht an der Heiligen,
sie wird durch seinen Kuß wieder gesund. Ihrem Glücke steht nun nichts mehr
entgegen; mit der größten Feierlichkeit wird die Trauung vollzogen. Kaum hat
aber das Paar die Kirche verlassen und die erste Stufe beschritten, so stirbt
AngÄique mit dem ersten Kusse Mliciens auf den Lippen.

Der geheimnisvolle Roman schließt mit den geheimnisvollen Worten: lug,
vision, venus 6s l'invisidlö, i'6t,ourng,it it l'invisiolö. (!<z n'plait ein'uns axxg.-
r<zuo6 <mi axrös avoir or^ö uns Illusion. ?ont n'sse eins rßvs.
M, g,u formulee an bonnsnr, ^.n^vliMk g-van äisxaru, äg-us 1s xstit soulllv
ä'un baissr.

Wir können nicht umhin, einzugestehen, daß Zola mit I^s KSvs einen
der sittenreinsten Romane aller Litteraturen geschrieben hat, vermögen aber den
Argwohn nicht zu unterdrücken, daß der große Naturalist mit dieser Dichtung
seinen verwöhnten Lesern ein Schnippchen habe schlagen wollen. Alcibiades
hieb seinem vielbewunderten Hunde den Schwanz ab, um neue Verwunderung
zu erregen. Sollte Zola ähnlich gehandelt haben?

Wer sich über die kleinsten Bauteile einer Kathedrale, über die Kunst der
Stickerei und der Glasmalerei, über den Stoff mittelalterlicher Legenden unter¬
richten will, findet in us Revo eine dankenswerte Quelle. Im übrigen wird
Zola mit dieser sentimentalen Erzählung, die, außer den langatmigen Be¬
schreibungen, nichts mehr mit dem Naturalismus gemein hat, manche Enttäu¬
schung erregen, denn wer sich einmal dem Mylittaknltus ergeben hat, von dem
erwartet man schlechterdings nicht mehr, daß er als Prophet jungfräulicher
Entsagung und himmlischer Glückseligkeit auftreten werde. Anderseits war freilich
bei Zola der Schritt von der allegorischen und symbolischen Spielerei, wie sie
besonders in Ilg. I'Amts als 1'g.bös Nourst, in I/^ssominoir und Mna. hervor¬
tritt, zur mystischen Verschrobenheit nicht gar weit.

Der Naturalismus hat seine Rolle ausgespielt. Mit all seiner Aufge¬
regtheit und Maßlosigkeit ist er -- geschichtlich betrachtet -- nur der letzte
mögliche Rückschlag des materialistischen Geistes gegen die metaphysischen und
rhetorischen Verflüchtigungen der französischen Romantik. Wie sich ohne die
eklektische Philosophie Victor Cousins schwerlich der Positivismus Auguste Comtes


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart.

Er besucht sie zur Nacht, wie Romeo die Julia, aber sie bleiben keusch
wie die Heiligen. Bei einer Prozession erkennt sie in Munier den Sohn des
Monseigneur; sie eilt in maßloser Aufregung nachts zu ihm und nimmt ihm
das Versprechen ab, sie zu heiraten. Monseigneur erfährt das Verhältnis
seines Sohnes und tritt energisch dazwischen; und selbst vor dem Altar in der
Kirche, wo Angslique den Bischof erwartet und seine Gnade erfleht, ertönt das
Wort: ^gnmis! Munier will mit ihr fliehen, aber ein religiöser Wahnsinn
erfaßt sie, mourir visr^ö, volatg-mes <l<z d1g.nczb.6ur, g,u xrsiniör dö-issr c!s
l'epoux. Dieser fromme Traum erfüllt sich. Angvlique wird totkrank; Mon¬
seigneur erscheint selbst vor ihrem Lager; ein Wunder geschieht an der Heiligen,
sie wird durch seinen Kuß wieder gesund. Ihrem Glücke steht nun nichts mehr
entgegen; mit der größten Feierlichkeit wird die Trauung vollzogen. Kaum hat
aber das Paar die Kirche verlassen und die erste Stufe beschritten, so stirbt
AngÄique mit dem ersten Kusse Mliciens auf den Lippen.

Der geheimnisvolle Roman schließt mit den geheimnisvollen Worten: lug,
vision, venus 6s l'invisidlö, i'6t,ourng,it it l'invisiolö. (!<z n'plait ein'uns axxg.-
r<zuo6 <mi axrös avoir or^ö uns Illusion. ?ont n'sse eins rßvs.
M, g,u formulee an bonnsnr, ^.n^vliMk g-van äisxaru, äg-us 1s xstit soulllv
ä'un baissr.

Wir können nicht umhin, einzugestehen, daß Zola mit I^s KSvs einen
der sittenreinsten Romane aller Litteraturen geschrieben hat, vermögen aber den
Argwohn nicht zu unterdrücken, daß der große Naturalist mit dieser Dichtung
seinen verwöhnten Lesern ein Schnippchen habe schlagen wollen. Alcibiades
hieb seinem vielbewunderten Hunde den Schwanz ab, um neue Verwunderung
zu erregen. Sollte Zola ähnlich gehandelt haben?

Wer sich über die kleinsten Bauteile einer Kathedrale, über die Kunst der
Stickerei und der Glasmalerei, über den Stoff mittelalterlicher Legenden unter¬
richten will, findet in us Revo eine dankenswerte Quelle. Im übrigen wird
Zola mit dieser sentimentalen Erzählung, die, außer den langatmigen Be¬
schreibungen, nichts mehr mit dem Naturalismus gemein hat, manche Enttäu¬
schung erregen, denn wer sich einmal dem Mylittaknltus ergeben hat, von dem
erwartet man schlechterdings nicht mehr, daß er als Prophet jungfräulicher
Entsagung und himmlischer Glückseligkeit auftreten werde. Anderseits war freilich
bei Zola der Schritt von der allegorischen und symbolischen Spielerei, wie sie
besonders in Ilg. I'Amts als 1'g.bös Nourst, in I/^ssominoir und Mna. hervor¬
tritt, zur mystischen Verschrobenheit nicht gar weit.

Der Naturalismus hat seine Rolle ausgespielt. Mit all seiner Aufge¬
regtheit und Maßlosigkeit ist er — geschichtlich betrachtet — nur der letzte
mögliche Rückschlag des materialistischen Geistes gegen die metaphysischen und
rhetorischen Verflüchtigungen der französischen Romantik. Wie sich ohne die
eklektische Philosophie Victor Cousins schwerlich der Positivismus Auguste Comtes


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[0518] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart. Er besucht sie zur Nacht, wie Romeo die Julia, aber sie bleiben keusch wie die Heiligen. Bei einer Prozession erkennt sie in Munier den Sohn des Monseigneur; sie eilt in maßloser Aufregung nachts zu ihm und nimmt ihm das Versprechen ab, sie zu heiraten. Monseigneur erfährt das Verhältnis seines Sohnes und tritt energisch dazwischen; und selbst vor dem Altar in der Kirche, wo Angslique den Bischof erwartet und seine Gnade erfleht, ertönt das Wort: ^gnmis! Munier will mit ihr fliehen, aber ein religiöser Wahnsinn erfaßt sie, mourir visr^ö, volatg-mes <l<z d1g.nczb.6ur, g,u xrsiniör dö-issr c!s l'epoux. Dieser fromme Traum erfüllt sich. Angvlique wird totkrank; Mon¬ seigneur erscheint selbst vor ihrem Lager; ein Wunder geschieht an der Heiligen, sie wird durch seinen Kuß wieder gesund. Ihrem Glücke steht nun nichts mehr entgegen; mit der größten Feierlichkeit wird die Trauung vollzogen. Kaum hat aber das Paar die Kirche verlassen und die erste Stufe beschritten, so stirbt AngÄique mit dem ersten Kusse Mliciens auf den Lippen. Der geheimnisvolle Roman schließt mit den geheimnisvollen Worten: lug, vision, venus 6s l'invisidlö, i'6t,ourng,it it l'invisiolö. (!<z n'plait ein'uns axxg.- r<zuo6 <mi axrös avoir or^ö uns Illusion. ?ont n'sse eins rßvs. M, g,u formulee an bonnsnr, ^.n^vliMk g-van äisxaru, äg-us 1s xstit soulllv ä'un baissr. Wir können nicht umhin, einzugestehen, daß Zola mit I^s KSvs einen der sittenreinsten Romane aller Litteraturen geschrieben hat, vermögen aber den Argwohn nicht zu unterdrücken, daß der große Naturalist mit dieser Dichtung seinen verwöhnten Lesern ein Schnippchen habe schlagen wollen. Alcibiades hieb seinem vielbewunderten Hunde den Schwanz ab, um neue Verwunderung zu erregen. Sollte Zola ähnlich gehandelt haben? Wer sich über die kleinsten Bauteile einer Kathedrale, über die Kunst der Stickerei und der Glasmalerei, über den Stoff mittelalterlicher Legenden unter¬ richten will, findet in us Revo eine dankenswerte Quelle. Im übrigen wird Zola mit dieser sentimentalen Erzählung, die, außer den langatmigen Be¬ schreibungen, nichts mehr mit dem Naturalismus gemein hat, manche Enttäu¬ schung erregen, denn wer sich einmal dem Mylittaknltus ergeben hat, von dem erwartet man schlechterdings nicht mehr, daß er als Prophet jungfräulicher Entsagung und himmlischer Glückseligkeit auftreten werde. Anderseits war freilich bei Zola der Schritt von der allegorischen und symbolischen Spielerei, wie sie besonders in Ilg. I'Amts als 1'g.bös Nourst, in I/^ssominoir und Mna. hervor¬ tritt, zur mystischen Verschrobenheit nicht gar weit. Der Naturalismus hat seine Rolle ausgespielt. Mit all seiner Aufge¬ regtheit und Maßlosigkeit ist er — geschichtlich betrachtet — nur der letzte mögliche Rückschlag des materialistischen Geistes gegen die metaphysischen und rhetorischen Verflüchtigungen der französischen Romantik. Wie sich ohne die eklektische Philosophie Victor Cousins schwerlich der Positivismus Auguste Comtes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/518>, abgerufen am 22.07.2024.