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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Aunst,

Am auffallendsten tritt dieser Zug da hervor, wo der Natur der Sache nach
die Tradition, weil sie der Pietät verwandt ist, ihre Stelle hat, in der religiösen
Kunst. Selbst an Stelle des altgewcihten Christustypus versuchen viele durch
eine andre Charakteristik den der Bedeutung der Person Christi entsprechenden
Ausdruck zu gewinnen. Es ist die Abneigung gegen das Konventionelle, nicht
irgend ein Zug des Irreligiösen, wie man so leicht ans den ersten Eindruck
hiu urteilt, was hier zu Grunde liegt. Wenn dennoch die religiöse Kunst nicht
brach liegt, so ist das ein Beweis für die Würdigung der religiösen Kräfte in
unsrer Zeit. Gewiß verrät sich in der Auflehnung gegen das Konventionelle
jene revolutionäre Ader, die wir auf allen Gebieten unsers Volkslebens mehr
oder weniger mächtig Pulsiren fühlen, wenn anch dabei der unschuldigere, unsrer
unruhige" Zeit besonders eigene Zug nach Neuem mitwirkt. Doch offenbart
sich andrerseits darin anch ein energisches Suchen in gesteigerter Selbständigkeit
nach den besten Ausdrucksformen, eine Vorliebe für schärfste Charakterisirung.
und die schon vorhin beobachtete Freude am Individuellen und Unmittelbaren,
Eigenschaften, über die wir uns, doppelt gegenüber der wenig geistiges Leben
verratenden und dieses wenige noch in Schlaf lullenden Macht des Konventio¬
nellen, trotz aller Extravaganzen aufrichtig freuen müssen.

Noch ein besonders erfreulicher Zug der Kunst unsrer Zeit, an welchem,
wie es scheint, nur Frankreich nicht teilnimmt, ist es, daß niederer Sinnenreiz
bei ihr keine Rechnung findet. Es sind nur Künstler zweiten und dritten Rangs,
die ihren Mangel an schöpferischer Kraft und technischer Leistungsfähigkeit durch
die Spekulation darauf auszugleichen suchen. Der Sinn für das Fleisch
als solches findet so wenig Nahrung, wie die wollüstige Freude am Grausamen
oder Gemeinen. Als Verirrungen, gegenüber dem Gesamteindruck befremdend,
ja abstoßend wirkend, werden um so schmerzlicher empfunden werden, je höher
wir die Künstler selbst zu schätzen haben, jene Tnllia, in der uns eine Furie
aus dem ältesten rohesten Rom in brillanter Darstellung entgcgengrinst, und
trotz alles Fliegenden Blätter-Humors in der Darstellung jener Besuch einer
ländlichen Feuerbcschau im Atelier, die dort eine Modell-Venus findet. Das
sind Ausnahmen. Nur die Bildnerei, die überhaupt an Ideenarmut krankt, greift
aus Verzweiflung noch zur badenden Venus oder andern entkleideten Gestalten.
Die Augen unsrer Künstler sind auf andres gerichtet. Wir werden sehen, daß
es das Seelische ist, was sie fesselt, und die Wirklichkeit des täglichen Lebens.
Möchte auch dies ein Symptom sein für die sittliche Höhenlage oder wenigstens
Tendenz der Gegenwart.

Nicht minder charakteristisch ist es, daß unsre Kunst immer mehr davon
zurückkommt, durch das Fremdartige ihres Stoffes Interesse wecken zu wollen.
Es gab in unserm Volk eine Zeit des unklaren, unbefriedigten Sehnens, wo
alles Fremde unserm Sinne in höherm Glanze und vom Duft der Poesie umgössen
erschien. Weil es fremd war, war es ein würdiger Gegenstand der Kunst.


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Aunst,

Am auffallendsten tritt dieser Zug da hervor, wo der Natur der Sache nach
die Tradition, weil sie der Pietät verwandt ist, ihre Stelle hat, in der religiösen
Kunst. Selbst an Stelle des altgewcihten Christustypus versuchen viele durch
eine andre Charakteristik den der Bedeutung der Person Christi entsprechenden
Ausdruck zu gewinnen. Es ist die Abneigung gegen das Konventionelle, nicht
irgend ein Zug des Irreligiösen, wie man so leicht ans den ersten Eindruck
hiu urteilt, was hier zu Grunde liegt. Wenn dennoch die religiöse Kunst nicht
brach liegt, so ist das ein Beweis für die Würdigung der religiösen Kräfte in
unsrer Zeit. Gewiß verrät sich in der Auflehnung gegen das Konventionelle
jene revolutionäre Ader, die wir auf allen Gebieten unsers Volkslebens mehr
oder weniger mächtig Pulsiren fühlen, wenn anch dabei der unschuldigere, unsrer
unruhige« Zeit besonders eigene Zug nach Neuem mitwirkt. Doch offenbart
sich andrerseits darin anch ein energisches Suchen in gesteigerter Selbständigkeit
nach den besten Ausdrucksformen, eine Vorliebe für schärfste Charakterisirung.
und die schon vorhin beobachtete Freude am Individuellen und Unmittelbaren,
Eigenschaften, über die wir uns, doppelt gegenüber der wenig geistiges Leben
verratenden und dieses wenige noch in Schlaf lullenden Macht des Konventio¬
nellen, trotz aller Extravaganzen aufrichtig freuen müssen.

Noch ein besonders erfreulicher Zug der Kunst unsrer Zeit, an welchem,
wie es scheint, nur Frankreich nicht teilnimmt, ist es, daß niederer Sinnenreiz
bei ihr keine Rechnung findet. Es sind nur Künstler zweiten und dritten Rangs,
die ihren Mangel an schöpferischer Kraft und technischer Leistungsfähigkeit durch
die Spekulation darauf auszugleichen suchen. Der Sinn für das Fleisch
als solches findet so wenig Nahrung, wie die wollüstige Freude am Grausamen
oder Gemeinen. Als Verirrungen, gegenüber dem Gesamteindruck befremdend,
ja abstoßend wirkend, werden um so schmerzlicher empfunden werden, je höher
wir die Künstler selbst zu schätzen haben, jene Tnllia, in der uns eine Furie
aus dem ältesten rohesten Rom in brillanter Darstellung entgcgengrinst, und
trotz alles Fliegenden Blätter-Humors in der Darstellung jener Besuch einer
ländlichen Feuerbcschau im Atelier, die dort eine Modell-Venus findet. Das
sind Ausnahmen. Nur die Bildnerei, die überhaupt an Ideenarmut krankt, greift
aus Verzweiflung noch zur badenden Venus oder andern entkleideten Gestalten.
Die Augen unsrer Künstler sind auf andres gerichtet. Wir werden sehen, daß
es das Seelische ist, was sie fesselt, und die Wirklichkeit des täglichen Lebens.
Möchte auch dies ein Symptom sein für die sittliche Höhenlage oder wenigstens
Tendenz der Gegenwart.

Nicht minder charakteristisch ist es, daß unsre Kunst immer mehr davon
zurückkommt, durch das Fremdartige ihres Stoffes Interesse wecken zu wollen.
Es gab in unserm Volk eine Zeit des unklaren, unbefriedigten Sehnens, wo
alles Fremde unserm Sinne in höherm Glanze und vom Duft der Poesie umgössen
erschien. Weil es fremd war, war es ein würdiger Gegenstand der Kunst.


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[0472] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Aunst, Am auffallendsten tritt dieser Zug da hervor, wo der Natur der Sache nach die Tradition, weil sie der Pietät verwandt ist, ihre Stelle hat, in der religiösen Kunst. Selbst an Stelle des altgewcihten Christustypus versuchen viele durch eine andre Charakteristik den der Bedeutung der Person Christi entsprechenden Ausdruck zu gewinnen. Es ist die Abneigung gegen das Konventionelle, nicht irgend ein Zug des Irreligiösen, wie man so leicht ans den ersten Eindruck hiu urteilt, was hier zu Grunde liegt. Wenn dennoch die religiöse Kunst nicht brach liegt, so ist das ein Beweis für die Würdigung der religiösen Kräfte in unsrer Zeit. Gewiß verrät sich in der Auflehnung gegen das Konventionelle jene revolutionäre Ader, die wir auf allen Gebieten unsers Volkslebens mehr oder weniger mächtig Pulsiren fühlen, wenn anch dabei der unschuldigere, unsrer unruhige« Zeit besonders eigene Zug nach Neuem mitwirkt. Doch offenbart sich andrerseits darin anch ein energisches Suchen in gesteigerter Selbständigkeit nach den besten Ausdrucksformen, eine Vorliebe für schärfste Charakterisirung. und die schon vorhin beobachtete Freude am Individuellen und Unmittelbaren, Eigenschaften, über die wir uns, doppelt gegenüber der wenig geistiges Leben verratenden und dieses wenige noch in Schlaf lullenden Macht des Konventio¬ nellen, trotz aller Extravaganzen aufrichtig freuen müssen. Noch ein besonders erfreulicher Zug der Kunst unsrer Zeit, an welchem, wie es scheint, nur Frankreich nicht teilnimmt, ist es, daß niederer Sinnenreiz bei ihr keine Rechnung findet. Es sind nur Künstler zweiten und dritten Rangs, die ihren Mangel an schöpferischer Kraft und technischer Leistungsfähigkeit durch die Spekulation darauf auszugleichen suchen. Der Sinn für das Fleisch als solches findet so wenig Nahrung, wie die wollüstige Freude am Grausamen oder Gemeinen. Als Verirrungen, gegenüber dem Gesamteindruck befremdend, ja abstoßend wirkend, werden um so schmerzlicher empfunden werden, je höher wir die Künstler selbst zu schätzen haben, jene Tnllia, in der uns eine Furie aus dem ältesten rohesten Rom in brillanter Darstellung entgcgengrinst, und trotz alles Fliegenden Blätter-Humors in der Darstellung jener Besuch einer ländlichen Feuerbcschau im Atelier, die dort eine Modell-Venus findet. Das sind Ausnahmen. Nur die Bildnerei, die überhaupt an Ideenarmut krankt, greift aus Verzweiflung noch zur badenden Venus oder andern entkleideten Gestalten. Die Augen unsrer Künstler sind auf andres gerichtet. Wir werden sehen, daß es das Seelische ist, was sie fesselt, und die Wirklichkeit des täglichen Lebens. Möchte auch dies ein Symptom sein für die sittliche Höhenlage oder wenigstens Tendenz der Gegenwart. Nicht minder charakteristisch ist es, daß unsre Kunst immer mehr davon zurückkommt, durch das Fremdartige ihres Stoffes Interesse wecken zu wollen. Es gab in unserm Volk eine Zeit des unklaren, unbefriedigten Sehnens, wo alles Fremde unserm Sinne in höherm Glanze und vom Duft der Poesie umgössen erschien. Weil es fremd war, war es ein würdiger Gegenstand der Kunst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/472>, abgerufen am 22.07.2024.