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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Unsre Zeit im Spiegel ihrer Annst.

die Wirklichkeit, wie er unser Kunstschaffen bestimmt, der in erster Linie auch
unsre Kunstfreunde an den Kunstschöpfungen Gefallen haben läßt. Dann dür¬
fen wir aber auch die Richtigkeit der weitern Folgerung voraussetzen, daß sich
überhaupt in der Kunst unsre Zeit ihr eignes Bild schafft.

So spiegelt sich denn schon in dem eben dargelegten Realismus unsrer
Kunst neben der Erschlvssenheit unsrer Zeit für alles Wirkliche ihr dadurch ge¬
steigerter Sinn für das Eigenartige, Individuelle der Erscheinungen, ihre kräf¬
tige Freude am wirklichen Leben, die seine Spuren nirgends verwischen will,
anch da nicht, wo sie nur von Herbigkeit erzählen, fondern sie im Gegenteil
aufsucht. Dürfen wir im erstem einen erfreulichen Gegenzug gegen die nivel-
lirende Macht der Mode und des öffentlichen Lebens überhaupt erkennen, unter
der in allen Gebieten das Einzcldascin in seiner Besonderheit zu verschwimmen
droht, so ist das zweite ein Beweis von gesunder Kraft, die, statt des Lebens
Härten sich zu verbergen, ihnen ins Auge schaut und ihre Berechtigung zu be¬
greifen sucht. Der Respekt vor dem Thatsächlichen ist immer dem Wahn einer
rein ästhetisch gerichteten Bildung vorzuziehen, man müsse erst die Wirklichkeit
korrigiren uach einem abgeblaßten Traumbild, ehe sie der Nachahmung, der
Darstellung, des Interesses wert sei. Sodann werden wir sehen, daß das
Charakteristische sich vertieft, indem darin der Ausdruck einer seelischen Stimmung
erkannt oder in der Darstellung der Natur das Charakteristische zum Ausdruck
einer solchen benutzt wird. Auf der andern Seite ist nicht zu verkennen, daß
bei solcher Gebundenheit an das Wirkliche jene Geisteskraft in Gefahr steht,
brach gelegt zu werden und zu verkümmern, die im Einzelnen und über dem¬
selben die Idee der Erscheinung entdeckt und sich berufen weiß, dieser Idee das
Einzelne, das ihr gegenüber verkümmert oder einseitig oder karikirt erscheint,
entgcgcnzubilden, eine Thätigkeit, die das Leben ebenso reich und reizvoll, ja
lohnender und erhebender macht, als die feinste Beobachtung all der zufälligen
Abnormitäten in den Einzelerscheinungen. Der berufenste Wegführer und be¬
geisterte Prophet bei dieser Geistesthütigkeit war zu allen Zeiten eben die Kunst.
Läßt sie uns hier im Stich, so ist das zu beklagen. Und doch spiegelt sich in
dieser Mißachtung der Idee des Schönen zuletzt nur die geringe Schätzung, in
der in unsern Tagen gegenüber der realen Wirklichkeit jede Idee, jedes Produkt
des abstrahireuden und spekulircnden Menschengeistes steht.

Das "Schöne" wird vielleicht von seinen gegenwärtigen Verächtern als
das nur durch die Tradition, durch den Geschmack, der mir Gewohnheit sei,
geadelte, als eine Schwester des Konventionellen augesehen. Jedenfalls ist es
nur natürlich, daß eine Kunst, die gegen das Schöne gleichgiltig ist, gegen
das Traditionelle oder gar Konventionelle geradezu eine Abneigung zeigt. Unsre
Kunst sucht sich denn auch neue Formen in allen Gebieten. Wo sie solche
nicht zu finden vermag, wie in der mythologischen und allegorischen Kunst, da
trügt dies dazu bei, ihr Interesse abzuschwächen; das Gebiet wird nicht gepflegt.


Unsre Zeit im Spiegel ihrer Annst.

die Wirklichkeit, wie er unser Kunstschaffen bestimmt, der in erster Linie auch
unsre Kunstfreunde an den Kunstschöpfungen Gefallen haben läßt. Dann dür¬
fen wir aber auch die Richtigkeit der weitern Folgerung voraussetzen, daß sich
überhaupt in der Kunst unsre Zeit ihr eignes Bild schafft.

So spiegelt sich denn schon in dem eben dargelegten Realismus unsrer
Kunst neben der Erschlvssenheit unsrer Zeit für alles Wirkliche ihr dadurch ge¬
steigerter Sinn für das Eigenartige, Individuelle der Erscheinungen, ihre kräf¬
tige Freude am wirklichen Leben, die seine Spuren nirgends verwischen will,
anch da nicht, wo sie nur von Herbigkeit erzählen, fondern sie im Gegenteil
aufsucht. Dürfen wir im erstem einen erfreulichen Gegenzug gegen die nivel-
lirende Macht der Mode und des öffentlichen Lebens überhaupt erkennen, unter
der in allen Gebieten das Einzcldascin in seiner Besonderheit zu verschwimmen
droht, so ist das zweite ein Beweis von gesunder Kraft, die, statt des Lebens
Härten sich zu verbergen, ihnen ins Auge schaut und ihre Berechtigung zu be¬
greifen sucht. Der Respekt vor dem Thatsächlichen ist immer dem Wahn einer
rein ästhetisch gerichteten Bildung vorzuziehen, man müsse erst die Wirklichkeit
korrigiren uach einem abgeblaßten Traumbild, ehe sie der Nachahmung, der
Darstellung, des Interesses wert sei. Sodann werden wir sehen, daß das
Charakteristische sich vertieft, indem darin der Ausdruck einer seelischen Stimmung
erkannt oder in der Darstellung der Natur das Charakteristische zum Ausdruck
einer solchen benutzt wird. Auf der andern Seite ist nicht zu verkennen, daß
bei solcher Gebundenheit an das Wirkliche jene Geisteskraft in Gefahr steht,
brach gelegt zu werden und zu verkümmern, die im Einzelnen und über dem¬
selben die Idee der Erscheinung entdeckt und sich berufen weiß, dieser Idee das
Einzelne, das ihr gegenüber verkümmert oder einseitig oder karikirt erscheint,
entgcgcnzubilden, eine Thätigkeit, die das Leben ebenso reich und reizvoll, ja
lohnender und erhebender macht, als die feinste Beobachtung all der zufälligen
Abnormitäten in den Einzelerscheinungen. Der berufenste Wegführer und be¬
geisterte Prophet bei dieser Geistesthütigkeit war zu allen Zeiten eben die Kunst.
Läßt sie uns hier im Stich, so ist das zu beklagen. Und doch spiegelt sich in
dieser Mißachtung der Idee des Schönen zuletzt nur die geringe Schätzung, in
der in unsern Tagen gegenüber der realen Wirklichkeit jede Idee, jedes Produkt
des abstrahireuden und spekulircnden Menschengeistes steht.

Das „Schöne" wird vielleicht von seinen gegenwärtigen Verächtern als
das nur durch die Tradition, durch den Geschmack, der mir Gewohnheit sei,
geadelte, als eine Schwester des Konventionellen augesehen. Jedenfalls ist es
nur natürlich, daß eine Kunst, die gegen das Schöne gleichgiltig ist, gegen
das Traditionelle oder gar Konventionelle geradezu eine Abneigung zeigt. Unsre
Kunst sucht sich denn auch neue Formen in allen Gebieten. Wo sie solche
nicht zu finden vermag, wie in der mythologischen und allegorischen Kunst, da
trügt dies dazu bei, ihr Interesse abzuschwächen; das Gebiet wird nicht gepflegt.


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[0471] Unsre Zeit im Spiegel ihrer Annst. die Wirklichkeit, wie er unser Kunstschaffen bestimmt, der in erster Linie auch unsre Kunstfreunde an den Kunstschöpfungen Gefallen haben läßt. Dann dür¬ fen wir aber auch die Richtigkeit der weitern Folgerung voraussetzen, daß sich überhaupt in der Kunst unsre Zeit ihr eignes Bild schafft. So spiegelt sich denn schon in dem eben dargelegten Realismus unsrer Kunst neben der Erschlvssenheit unsrer Zeit für alles Wirkliche ihr dadurch ge¬ steigerter Sinn für das Eigenartige, Individuelle der Erscheinungen, ihre kräf¬ tige Freude am wirklichen Leben, die seine Spuren nirgends verwischen will, anch da nicht, wo sie nur von Herbigkeit erzählen, fondern sie im Gegenteil aufsucht. Dürfen wir im erstem einen erfreulichen Gegenzug gegen die nivel- lirende Macht der Mode und des öffentlichen Lebens überhaupt erkennen, unter der in allen Gebieten das Einzcldascin in seiner Besonderheit zu verschwimmen droht, so ist das zweite ein Beweis von gesunder Kraft, die, statt des Lebens Härten sich zu verbergen, ihnen ins Auge schaut und ihre Berechtigung zu be¬ greifen sucht. Der Respekt vor dem Thatsächlichen ist immer dem Wahn einer rein ästhetisch gerichteten Bildung vorzuziehen, man müsse erst die Wirklichkeit korrigiren uach einem abgeblaßten Traumbild, ehe sie der Nachahmung, der Darstellung, des Interesses wert sei. Sodann werden wir sehen, daß das Charakteristische sich vertieft, indem darin der Ausdruck einer seelischen Stimmung erkannt oder in der Darstellung der Natur das Charakteristische zum Ausdruck einer solchen benutzt wird. Auf der andern Seite ist nicht zu verkennen, daß bei solcher Gebundenheit an das Wirkliche jene Geisteskraft in Gefahr steht, brach gelegt zu werden und zu verkümmern, die im Einzelnen und über dem¬ selben die Idee der Erscheinung entdeckt und sich berufen weiß, dieser Idee das Einzelne, das ihr gegenüber verkümmert oder einseitig oder karikirt erscheint, entgcgcnzubilden, eine Thätigkeit, die das Leben ebenso reich und reizvoll, ja lohnender und erhebender macht, als die feinste Beobachtung all der zufälligen Abnormitäten in den Einzelerscheinungen. Der berufenste Wegführer und be¬ geisterte Prophet bei dieser Geistesthütigkeit war zu allen Zeiten eben die Kunst. Läßt sie uns hier im Stich, so ist das zu beklagen. Und doch spiegelt sich in dieser Mißachtung der Idee des Schönen zuletzt nur die geringe Schätzung, in der in unsern Tagen gegenüber der realen Wirklichkeit jede Idee, jedes Produkt des abstrahireuden und spekulircnden Menschengeistes steht. Das „Schöne" wird vielleicht von seinen gegenwärtigen Verächtern als das nur durch die Tradition, durch den Geschmack, der mir Gewohnheit sei, geadelte, als eine Schwester des Konventionellen augesehen. Jedenfalls ist es nur natürlich, daß eine Kunst, die gegen das Schöne gleichgiltig ist, gegen das Traditionelle oder gar Konventionelle geradezu eine Abneigung zeigt. Unsre Kunst sucht sich denn auch neue Formen in allen Gebieten. Wo sie solche nicht zu finden vermag, wie in der mythologischen und allegorischen Kunst, da trügt dies dazu bei, ihr Interesse abzuschwächen; das Gebiet wird nicht gepflegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/471>, abgerufen am 22.07.2024.