Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Friedrich vischer.

genauer zu nehmen, als in der ersten Ausgabe: ein feiner, heikler Punkt, ein
Eimer voll Wasser, der behutsam getragen sein will, damit man nichts ver¬
schütte. Im Schönen soll kein Stoffinteresse walten und doch kein bloßes Form-
interesse: man soll warm sein für den Inhalt und doch ohne Tendenz, Be¬
gehren oder Verabscheuen rein harmonisch gestimmt -- hier liegt der Has
im Pfeffer." Am 8. Juni 1864 klagt er: "Jetzt heißes: arbeiten . .. Wenn
ich nur nicht so verdammt ungern an die Umarbeitung der Ästhetik ginge! Ich
habe halt nicht Licht genug, ich weiß halt nicht recht: was? Was ist das
Wahre?" Ein Jahr später, am ö. August 1865, ist er noch immer nicht vor¬
wärts gerückt. "Ich habe in Wahrheit nie eine Arbeit so ungern gemacht. Ich
drehe mich -- und gar nicht erst seitdem ich diesen Aufsatz ("Kritik meiner
Aesthetik" ?) schreibe -- mit einem wahren Ächzen der Denkmühlrüder um einen
Punkt, in welchem ich nicht zu voller Klarheit gelange. Mein Buch schrieb ich
mit Selbstvertrauen, bald nachher kam es ins Wackeln und wackelt noch. Ich
muß aber schreiben, die Kerle sind wie Spitzhunde hinter mir her, ich
muß einmal ausschlagen. Weiß ich nichts rechtes, so muß ich mindestens
zeigen, daß meine Gegner nichts besseres wissen." Aber noch sechs Jahre
später ist er nicht fertig, denn am 21. April 1871 schreibt er: "Daneben lese
ich Ästhetik, und in meinem Manuskript, etwa dem 10., genügt mir wieder
nichts; das Schöne ist ein furchtbar schwerer Begriff; er baut sich aus einer
ganzen Reihe von Begriffen zusammen, und ob man ihn zur Klarheit bringt,
dies hängt namentlich davon ab, daß diese Reihe in die rechte Ordnung ge¬
stellt wird. Hier aber gerate ich jedesmal in ein logisches Chaos, daß mir
schwindelt; setze ich einen dieser integrirenden Begriffe an diese Stelle, so bricht
mir eine Naht an jener u. s. w. Dabei steht das Buch, die neue Ausgabe, wie
ein Gespenst vor mir; ich soll es machen, und mir fehlt die ganze Naivität
des Vertrauens, worin ich die erste Ausgabe schrieb; ich traue mir nicht zu,
es recht zu wissen -- ohne alle falsche Bescheidenheit und falschen Respekt vor
den Herren Ästhetikern, die es besser wissen wollen." Es liegt ein Stück Ge¬
lehrtentragik in diesen Briefsteller, die keines Kommentars bedarf.

Zum Schluß möchten wir noch auf eine andre, mehr heitere Thatsache
hinweisen, welche durch diese Vischerschen Briefe und Güntherts Mittheilungen
anßer Zweifel gestellt wird. Es ist bekannt, daß Vischer lange nicht zugeben
wollte, daß er sich selbst in dem Helden seiner "Reisebekanntschaft," wie er den
Roman "Auch Einer" nannte, ziemlich naturgetreu geschildert habe. Aber für
die Kenner dieses köstlichen Buches werden schon die oben erwähnten Leiden
Wischers unter Katarrhen und Rheumatismen Beziehungen zwischen Dichter
und Helden hergestellt haben. Auch die demokratische Gesinnung, der Haß
gegen alle Ordensverleihungen, die Flucht vor dem Verkehr mit Persönlich¬
keiten des Hofes ist echt Vischerisch, und Günthert weist jedesmal heiter auf
"Auch Einer" hin. Umgekehrt klingt folgende Schilderung Güntherts von dem


Friedrich vischer.

genauer zu nehmen, als in der ersten Ausgabe: ein feiner, heikler Punkt, ein
Eimer voll Wasser, der behutsam getragen sein will, damit man nichts ver¬
schütte. Im Schönen soll kein Stoffinteresse walten und doch kein bloßes Form-
interesse: man soll warm sein für den Inhalt und doch ohne Tendenz, Be¬
gehren oder Verabscheuen rein harmonisch gestimmt — hier liegt der Has
im Pfeffer." Am 8. Juni 1864 klagt er: „Jetzt heißes: arbeiten . .. Wenn
ich nur nicht so verdammt ungern an die Umarbeitung der Ästhetik ginge! Ich
habe halt nicht Licht genug, ich weiß halt nicht recht: was? Was ist das
Wahre?" Ein Jahr später, am ö. August 1865, ist er noch immer nicht vor¬
wärts gerückt. „Ich habe in Wahrheit nie eine Arbeit so ungern gemacht. Ich
drehe mich — und gar nicht erst seitdem ich diesen Aufsatz („Kritik meiner
Aesthetik" ?) schreibe — mit einem wahren Ächzen der Denkmühlrüder um einen
Punkt, in welchem ich nicht zu voller Klarheit gelange. Mein Buch schrieb ich
mit Selbstvertrauen, bald nachher kam es ins Wackeln und wackelt noch. Ich
muß aber schreiben, die Kerle sind wie Spitzhunde hinter mir her, ich
muß einmal ausschlagen. Weiß ich nichts rechtes, so muß ich mindestens
zeigen, daß meine Gegner nichts besseres wissen." Aber noch sechs Jahre
später ist er nicht fertig, denn am 21. April 1871 schreibt er: „Daneben lese
ich Ästhetik, und in meinem Manuskript, etwa dem 10., genügt mir wieder
nichts; das Schöne ist ein furchtbar schwerer Begriff; er baut sich aus einer
ganzen Reihe von Begriffen zusammen, und ob man ihn zur Klarheit bringt,
dies hängt namentlich davon ab, daß diese Reihe in die rechte Ordnung ge¬
stellt wird. Hier aber gerate ich jedesmal in ein logisches Chaos, daß mir
schwindelt; setze ich einen dieser integrirenden Begriffe an diese Stelle, so bricht
mir eine Naht an jener u. s. w. Dabei steht das Buch, die neue Ausgabe, wie
ein Gespenst vor mir; ich soll es machen, und mir fehlt die ganze Naivität
des Vertrauens, worin ich die erste Ausgabe schrieb; ich traue mir nicht zu,
es recht zu wissen — ohne alle falsche Bescheidenheit und falschen Respekt vor
den Herren Ästhetikern, die es besser wissen wollen." Es liegt ein Stück Ge¬
lehrtentragik in diesen Briefsteller, die keines Kommentars bedarf.

Zum Schluß möchten wir noch auf eine andre, mehr heitere Thatsache
hinweisen, welche durch diese Vischerschen Briefe und Güntherts Mittheilungen
anßer Zweifel gestellt wird. Es ist bekannt, daß Vischer lange nicht zugeben
wollte, daß er sich selbst in dem Helden seiner „Reisebekanntschaft," wie er den
Roman „Auch Einer" nannte, ziemlich naturgetreu geschildert habe. Aber für
die Kenner dieses köstlichen Buches werden schon die oben erwähnten Leiden
Wischers unter Katarrhen und Rheumatismen Beziehungen zwischen Dichter
und Helden hergestellt haben. Auch die demokratische Gesinnung, der Haß
gegen alle Ordensverleihungen, die Flucht vor dem Verkehr mit Persönlich¬
keiten des Hofes ist echt Vischerisch, und Günthert weist jedesmal heiter auf
„Auch Einer" hin. Umgekehrt klingt folgende Schilderung Güntherts von dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/203862"/>
          <fw type="header" place="top"> Friedrich vischer.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1091" prev="#ID_1090"> genauer zu nehmen, als in der ersten Ausgabe: ein feiner, heikler Punkt, ein<lb/>
Eimer voll Wasser, der behutsam getragen sein will, damit man nichts ver¬<lb/>
schütte. Im Schönen soll kein Stoffinteresse walten und doch kein bloßes Form-<lb/>
interesse: man soll warm sein für den Inhalt und doch ohne Tendenz, Be¬<lb/>
gehren oder Verabscheuen rein harmonisch gestimmt &#x2014; hier liegt der Has<lb/>
im Pfeffer." Am 8. Juni 1864 klagt er: &#x201E;Jetzt heißes: arbeiten . .. Wenn<lb/>
ich nur nicht so verdammt ungern an die Umarbeitung der Ästhetik ginge! Ich<lb/>
habe halt nicht Licht genug, ich weiß halt nicht recht: was? Was ist das<lb/>
Wahre?" Ein Jahr später, am ö. August 1865, ist er noch immer nicht vor¬<lb/>
wärts gerückt. &#x201E;Ich habe in Wahrheit nie eine Arbeit so ungern gemacht. Ich<lb/>
drehe mich &#x2014; und gar nicht erst seitdem ich diesen Aufsatz (&#x201E;Kritik meiner<lb/>
Aesthetik" ?) schreibe &#x2014; mit einem wahren Ächzen der Denkmühlrüder um einen<lb/>
Punkt, in welchem ich nicht zu voller Klarheit gelange. Mein Buch schrieb ich<lb/>
mit Selbstvertrauen, bald nachher kam es ins Wackeln und wackelt noch. Ich<lb/>
muß aber schreiben, die Kerle sind wie Spitzhunde hinter mir her, ich<lb/>
muß einmal ausschlagen. Weiß ich nichts rechtes, so muß ich mindestens<lb/>
zeigen, daß meine Gegner nichts besseres wissen." Aber noch sechs Jahre<lb/>
später ist er nicht fertig, denn am 21. April 1871 schreibt er: &#x201E;Daneben lese<lb/>
ich Ästhetik, und in meinem Manuskript, etwa dem 10., genügt mir wieder<lb/>
nichts; das Schöne ist ein furchtbar schwerer Begriff; er baut sich aus einer<lb/>
ganzen Reihe von Begriffen zusammen, und ob man ihn zur Klarheit bringt,<lb/>
dies hängt namentlich davon ab, daß diese Reihe in die rechte Ordnung ge¬<lb/>
stellt wird. Hier aber gerate ich jedesmal in ein logisches Chaos, daß mir<lb/>
schwindelt; setze ich einen dieser integrirenden Begriffe an diese Stelle, so bricht<lb/>
mir eine Naht an jener u. s. w. Dabei steht das Buch, die neue Ausgabe, wie<lb/>
ein Gespenst vor mir; ich soll es machen, und mir fehlt die ganze Naivität<lb/>
des Vertrauens, worin ich die erste Ausgabe schrieb; ich traue mir nicht zu,<lb/>
es recht zu wissen &#x2014; ohne alle falsche Bescheidenheit und falschen Respekt vor<lb/>
den Herren Ästhetikern, die es besser wissen wollen." Es liegt ein Stück Ge¬<lb/>
lehrtentragik in diesen Briefsteller, die keines Kommentars bedarf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1092" next="#ID_1093"> Zum Schluß möchten wir noch auf eine andre, mehr heitere Thatsache<lb/>
hinweisen, welche durch diese Vischerschen Briefe und Güntherts Mittheilungen<lb/>
anßer Zweifel gestellt wird. Es ist bekannt, daß Vischer lange nicht zugeben<lb/>
wollte, daß er sich selbst in dem Helden seiner &#x201E;Reisebekanntschaft," wie er den<lb/>
Roman &#x201E;Auch Einer" nannte, ziemlich naturgetreu geschildert habe. Aber für<lb/>
die Kenner dieses köstlichen Buches werden schon die oben erwähnten Leiden<lb/>
Wischers unter Katarrhen und Rheumatismen Beziehungen zwischen Dichter<lb/>
und Helden hergestellt haben. Auch die demokratische Gesinnung, der Haß<lb/>
gegen alle Ordensverleihungen, die Flucht vor dem Verkehr mit Persönlich¬<lb/>
keiten des Hofes ist echt Vischerisch, und Günthert weist jedesmal heiter auf<lb/>
&#x201E;Auch Einer" hin. Umgekehrt klingt folgende Schilderung Güntherts von dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0427] Friedrich vischer. genauer zu nehmen, als in der ersten Ausgabe: ein feiner, heikler Punkt, ein Eimer voll Wasser, der behutsam getragen sein will, damit man nichts ver¬ schütte. Im Schönen soll kein Stoffinteresse walten und doch kein bloßes Form- interesse: man soll warm sein für den Inhalt und doch ohne Tendenz, Be¬ gehren oder Verabscheuen rein harmonisch gestimmt — hier liegt der Has im Pfeffer." Am 8. Juni 1864 klagt er: „Jetzt heißes: arbeiten . .. Wenn ich nur nicht so verdammt ungern an die Umarbeitung der Ästhetik ginge! Ich habe halt nicht Licht genug, ich weiß halt nicht recht: was? Was ist das Wahre?" Ein Jahr später, am ö. August 1865, ist er noch immer nicht vor¬ wärts gerückt. „Ich habe in Wahrheit nie eine Arbeit so ungern gemacht. Ich drehe mich — und gar nicht erst seitdem ich diesen Aufsatz („Kritik meiner Aesthetik" ?) schreibe — mit einem wahren Ächzen der Denkmühlrüder um einen Punkt, in welchem ich nicht zu voller Klarheit gelange. Mein Buch schrieb ich mit Selbstvertrauen, bald nachher kam es ins Wackeln und wackelt noch. Ich muß aber schreiben, die Kerle sind wie Spitzhunde hinter mir her, ich muß einmal ausschlagen. Weiß ich nichts rechtes, so muß ich mindestens zeigen, daß meine Gegner nichts besseres wissen." Aber noch sechs Jahre später ist er nicht fertig, denn am 21. April 1871 schreibt er: „Daneben lese ich Ästhetik, und in meinem Manuskript, etwa dem 10., genügt mir wieder nichts; das Schöne ist ein furchtbar schwerer Begriff; er baut sich aus einer ganzen Reihe von Begriffen zusammen, und ob man ihn zur Klarheit bringt, dies hängt namentlich davon ab, daß diese Reihe in die rechte Ordnung ge¬ stellt wird. Hier aber gerate ich jedesmal in ein logisches Chaos, daß mir schwindelt; setze ich einen dieser integrirenden Begriffe an diese Stelle, so bricht mir eine Naht an jener u. s. w. Dabei steht das Buch, die neue Ausgabe, wie ein Gespenst vor mir; ich soll es machen, und mir fehlt die ganze Naivität des Vertrauens, worin ich die erste Ausgabe schrieb; ich traue mir nicht zu, es recht zu wissen — ohne alle falsche Bescheidenheit und falschen Respekt vor den Herren Ästhetikern, die es besser wissen wollen." Es liegt ein Stück Ge¬ lehrtentragik in diesen Briefsteller, die keines Kommentars bedarf. Zum Schluß möchten wir noch auf eine andre, mehr heitere Thatsache hinweisen, welche durch diese Vischerschen Briefe und Güntherts Mittheilungen anßer Zweifel gestellt wird. Es ist bekannt, daß Vischer lange nicht zugeben wollte, daß er sich selbst in dem Helden seiner „Reisebekanntschaft," wie er den Roman „Auch Einer" nannte, ziemlich naturgetreu geschildert habe. Aber für die Kenner dieses köstlichen Buches werden schon die oben erwähnten Leiden Wischers unter Katarrhen und Rheumatismen Beziehungen zwischen Dichter und Helden hergestellt haben. Auch die demokratische Gesinnung, der Haß gegen alle Ordensverleihungen, die Flucht vor dem Verkehr mit Persönlich¬ keiten des Hofes ist echt Vischerisch, und Günthert weist jedesmal heiter auf „Auch Einer" hin. Umgekehrt klingt folgende Schilderung Güntherts von dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/427
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/427>, abgerufen am 30.06.2024.