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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich Vischer.

offenes, satirisch scharfes Auge für die Kleinigkeiten des Alltagslebens, für das
"untere Stockwerk": er hechelte die geschmacklosen Frauenkleidermoden vom
Reifrock bis zum Pariser Hinterpolster grobianisch durch; er schrieb gegen die
Bierpantscherei, wenn auch nicht aus derselben rein sittlichen Entrüstung wie
Jhering gegen den Trinkgelderunfug. Kurz und gut: Friedrich Bischer war
uicht bloß ein systematischer Philosoph, nicht bloß Ästhetiker und Literar¬
historiker, sondern einer der glänzendsten Schriftsteller Deutschlands im gegen¬
wärtigen Jahrhundert. Sein mächtiges Naturell war nicht allein für das enge
Dasein des Stubengelehrten geschaffen, sein Sinn war für die ganze Mannig¬
faltigkeit deutschen Lebens empfänglich und seine Leidenschaft ließ ihn nicht
ruhen, er mußte überall, wo er sich mitzureden berufen fühlte, sein Wort hören
lassen. Und wie schön, wie reich, von welcher sinnlichen Kraft und Bildung
war sein Wort! Wir zählen Wischers Prosa wie die Fcillmerayers, Hebbels,
Schopenhauers zu der schönsten und markigsten der deutschen Sprache. Von
all den Originalschriftstellern war er aber der beweglichste, der gesündeste und
zweifellos auch der liebenswürdigste Mensch.

Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes, der in seinem Geistesgaugc
vorbildlich alle wissenschaftlichen und politischen Wandlungen der Nation seiner
Zeit miterlebte, ist daher von allgemeinem geschichtlichen Werte. Noch mangelt
es an einer Biographie Wischers; sein Sohn, der Kunsthistoriker Robert Bischer,
soll sich mit der Abfassung einer solchen und mit der Ordnung des litterarischen
Nachlasses des Vaters beschäftigen. Inzwischen hat man Ursache, jeden Beitrag
zur Kenntnis des Lebens und Charakters des großen Schriftstellers mit Dank
hinzunehmen. Viel des Neuen können uns allerdings nachgelassene Briefe und
Schriften eines Mannes wie Bischer nicht bieten. Wenn Uhland während
seines ganzen Lebens der größern Öffentlichkeit nur als Lyriker und Politiker
bekannt war, und uns erst sein Nachlaß mit seinen klassischen Studien über
die ältere deutsche Litteratur und über Volkspoesie bekannt machte, so war
sein langjähriger Freund Bischer minder verschlossen. Schon die ununter¬
brochene akademische Lehrthätigkeit brachte vielen Wischers Persönlichkeit nahe;
neben seinen Forschungen liefen stets journalistische, wie man weiß, häufig Auf¬
sehen erregende Arbeiten her, und in seinen Schriften war er so individuell,
so offenherzig, daß nichts wesentliches von seinen Gesinnungen, Neigungen und
Abneigungen verborgen geblieben ist. Hat er es doch kaum verbergen können,
daß er in die Schrullen seines "Auch Einer" ein gutes Teil eigner, humo¬
ristisch angeschauter Schwächen hineingedichtet hat. Immerhin aber erscheint
auch der Subjektivste und offenherzigste der Schriftsteller vor der Öffentlichkeit
mit einigem Zwange, im Svnutagskleide, akademisch vornehm bemüht, recht un¬
persönlich zu scheinen. Im Hausrock hingegen, ganz ungebunden von öffent¬
lichen Rücksichten zeigen ihn seine Privatbriefe, die er an die Familie und
an Freunde gerichtet hat. Was für ein Schatz ist uns Lessings Briefwechsel!


Grcnzbotc" IV. 1383. 52
Friedrich Vischer.

offenes, satirisch scharfes Auge für die Kleinigkeiten des Alltagslebens, für das
„untere Stockwerk": er hechelte die geschmacklosen Frauenkleidermoden vom
Reifrock bis zum Pariser Hinterpolster grobianisch durch; er schrieb gegen die
Bierpantscherei, wenn auch nicht aus derselben rein sittlichen Entrüstung wie
Jhering gegen den Trinkgelderunfug. Kurz und gut: Friedrich Bischer war
uicht bloß ein systematischer Philosoph, nicht bloß Ästhetiker und Literar¬
historiker, sondern einer der glänzendsten Schriftsteller Deutschlands im gegen¬
wärtigen Jahrhundert. Sein mächtiges Naturell war nicht allein für das enge
Dasein des Stubengelehrten geschaffen, sein Sinn war für die ganze Mannig¬
faltigkeit deutschen Lebens empfänglich und seine Leidenschaft ließ ihn nicht
ruhen, er mußte überall, wo er sich mitzureden berufen fühlte, sein Wort hören
lassen. Und wie schön, wie reich, von welcher sinnlichen Kraft und Bildung
war sein Wort! Wir zählen Wischers Prosa wie die Fcillmerayers, Hebbels,
Schopenhauers zu der schönsten und markigsten der deutschen Sprache. Von
all den Originalschriftstellern war er aber der beweglichste, der gesündeste und
zweifellos auch der liebenswürdigste Mensch.

Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes, der in seinem Geistesgaugc
vorbildlich alle wissenschaftlichen und politischen Wandlungen der Nation seiner
Zeit miterlebte, ist daher von allgemeinem geschichtlichen Werte. Noch mangelt
es an einer Biographie Wischers; sein Sohn, der Kunsthistoriker Robert Bischer,
soll sich mit der Abfassung einer solchen und mit der Ordnung des litterarischen
Nachlasses des Vaters beschäftigen. Inzwischen hat man Ursache, jeden Beitrag
zur Kenntnis des Lebens und Charakters des großen Schriftstellers mit Dank
hinzunehmen. Viel des Neuen können uns allerdings nachgelassene Briefe und
Schriften eines Mannes wie Bischer nicht bieten. Wenn Uhland während
seines ganzen Lebens der größern Öffentlichkeit nur als Lyriker und Politiker
bekannt war, und uns erst sein Nachlaß mit seinen klassischen Studien über
die ältere deutsche Litteratur und über Volkspoesie bekannt machte, so war
sein langjähriger Freund Bischer minder verschlossen. Schon die ununter¬
brochene akademische Lehrthätigkeit brachte vielen Wischers Persönlichkeit nahe;
neben seinen Forschungen liefen stets journalistische, wie man weiß, häufig Auf¬
sehen erregende Arbeiten her, und in seinen Schriften war er so individuell,
so offenherzig, daß nichts wesentliches von seinen Gesinnungen, Neigungen und
Abneigungen verborgen geblieben ist. Hat er es doch kaum verbergen können,
daß er in die Schrullen seines „Auch Einer" ein gutes Teil eigner, humo¬
ristisch angeschauter Schwächen hineingedichtet hat. Immerhin aber erscheint
auch der Subjektivste und offenherzigste der Schriftsteller vor der Öffentlichkeit
mit einigem Zwange, im Svnutagskleide, akademisch vornehm bemüht, recht un¬
persönlich zu scheinen. Im Hausrock hingegen, ganz ungebunden von öffent¬
lichen Rücksichten zeigen ihn seine Privatbriefe, die er an die Familie und
an Freunde gerichtet hat. Was für ein Schatz ist uns Lessings Briefwechsel!


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[0417] Friedrich Vischer. offenes, satirisch scharfes Auge für die Kleinigkeiten des Alltagslebens, für das „untere Stockwerk": er hechelte die geschmacklosen Frauenkleidermoden vom Reifrock bis zum Pariser Hinterpolster grobianisch durch; er schrieb gegen die Bierpantscherei, wenn auch nicht aus derselben rein sittlichen Entrüstung wie Jhering gegen den Trinkgelderunfug. Kurz und gut: Friedrich Bischer war uicht bloß ein systematischer Philosoph, nicht bloß Ästhetiker und Literar¬ historiker, sondern einer der glänzendsten Schriftsteller Deutschlands im gegen¬ wärtigen Jahrhundert. Sein mächtiges Naturell war nicht allein für das enge Dasein des Stubengelehrten geschaffen, sein Sinn war für die ganze Mannig¬ faltigkeit deutschen Lebens empfänglich und seine Leidenschaft ließ ihn nicht ruhen, er mußte überall, wo er sich mitzureden berufen fühlte, sein Wort hören lassen. Und wie schön, wie reich, von welcher sinnlichen Kraft und Bildung war sein Wort! Wir zählen Wischers Prosa wie die Fcillmerayers, Hebbels, Schopenhauers zu der schönsten und markigsten der deutschen Sprache. Von all den Originalschriftstellern war er aber der beweglichste, der gesündeste und zweifellos auch der liebenswürdigste Mensch. Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes, der in seinem Geistesgaugc vorbildlich alle wissenschaftlichen und politischen Wandlungen der Nation seiner Zeit miterlebte, ist daher von allgemeinem geschichtlichen Werte. Noch mangelt es an einer Biographie Wischers; sein Sohn, der Kunsthistoriker Robert Bischer, soll sich mit der Abfassung einer solchen und mit der Ordnung des litterarischen Nachlasses des Vaters beschäftigen. Inzwischen hat man Ursache, jeden Beitrag zur Kenntnis des Lebens und Charakters des großen Schriftstellers mit Dank hinzunehmen. Viel des Neuen können uns allerdings nachgelassene Briefe und Schriften eines Mannes wie Bischer nicht bieten. Wenn Uhland während seines ganzen Lebens der größern Öffentlichkeit nur als Lyriker und Politiker bekannt war, und uns erst sein Nachlaß mit seinen klassischen Studien über die ältere deutsche Litteratur und über Volkspoesie bekannt machte, so war sein langjähriger Freund Bischer minder verschlossen. Schon die ununter¬ brochene akademische Lehrthätigkeit brachte vielen Wischers Persönlichkeit nahe; neben seinen Forschungen liefen stets journalistische, wie man weiß, häufig Auf¬ sehen erregende Arbeiten her, und in seinen Schriften war er so individuell, so offenherzig, daß nichts wesentliches von seinen Gesinnungen, Neigungen und Abneigungen verborgen geblieben ist. Hat er es doch kaum verbergen können, daß er in die Schrullen seines „Auch Einer" ein gutes Teil eigner, humo¬ ristisch angeschauter Schwächen hineingedichtet hat. Immerhin aber erscheint auch der Subjektivste und offenherzigste der Schriftsteller vor der Öffentlichkeit mit einigem Zwange, im Svnutagskleide, akademisch vornehm bemüht, recht un¬ persönlich zu scheinen. Im Hausrock hingegen, ganz ungebunden von öffent¬ lichen Rücksichten zeigen ihn seine Privatbriefe, die er an die Familie und an Freunde gerichtet hat. Was für ein Schatz ist uns Lessings Briefwechsel! Grcnzbotc» IV. 1383. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/417>, abgerufen am 30.06.2024.