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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktisch",! Leben.

einem Chaos der buntesten und ungeordnetsten Gedanken gebracht hat, darum
ist in diesen Gründen nirgends Sicherheit, Klarheit und Festigkeit zu finden.
Während die einen mittelalterliche Anschauungen und Überlieferungen gegen den
Andrang liberaler Ideen aufrecht zu halten suchen, rühren die andern aus den
Abfällen materialistischer Naturwissenschaft ein philosophisches Gemüse zurecht,
das sie als Arkanum für die Entwickelung einer neuen Zeit anpreisen. Nach¬
dem die schärfsten Vorkämpfer veralteter Anschauungen wie Stahl und Leo
vom Schauplätze abgetreten sind, wird unsre Kultur von philosophischen Sy¬
stemen wie dem des Drechslermeisters Bebel in weit gefährlicheren Maße
bedroht. In der politischen Philosophie spricht sich am deutlichsten die Ver¬
schiedenheit der Denkart ganzer Völker aus. Die Völker des Orients scheinen
es nicht weiter bringen zu können als bis zu völlig kindlichen Anschauungen
des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk. In Frankreich brachte es die
politische Anschauung bis zu der frevelhaften Selbstüberhebung Ludwigs XIV.
mit dem Worte "z'sse irroi, das die furchtbarste Rache der Götter in den
Leiden der Dynastie und des Volkes nach sich zog. In Preußen sprach der
große Philosoph auf dem Königsthrone das Wort, das immer die Devise der
Hohenzollern gewesen ist: Der König ist der erste Diener des Staates, und
verbürgte damit die Dauer und Lebensfähigkeit der monarchischen Institutionen.

Bei den Medizinern liegt die Sache ähnlich wie bei den Juristen und Theo¬
logen. Der Unterschied ist vielleicht nur der, daß sich mehrere in ihren Reihen
finden, die sich heimlich mit philosophischen Studien beschäftigen, während sie
sich öffentlich den Anschein geben, als wenn sie die Philosophie verabscheuten
und jeden für närrisch hielten, der von ihr etwas zu gewinnen hofft. Ihre
Wissenschaft hat eine Zeit lang zu viel gelitten unter dem Einfluß pseudo-philo-
sophischer Spekulationen, ehe sie sich ganz zur naturwissenschaftlichen Methode
bekannte. Zu viele schwer wiegende Irrtümer haben sich festgesetzt auf Grund
von mißverstandenen oder gradezu unsinnigen Grundsätzen, zu vielerlei schwär¬
merische Sekten haben sich auf dem Gebiete der Medizin feindselig bekämpft
und stehen sich noch gegenüber, so daß es wohl begreiflich ist, wie ein natur¬
wissenschaftlich gebildeter Mediziner alle Philosophie für etwas Verderbliches
halten kann. Und doch sind gerade auf diesem Gebiete die Fragen so mannig¬
fach, die die Medizin aus eignen Mitteln nicht beantworten kann, und sie
drängen sich immer von neuem so unabweisbar auf, daß es uns wiederum
nicht wundern kann, wenn der Hang zu Philosophiren bei den Medizinern nicht
gänzlich auszurotten ist, obwohl es schon lange nicht zum guten Ton gehört,
ihm nachzugeben. Wir können uns nicht ganz gegen die Fragen verschließen:
Was ist Leben, Tod, organische Bildung, Seele, Körper, Geist? und so viele
andre, die durch die Naturwissenschaft nicht beantwortet werden können. Es
ist zwar bequem, sich mit einer einfachen materialistischen Phrase abzufinden
und als Erklärungsgrund für alles sich irgend einen allgemeinsten Begriff mit


Grenzboten IV. 1888. 40
Das Verhältnis der Philosophie zum praktisch»,! Leben.

einem Chaos der buntesten und ungeordnetsten Gedanken gebracht hat, darum
ist in diesen Gründen nirgends Sicherheit, Klarheit und Festigkeit zu finden.
Während die einen mittelalterliche Anschauungen und Überlieferungen gegen den
Andrang liberaler Ideen aufrecht zu halten suchen, rühren die andern aus den
Abfällen materialistischer Naturwissenschaft ein philosophisches Gemüse zurecht,
das sie als Arkanum für die Entwickelung einer neuen Zeit anpreisen. Nach¬
dem die schärfsten Vorkämpfer veralteter Anschauungen wie Stahl und Leo
vom Schauplätze abgetreten sind, wird unsre Kultur von philosophischen Sy¬
stemen wie dem des Drechslermeisters Bebel in weit gefährlicheren Maße
bedroht. In der politischen Philosophie spricht sich am deutlichsten die Ver¬
schiedenheit der Denkart ganzer Völker aus. Die Völker des Orients scheinen
es nicht weiter bringen zu können als bis zu völlig kindlichen Anschauungen
des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk. In Frankreich brachte es die
politische Anschauung bis zu der frevelhaften Selbstüberhebung Ludwigs XIV.
mit dem Worte «z'sse irroi, das die furchtbarste Rache der Götter in den
Leiden der Dynastie und des Volkes nach sich zog. In Preußen sprach der
große Philosoph auf dem Königsthrone das Wort, das immer die Devise der
Hohenzollern gewesen ist: Der König ist der erste Diener des Staates, und
verbürgte damit die Dauer und Lebensfähigkeit der monarchischen Institutionen.

Bei den Medizinern liegt die Sache ähnlich wie bei den Juristen und Theo¬
logen. Der Unterschied ist vielleicht nur der, daß sich mehrere in ihren Reihen
finden, die sich heimlich mit philosophischen Studien beschäftigen, während sie
sich öffentlich den Anschein geben, als wenn sie die Philosophie verabscheuten
und jeden für närrisch hielten, der von ihr etwas zu gewinnen hofft. Ihre
Wissenschaft hat eine Zeit lang zu viel gelitten unter dem Einfluß pseudo-philo-
sophischer Spekulationen, ehe sie sich ganz zur naturwissenschaftlichen Methode
bekannte. Zu viele schwer wiegende Irrtümer haben sich festgesetzt auf Grund
von mißverstandenen oder gradezu unsinnigen Grundsätzen, zu vielerlei schwär¬
merische Sekten haben sich auf dem Gebiete der Medizin feindselig bekämpft
und stehen sich noch gegenüber, so daß es wohl begreiflich ist, wie ein natur¬
wissenschaftlich gebildeter Mediziner alle Philosophie für etwas Verderbliches
halten kann. Und doch sind gerade auf diesem Gebiete die Fragen so mannig¬
fach, die die Medizin aus eignen Mitteln nicht beantworten kann, und sie
drängen sich immer von neuem so unabweisbar auf, daß es uns wiederum
nicht wundern kann, wenn der Hang zu Philosophiren bei den Medizinern nicht
gänzlich auszurotten ist, obwohl es schon lange nicht zum guten Ton gehört,
ihm nachzugeben. Wir können uns nicht ganz gegen die Fragen verschließen:
Was ist Leben, Tod, organische Bildung, Seele, Körper, Geist? und so viele
andre, die durch die Naturwissenschaft nicht beantwortet werden können. Es
ist zwar bequem, sich mit einer einfachen materialistischen Phrase abzufinden
und als Erklärungsgrund für alles sich irgend einen allgemeinsten Begriff mit


Grenzboten IV. 1888. 40
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[0321] Das Verhältnis der Philosophie zum praktisch»,! Leben. einem Chaos der buntesten und ungeordnetsten Gedanken gebracht hat, darum ist in diesen Gründen nirgends Sicherheit, Klarheit und Festigkeit zu finden. Während die einen mittelalterliche Anschauungen und Überlieferungen gegen den Andrang liberaler Ideen aufrecht zu halten suchen, rühren die andern aus den Abfällen materialistischer Naturwissenschaft ein philosophisches Gemüse zurecht, das sie als Arkanum für die Entwickelung einer neuen Zeit anpreisen. Nach¬ dem die schärfsten Vorkämpfer veralteter Anschauungen wie Stahl und Leo vom Schauplätze abgetreten sind, wird unsre Kultur von philosophischen Sy¬ stemen wie dem des Drechslermeisters Bebel in weit gefährlicheren Maße bedroht. In der politischen Philosophie spricht sich am deutlichsten die Ver¬ schiedenheit der Denkart ganzer Völker aus. Die Völker des Orients scheinen es nicht weiter bringen zu können als bis zu völlig kindlichen Anschauungen des Verhältnisses zwischen Fürsten und Volk. In Frankreich brachte es die politische Anschauung bis zu der frevelhaften Selbstüberhebung Ludwigs XIV. mit dem Worte «z'sse irroi, das die furchtbarste Rache der Götter in den Leiden der Dynastie und des Volkes nach sich zog. In Preußen sprach der große Philosoph auf dem Königsthrone das Wort, das immer die Devise der Hohenzollern gewesen ist: Der König ist der erste Diener des Staates, und verbürgte damit die Dauer und Lebensfähigkeit der monarchischen Institutionen. Bei den Medizinern liegt die Sache ähnlich wie bei den Juristen und Theo¬ logen. Der Unterschied ist vielleicht nur der, daß sich mehrere in ihren Reihen finden, die sich heimlich mit philosophischen Studien beschäftigen, während sie sich öffentlich den Anschein geben, als wenn sie die Philosophie verabscheuten und jeden für närrisch hielten, der von ihr etwas zu gewinnen hofft. Ihre Wissenschaft hat eine Zeit lang zu viel gelitten unter dem Einfluß pseudo-philo- sophischer Spekulationen, ehe sie sich ganz zur naturwissenschaftlichen Methode bekannte. Zu viele schwer wiegende Irrtümer haben sich festgesetzt auf Grund von mißverstandenen oder gradezu unsinnigen Grundsätzen, zu vielerlei schwär¬ merische Sekten haben sich auf dem Gebiete der Medizin feindselig bekämpft und stehen sich noch gegenüber, so daß es wohl begreiflich ist, wie ein natur¬ wissenschaftlich gebildeter Mediziner alle Philosophie für etwas Verderbliches halten kann. Und doch sind gerade auf diesem Gebiete die Fragen so mannig¬ fach, die die Medizin aus eignen Mitteln nicht beantworten kann, und sie drängen sich immer von neuem so unabweisbar auf, daß es uns wiederum nicht wundern kann, wenn der Hang zu Philosophiren bei den Medizinern nicht gänzlich auszurotten ist, obwohl es schon lange nicht zum guten Ton gehört, ihm nachzugeben. Wir können uns nicht ganz gegen die Fragen verschließen: Was ist Leben, Tod, organische Bildung, Seele, Körper, Geist? und so viele andre, die durch die Naturwissenschaft nicht beantwortet werden können. Es ist zwar bequem, sich mit einer einfachen materialistischen Phrase abzufinden und als Erklärungsgrund für alles sich irgend einen allgemeinsten Begriff mit Grenzboten IV. 1888. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/321>, abgerufen am 24.08.2024.