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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

einander in Zwiespalt liegen sollen. Das bloße Gefühl, worauf sich alle Or¬
thodoxen berufen, wenn sie die Ansprüche der Vernunft zurückweisen wollen,
entscheidet keinen Streit anders als durch Kampf und gewaltsame Unterdrückung.
Es führt wohl zur Bildung vieler Sekten und einzelner Richtungen in der
Kirche, aber nicht zum dauernden Frieden; und Friede nicht nur im einzelnen
Menschen, sondern mit allen ist doch der erste Zweck aller Religion und Theo¬
logie, ohne den keine Seligkeit stattfinden kann. Die Kämpfe aber, die durch
das religiöse Gefühl entfacht werden, sind, wie uns die Geschichte aller Zeiten
lehrt, die schlimmsten und verderblichsten. Da ein ehrlicher und dauernder
Friede nur durch die Vernunft geschlossen werden kann, so ist eine auf Ver¬
nunft beruhende Wissenschaft, d. i. Philosophie, für die Lehrer der Religion
durchaus notwendig, wenn sie auch schwer zu erreichen sein mag und von vielen
gar nicht entbehrt wird.

Ebenso wie der praktische Theologe, glaubt auch der praktische Jurist ge¬
wöhnlich, daß er gar keine Philosophie nötig habe, denn die Norm, nach der
er handelt, sind die geschriebenen Gesetze, und um sie anzuwenden und auszu¬
legen, bedarf er nur der Übung seines Verstandes. Aber sollte man nicht von
einem Juristen, der ganz auf der Höhe seines Faches steht, noch mehr erwarten?
Er muß doch auch beurteilen können, ob die Gesetze gut und zweckmäßig sind,
ober ob sie einer Änderung bedürfen; er muß auch die Gesetzgebung verschiedener
Völker vergleichen können, er muß auch die Quellen kennen, aus denen die
Gesetze und die verschiedenen Formen des Rechts entspringen. Und wenn er
nun fragt, weshalb es verschiedene Arten und Formen des Rechtes giebt, und
was das eigentliche Wesen des Rechtes ausmacht, so kommt er mit den Mitteln
seiner eigenen Wissenschaft niemals zu einer klaren Antwort. Er muß sich nach
andern Waffen umsehen und kann sie unmöglich anderswo finden, als in der
menschlichen Vernunft und ihren Kräften, d. h. er muß sich an die Philosophie
wenden, wenn er auch anfänglich der Meinung war, daß er diese ganz entbehren
oder gar verachten könne.

Solche weitergehende Fragen, zu denen die Rechtswissenschaft hinführt,
werden sich zwar in ruhigen, friedlichen Zeiten weniger aufdrängen. Wenn die
Gesetze ruhig befolgt werden, und im Staate keine Neubildungen und Umge¬
staltungen stattfinden, so werden solche Fragen zurückgehalten. Aber anders ist
es in unruhigen, politisch bewegten Zeiten, wie wir sie jetzt erleben. Aus den
verschiedenen Rechtsanschauungen entspringen die verschiedenen Parteien, die sich
aufs bitterste bekämpfen. Die Juristen werden gerade am meisten in den leiden¬
schaftlichen Streit der Parteien hineingezogen, über den erhaben nur der Philo¬
soph sein kann. Weil jeder mehr oder weniger sich dessen bewußt ist, daß die
Philosophie alle Streitigkeiten am letzten Ende schlichten muß, darum sucht
jede Partei ihr Recht mit philosophischen Gründen zu stützen. Aber weil die
historische Entwickelung der Philosophie in unserm Jahrhundert es nur zu


Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben.

einander in Zwiespalt liegen sollen. Das bloße Gefühl, worauf sich alle Or¬
thodoxen berufen, wenn sie die Ansprüche der Vernunft zurückweisen wollen,
entscheidet keinen Streit anders als durch Kampf und gewaltsame Unterdrückung.
Es führt wohl zur Bildung vieler Sekten und einzelner Richtungen in der
Kirche, aber nicht zum dauernden Frieden; und Friede nicht nur im einzelnen
Menschen, sondern mit allen ist doch der erste Zweck aller Religion und Theo¬
logie, ohne den keine Seligkeit stattfinden kann. Die Kämpfe aber, die durch
das religiöse Gefühl entfacht werden, sind, wie uns die Geschichte aller Zeiten
lehrt, die schlimmsten und verderblichsten. Da ein ehrlicher und dauernder
Friede nur durch die Vernunft geschlossen werden kann, so ist eine auf Ver¬
nunft beruhende Wissenschaft, d. i. Philosophie, für die Lehrer der Religion
durchaus notwendig, wenn sie auch schwer zu erreichen sein mag und von vielen
gar nicht entbehrt wird.

Ebenso wie der praktische Theologe, glaubt auch der praktische Jurist ge¬
wöhnlich, daß er gar keine Philosophie nötig habe, denn die Norm, nach der
er handelt, sind die geschriebenen Gesetze, und um sie anzuwenden und auszu¬
legen, bedarf er nur der Übung seines Verstandes. Aber sollte man nicht von
einem Juristen, der ganz auf der Höhe seines Faches steht, noch mehr erwarten?
Er muß doch auch beurteilen können, ob die Gesetze gut und zweckmäßig sind,
ober ob sie einer Änderung bedürfen; er muß auch die Gesetzgebung verschiedener
Völker vergleichen können, er muß auch die Quellen kennen, aus denen die
Gesetze und die verschiedenen Formen des Rechts entspringen. Und wenn er
nun fragt, weshalb es verschiedene Arten und Formen des Rechtes giebt, und
was das eigentliche Wesen des Rechtes ausmacht, so kommt er mit den Mitteln
seiner eigenen Wissenschaft niemals zu einer klaren Antwort. Er muß sich nach
andern Waffen umsehen und kann sie unmöglich anderswo finden, als in der
menschlichen Vernunft und ihren Kräften, d. h. er muß sich an die Philosophie
wenden, wenn er auch anfänglich der Meinung war, daß er diese ganz entbehren
oder gar verachten könne.

Solche weitergehende Fragen, zu denen die Rechtswissenschaft hinführt,
werden sich zwar in ruhigen, friedlichen Zeiten weniger aufdrängen. Wenn die
Gesetze ruhig befolgt werden, und im Staate keine Neubildungen und Umge¬
staltungen stattfinden, so werden solche Fragen zurückgehalten. Aber anders ist
es in unruhigen, politisch bewegten Zeiten, wie wir sie jetzt erleben. Aus den
verschiedenen Rechtsanschauungen entspringen die verschiedenen Parteien, die sich
aufs bitterste bekämpfen. Die Juristen werden gerade am meisten in den leiden¬
schaftlichen Streit der Parteien hineingezogen, über den erhaben nur der Philo¬
soph sein kann. Weil jeder mehr oder weniger sich dessen bewußt ist, daß die
Philosophie alle Streitigkeiten am letzten Ende schlichten muß, darum sucht
jede Partei ihr Recht mit philosophischen Gründen zu stützen. Aber weil die
historische Entwickelung der Philosophie in unserm Jahrhundert es nur zu


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[0320] Das Verhältnis der Philosophie zum praktischen Leben. einander in Zwiespalt liegen sollen. Das bloße Gefühl, worauf sich alle Or¬ thodoxen berufen, wenn sie die Ansprüche der Vernunft zurückweisen wollen, entscheidet keinen Streit anders als durch Kampf und gewaltsame Unterdrückung. Es führt wohl zur Bildung vieler Sekten und einzelner Richtungen in der Kirche, aber nicht zum dauernden Frieden; und Friede nicht nur im einzelnen Menschen, sondern mit allen ist doch der erste Zweck aller Religion und Theo¬ logie, ohne den keine Seligkeit stattfinden kann. Die Kämpfe aber, die durch das religiöse Gefühl entfacht werden, sind, wie uns die Geschichte aller Zeiten lehrt, die schlimmsten und verderblichsten. Da ein ehrlicher und dauernder Friede nur durch die Vernunft geschlossen werden kann, so ist eine auf Ver¬ nunft beruhende Wissenschaft, d. i. Philosophie, für die Lehrer der Religion durchaus notwendig, wenn sie auch schwer zu erreichen sein mag und von vielen gar nicht entbehrt wird. Ebenso wie der praktische Theologe, glaubt auch der praktische Jurist ge¬ wöhnlich, daß er gar keine Philosophie nötig habe, denn die Norm, nach der er handelt, sind die geschriebenen Gesetze, und um sie anzuwenden und auszu¬ legen, bedarf er nur der Übung seines Verstandes. Aber sollte man nicht von einem Juristen, der ganz auf der Höhe seines Faches steht, noch mehr erwarten? Er muß doch auch beurteilen können, ob die Gesetze gut und zweckmäßig sind, ober ob sie einer Änderung bedürfen; er muß auch die Gesetzgebung verschiedener Völker vergleichen können, er muß auch die Quellen kennen, aus denen die Gesetze und die verschiedenen Formen des Rechts entspringen. Und wenn er nun fragt, weshalb es verschiedene Arten und Formen des Rechtes giebt, und was das eigentliche Wesen des Rechtes ausmacht, so kommt er mit den Mitteln seiner eigenen Wissenschaft niemals zu einer klaren Antwort. Er muß sich nach andern Waffen umsehen und kann sie unmöglich anderswo finden, als in der menschlichen Vernunft und ihren Kräften, d. h. er muß sich an die Philosophie wenden, wenn er auch anfänglich der Meinung war, daß er diese ganz entbehren oder gar verachten könne. Solche weitergehende Fragen, zu denen die Rechtswissenschaft hinführt, werden sich zwar in ruhigen, friedlichen Zeiten weniger aufdrängen. Wenn die Gesetze ruhig befolgt werden, und im Staate keine Neubildungen und Umge¬ staltungen stattfinden, so werden solche Fragen zurückgehalten. Aber anders ist es in unruhigen, politisch bewegten Zeiten, wie wir sie jetzt erleben. Aus den verschiedenen Rechtsanschauungen entspringen die verschiedenen Parteien, die sich aufs bitterste bekämpfen. Die Juristen werden gerade am meisten in den leiden¬ schaftlichen Streit der Parteien hineingezogen, über den erhaben nur der Philo¬ soph sein kann. Weil jeder mehr oder weniger sich dessen bewußt ist, daß die Philosophie alle Streitigkeiten am letzten Ende schlichten muß, darum sucht jede Partei ihr Recht mit philosophischen Gründen zu stützen. Aber weil die historische Entwickelung der Philosophie in unserm Jahrhundert es nur zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/320>, abgerufen am 22.07.2024.