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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Llsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Lothringen nur befördern wird. Hat unter dem Einflüsse des Paßzwanges die
Übersiedlung von Alt°Metzer Familien nach Frankreich wieder zugenommen, um
den Erschwerungen des Familienverkehrs zu entgehen, so wird auch hier der
Ausgleich durch deutsche Einwanderung nicht ausbleiben. Soweit diese abziehen¬
den Familien Geschäftsleute sind, suchen sie ihre Geschäfte vorher zu verkaufen,
und es bietet sich da sür tüchtige deutsche Kräfte manche gute Gelegenheit zur
Begründung einer aussichtsreichen Existenz. Daß von Seiten des Reiches
manches geschehen könnte, um das wirtschaftliche Gedeihen des Landes wieder
zu beschleunigen und auf dauernde Grundlagen zu stellen, ist unbestreitbar.
Unter solche Maßnahmen gehört z. B. die Kanalisation der Mosel. Ob
es sich nicht empfehlen möchte, noch weiter zu gehen und in den franzö¬
sischen Sprachgebieten des Landes so zu verfahren, wie Preußen in seinen pol-
nischenWrovinzen, das heißt Ländereien anzukaufen und tüchtige deutsche Bauern-
kvlonien zu gründen, ist eine Frage, die glücklicherweise auch die leitenden
Kreise neuerdings zu beschäftigen beginnt. Der Rheinländer und Westfale, der
Süddeutsche würde wahrscheinlich viel eher nach Lothringen als nach Posen
und Westpreußen auswandern. Von der jetzigen deutschen Einwanderung, die
sich im französischen Sprachgebiete verstreut, geht erfahrungsgemäß schon in der
zweiten Generation viel verloren, gerade wie es im Polnischen gewesen ist; um
so notwendiger würden geschlossene deutsche Ansiedlungen sein. Hundert Mil¬
lionen Mark wären für solche vielleicht nützlicher angelegt als die gleiche Aus¬
gabe für Festungsbauten.

Ober-Elsaß dürfte derjenige Teil des Landes sein, wo der Paßzwang
sich wirtschaftlich aur meisten bemerkbar gemacht hat, wenngleich die Han¬
delskammer schwerlich berechtigt sein möchte, den Schaden nach Millionen zu
schätzen. Obwohl die oberelsässische Industrie sich den deutschen Markt längst
mit gutem Erfolge erschlossen hat, so sind ihre Verbindungen nach Frankreich
doch noch sehr bedeutend, und namentlich in allen feineren und kostbareren Fabri¬
katen, an denen bekanntlich meist viel Geld verdient wird. Es handelt sich in
der Hauptsache um bedrückte baumwollene und leinene Stoffe, in deren An¬
fertigung die oberelsässische Industrie unerreichte Leistungen aufzuweisen hat.
Der Absatz wird von den Fabrikanten teils direkt, teils durch Agenten betrieben,
einzelne haben in Paris Filialen errichtet. Zum recht bedeutenden Teil voll¬
zieht der Absatz sich jedoch durch persönlichen Einkauf der französischen
Abnehmer, sowohl um der größern Auswahl an Ort und Stelle willen, als
auch weil Lieferungen, Preise u. s. w. sich besser in der Fabrik selbst als mit
dem Agenten verabreden lassen. Die Einkäufer der großen Pariser Häuser
pflegen sich im Oktober und November einzustellen, zu Anfange des Jahres
folgen die kleinern Häuser nach. War also hierin ein Rückgang bemerkbar, so
ist an diesem nicht der erst am 1. Juni in Kraft getretene Paßzwang, son¬
dern die ewige Kriegshetzerei der Pariser "Patrioten" schuld. Dagegen sollen


Llsaß-Lothringen und die Paßverordnung.

Lothringen nur befördern wird. Hat unter dem Einflüsse des Paßzwanges die
Übersiedlung von Alt°Metzer Familien nach Frankreich wieder zugenommen, um
den Erschwerungen des Familienverkehrs zu entgehen, so wird auch hier der
Ausgleich durch deutsche Einwanderung nicht ausbleiben. Soweit diese abziehen¬
den Familien Geschäftsleute sind, suchen sie ihre Geschäfte vorher zu verkaufen,
und es bietet sich da sür tüchtige deutsche Kräfte manche gute Gelegenheit zur
Begründung einer aussichtsreichen Existenz. Daß von Seiten des Reiches
manches geschehen könnte, um das wirtschaftliche Gedeihen des Landes wieder
zu beschleunigen und auf dauernde Grundlagen zu stellen, ist unbestreitbar.
Unter solche Maßnahmen gehört z. B. die Kanalisation der Mosel. Ob
es sich nicht empfehlen möchte, noch weiter zu gehen und in den franzö¬
sischen Sprachgebieten des Landes so zu verfahren, wie Preußen in seinen pol-
nischenWrovinzen, das heißt Ländereien anzukaufen und tüchtige deutsche Bauern-
kvlonien zu gründen, ist eine Frage, die glücklicherweise auch die leitenden
Kreise neuerdings zu beschäftigen beginnt. Der Rheinländer und Westfale, der
Süddeutsche würde wahrscheinlich viel eher nach Lothringen als nach Posen
und Westpreußen auswandern. Von der jetzigen deutschen Einwanderung, die
sich im französischen Sprachgebiete verstreut, geht erfahrungsgemäß schon in der
zweiten Generation viel verloren, gerade wie es im Polnischen gewesen ist; um
so notwendiger würden geschlossene deutsche Ansiedlungen sein. Hundert Mil¬
lionen Mark wären für solche vielleicht nützlicher angelegt als die gleiche Aus¬
gabe für Festungsbauten.

Ober-Elsaß dürfte derjenige Teil des Landes sein, wo der Paßzwang
sich wirtschaftlich aur meisten bemerkbar gemacht hat, wenngleich die Han¬
delskammer schwerlich berechtigt sein möchte, den Schaden nach Millionen zu
schätzen. Obwohl die oberelsässische Industrie sich den deutschen Markt längst
mit gutem Erfolge erschlossen hat, so sind ihre Verbindungen nach Frankreich
doch noch sehr bedeutend, und namentlich in allen feineren und kostbareren Fabri¬
katen, an denen bekanntlich meist viel Geld verdient wird. Es handelt sich in
der Hauptsache um bedrückte baumwollene und leinene Stoffe, in deren An¬
fertigung die oberelsässische Industrie unerreichte Leistungen aufzuweisen hat.
Der Absatz wird von den Fabrikanten teils direkt, teils durch Agenten betrieben,
einzelne haben in Paris Filialen errichtet. Zum recht bedeutenden Teil voll¬
zieht der Absatz sich jedoch durch persönlichen Einkauf der französischen
Abnehmer, sowohl um der größern Auswahl an Ort und Stelle willen, als
auch weil Lieferungen, Preise u. s. w. sich besser in der Fabrik selbst als mit
dem Agenten verabreden lassen. Die Einkäufer der großen Pariser Häuser
pflegen sich im Oktober und November einzustellen, zu Anfange des Jahres
folgen die kleinern Häuser nach. War also hierin ein Rückgang bemerkbar, so
ist an diesem nicht der erst am 1. Juni in Kraft getretene Paßzwang, son¬
dern die ewige Kriegshetzerei der Pariser „Patrioten" schuld. Dagegen sollen


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[0304] Llsaß-Lothringen und die Paßverordnung. Lothringen nur befördern wird. Hat unter dem Einflüsse des Paßzwanges die Übersiedlung von Alt°Metzer Familien nach Frankreich wieder zugenommen, um den Erschwerungen des Familienverkehrs zu entgehen, so wird auch hier der Ausgleich durch deutsche Einwanderung nicht ausbleiben. Soweit diese abziehen¬ den Familien Geschäftsleute sind, suchen sie ihre Geschäfte vorher zu verkaufen, und es bietet sich da sür tüchtige deutsche Kräfte manche gute Gelegenheit zur Begründung einer aussichtsreichen Existenz. Daß von Seiten des Reiches manches geschehen könnte, um das wirtschaftliche Gedeihen des Landes wieder zu beschleunigen und auf dauernde Grundlagen zu stellen, ist unbestreitbar. Unter solche Maßnahmen gehört z. B. die Kanalisation der Mosel. Ob es sich nicht empfehlen möchte, noch weiter zu gehen und in den franzö¬ sischen Sprachgebieten des Landes so zu verfahren, wie Preußen in seinen pol- nischenWrovinzen, das heißt Ländereien anzukaufen und tüchtige deutsche Bauern- kvlonien zu gründen, ist eine Frage, die glücklicherweise auch die leitenden Kreise neuerdings zu beschäftigen beginnt. Der Rheinländer und Westfale, der Süddeutsche würde wahrscheinlich viel eher nach Lothringen als nach Posen und Westpreußen auswandern. Von der jetzigen deutschen Einwanderung, die sich im französischen Sprachgebiete verstreut, geht erfahrungsgemäß schon in der zweiten Generation viel verloren, gerade wie es im Polnischen gewesen ist; um so notwendiger würden geschlossene deutsche Ansiedlungen sein. Hundert Mil¬ lionen Mark wären für solche vielleicht nützlicher angelegt als die gleiche Aus¬ gabe für Festungsbauten. Ober-Elsaß dürfte derjenige Teil des Landes sein, wo der Paßzwang sich wirtschaftlich aur meisten bemerkbar gemacht hat, wenngleich die Han¬ delskammer schwerlich berechtigt sein möchte, den Schaden nach Millionen zu schätzen. Obwohl die oberelsässische Industrie sich den deutschen Markt längst mit gutem Erfolge erschlossen hat, so sind ihre Verbindungen nach Frankreich doch noch sehr bedeutend, und namentlich in allen feineren und kostbareren Fabri¬ katen, an denen bekanntlich meist viel Geld verdient wird. Es handelt sich in der Hauptsache um bedrückte baumwollene und leinene Stoffe, in deren An¬ fertigung die oberelsässische Industrie unerreichte Leistungen aufzuweisen hat. Der Absatz wird von den Fabrikanten teils direkt, teils durch Agenten betrieben, einzelne haben in Paris Filialen errichtet. Zum recht bedeutenden Teil voll¬ zieht der Absatz sich jedoch durch persönlichen Einkauf der französischen Abnehmer, sowohl um der größern Auswahl an Ort und Stelle willen, als auch weil Lieferungen, Preise u. s. w. sich besser in der Fabrik selbst als mit dem Agenten verabreden lassen. Die Einkäufer der großen Pariser Häuser pflegen sich im Oktober und November einzustellen, zu Anfange des Jahres folgen die kleinern Häuser nach. War also hierin ein Rückgang bemerkbar, so ist an diesem nicht der erst am 1. Juni in Kraft getretene Paßzwang, son¬ dern die ewige Kriegshetzerei der Pariser „Patrioten" schuld. Dagegen sollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/304>, abgerufen am 26.06.2024.